In Ungarn entwickelt sich eine einfallsreiche Protestkultur gegen die aktuelle Bildungspolitik der Orbán-Regierung. Sie wehrt sich auch mit scharfer Ironie dagegen, dass Kritiker als „Parasiten“ diffamiert werden.

  • Katalin Krasznahorkai

    Katalin Krasznahorkai ist Kunsthistorikerin und Kuratorin, sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich.

Karohemd-Bilderflut im Internet, fünf Minuten Schweigen bei einer Groß­de­mons­tra­tion vor dem unga­ri­schen Parla­ment, Beset­zung einer Brücke mit schwarz geklei­deten Demons­tranten, rote Rosen in der Donau oder 30.000 zeit­gleich aufleuch­tende Handy­bild­schirme in der Nacht auf einer Buda­pester Brücke: Die Formen des Protestes gegen das Orbán-Regime sind massiv, thea­tral und bildgewaltig.

Und sie sind populär: In einer aktu­ellen Meinungs­um­frage haben 76% der unga­ri­schen Bevöl­ke­rung ange­geben, hinter den aktu­ellen Protesten der Lehrer, Eltern, Studenten und Schüler zu stehen. Selbst aus den Reihen der Sympa­thi­santen der regie­renden rechten Fidesz-Partei waren es 67%, die den Protest unter­stützen – ein Protest, der nicht mehr die Inter­es­sen­ver­tre­tung einer Berufs­schicht oder einer poli­ti­schen Rich­tung reprä­sen­tiert, sondern in eine gene­relle Protest­be­we­gung gegen die Igno­ranz der Regie­rungs­partei über­ge­gangen ist.

Karohemden auf facebook, Quelle: http://propeller.hu/itthon/3193535-omlenek-facebookra-kockas-inges-kepek

Karo­hemden auf face­book, Quelle: propeller.hu/itthon/3193535-omlenek-facebookra-kockas-inges-kepek

Auslöser der Proteste

Auslöser der seit Anfang des Jahres andau­ernden Protest­welle der Pädagogen war die Zentra­li­sa­tion und flächen­de­ckende staat­liche Kontrolle der Lehrer und Schul­di­rek­toren. Damit verbunden ist ein radi­kaler Eingriff in die Inhalte von Lehr­plänen, die Auflö­sung von festen Arbeits­ver­trägen, der Verlust der Auto­nomie der Lehrer und die damit einher­ge­hende Sorge um die poli­ti­sche Bevor­mun­dung einer ganzen Gene­ra­tion. Hinzu kommen absurde Miss­stände, die auf die kata­stro­phale Unter­fi­nan­zie­rung und eine aufge­blähte Büro­kratie zurück­zu­führen sind: Es fehlt an Toilet­ten­pa­pier oder Kreide, oder auch einfach an Heiz­ma­te­rial für die Schulräume.

„Ist es das Ziel, dass die nächste Gene­ra­tion nicht einmal weiß, wie man fragt?“, steht in einem offenen Brief aus dem Otto Hermann-Gymnasium, der als Appell an die Regie­rung landes­weit 22.000 Unter­stützer fand. Der 2012 einge­führte „Natio­nale Grund­lehr­plan“ gibt nicht einfach nur die Rich­tung vor, viel­mehr ist er als Verord­nung konzi­piert, die genau umge­setzt werden muss. Formu­lie­rungen wie „die Förde­rung der patrio­ti­schen Gefühls­welt“, „Förde­rung der univer­sellen unga­ri­schen natio­nalen Tradi­tion“, „Förde­rung des natio­nalen Selbst­be­wusst­seins“ – die unga­risch stäm­migen Bevöl­ke­rung der Nach­bar­länder inbe­griffen! – finden sich schon in der Einlei­tung zum „Grund­lehr­plan“.  Vorge­geben werden auch die zu verwen­denden Lehr­bü­cher. Ein staat­li­ches Zulas­sungs­ver­fahren garan­tiert, dass nur Bücher auf diese Liste kommen, die der ideologisch-politischen Linie der rechts­na­tio­nalen Regie­rungs­partei entsprechen.

Wie das in der Praxis aussieht, zeigte eine Konfe­renz der Geschichts­lehrer, die das Pflicht-Lehrbuch für Neunt­klässler sezierten. „Juden: Hass, Christen: Liebe“ – so charak­te­ri­sierte ein Lehrer des Alter­na­tiven Wirtschafts-Gymnasiums das Kapitel, wo es um die Entste­hung der jüdi­schen und christ­li­chen Reli­gion geht. In den wenigen Passagen über die jüdi­sche Reli­gion wird viermal das Wort „Menschen­opfer“ verwendet und das Ganze mit Cara­vag­gios Die Opfe­rung von Isaak illus­triert. „Jesus hat die strenge Reli­gion des Juden­tums zur Reli­gion der Liebe gemacht“, steht stell­ver­tre­tend für die ideo­lo­gi­sierte, tiefe Diffe­renz sugge­rie­rende Meinungs­vor­gabe im Pflichtlehrbuch.

Auch im Kapitel über Geschichts­theo­rien im 19. Jahr­hun­dert ist  das Bild stark verzerrt: Auf der rechten Seite der Geschichts-Bühne stehen die konser­va­tiven „Natio­na­listen“, die an die orga­ni­sche Entwick­lung des Staates glauben, und links die „Marxisten“, die mit Massen­morden in Verbin­dung gebracht werden; die Libe­ralen spielen nur eine unbe­deu­tende Rolle und die Spuren der Anar­chisten sind gänz­lich getilgt. Ein Karto­graph merkte zudem an: die Geschichts-Karten im Lehr­buch sind zu 90 Prozent falsch.

Der Pflicht-Lehrplan und die Entmün­di­gung der Lehrer hätten als solche aller­dings nicht zu der jetzigen Demons­tra­ti­ons­welle geführt. Entschei­dender war die Erkenntnis, dass wieder eine ganze Gene­ra­tion mit einem demago­gi­schen, nun jedoch natio­na­lis­ti­schen, „christ­li­chen“ und anti-europäischen Bewusst­sein durch­tränkt werden soll. Das ist nicht die poli­ti­sche Linie, hinter der die Mehr­heit steht – selbst die Mehr­heit der Fidesz-Anhänger nicht. Daher ist die Apathie, die die Bildungs­de­batten lange charak­te­ri­siert hat, jetzt gebro­chen. Und in der Bevöl­ke­rung verbreitet sich das starke Empfinden, von keiner Partei, keiner Inter­es­sen­ver­tre­tung oder sonst einer orga­ni­sierten Struktur in der Gesell­schaft reprä­sen­tiert zu werden.

Reak­ti­vie­rung eines Feind­bildes aus dem Sozialismus

Den Kata­ly­sator für die breite, weit über die Lehrer­schaft hinaus­ge­hende Protest­welle lieferte am 13. Februar István Kling­hammer, ein ehema­liger Staats­se­kretär des Bildungs­mi­nis­te­riums in einem Inter­view, als er über den Aufstand der Pädagogen spöt­tisch sagte:

Wir brau­chen Pädagogen, die klug und mora­lisch sind und diese Werte auch an die Schüler vermit­teln. Deshalb bin ich wütend, wenn ich im Fern­sehen sehe, dass eine unra­sierte, unge­kämmte Lehrer­schaft mit karierten Hemden herum­lun­gert. –István Klinghammer

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Hier wird der Arche­typus des inneren Feindes im sozia­lis­ti­schen System zitiert: der reni­tente, lang­haa­rige, unra­sierte, ziellos sich trei­ben­las­sende Nonkon­for­mist, das schäd­lichste Element der Gesell­schaft. Wenn Orbán heute davon spricht, dass „äußere Kräfte die Unzu­frie­den­heit der Pädagogen gene­rieren“, erin­nert das an die alte Stra­tegie, Oppo­si­tio­nelle als vom Westen gesteuert und finan­ziert zu diffa­mieren. Kling­ham­mers poli­ti­sches Unbe­wusstes stammt offen­sicht­lich immer noch aus der Zeit der klaren Feind­bilder, aus der Zeit des sozia­lis­ti­schen Regimes.

Die Lehrer jeden­falls ließen sich das nicht zweimal sagen: Kling­ham­mers Karohemd-Metapher aus dem Kalten Krieg wurde umge­hend ‚reenacted‘. Tausende von Fotos wurden über Face­book verbreitet, die Studenten, Schüler und Lehrer einzeln und in Gruppen mit kariertem Hemd zeigen. Doch nicht nur Pädagogen und ihre Schüler erschienen ‚kariert‘ – auch Cele­bri­ties, ja selbst Poli­tiker aus der Fidesz-Partei, gegen die sich der Protest ja rich­tete, haben ihre Karo­hemden ange­zogen. Selbst öffent­liche Skulp­turen wie jene von Graf István Széchenyi, dem großen Reformer des 19. Jahr­hun­derts, wurde in Cegléd ein Karo­hemd über­ge­zogen, und der Graf damit auf Face­book zum natio­nalen Protest­symbol. Mehr als 11.000 Menschen haben an der Aktion „Studenten für das Karo­hemd“ teil­ge­nommen, über 35.000 Eltern protes­tierten beim „Eltern­streik“  gegen die Bildungs­po­litik der Regie­rung; am 29. Februar ließen sie ihre Kinder deshalb die Schule schwänzen – als Zeichen zivilen Ungehorsams.

Graf István Széchenyi im Karohemd, Quelle: http://www.origo.hu/itthon/20160218-orban-viktor-is-kockas-ingben.html

Graf István Széchenyi im Karo­hemd, Quelle: origo.hu/itthon/20160218-orban-viktor-is-kockas-ingben.html

„Das Karo­muster ist das neue Zeichen der Frei­heit“, sagte Mária Sándor auf der Demons­tra­tion am 15. März anläss­lich des Natio­nal­fei­er­tags. Sándor hat ein Gefühl für symbol­träch­tige Bilder, denn sie war es, die als Zeichen des Protestes gegen die unzu­mut­baren Arbeits­ver­hält­nisse im Gesund­heits­system schwarz gekleidet im Kran­ken­haus zur Arbeit erschien und ihre Kündi­gung einreichte. Ihre Aktion löste eine Reihe von Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen aus, an denen sich auch Ärzte und Kran­ken­schwes­tern aus Deutsch­land und der Schweiz (die beiden Länder, in denen die meisten unga­ri­schen Kran­ken­schwes­tern und Ärzte im Ausland arbeiten) betei­ligt haben. Tausende „schwarze Bilder“ erschienen daraufhin im Netz. Aus Soli­da­rität haben mehrere Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker im Parla­ment bei einer Sitzung eben­falls schwarz getragen – wiederum wurde aus dem Protest einer Berufs­schicht ein allge­meiner Protest gegen das System Orbán. Auf die thea­trale Aktion von Sándor folgte eine Aktion im Theater: Ihre Geschichte dient heute als Vorlage für ein Thea­ter­stückTag des Zorns von Árpád Schilling.

Solidarität mit Mária Sándor, Quelle: http://444.hu/tag/fekete-ruhas-no

Soli­da­rität mit Mária Sándor, Quelle: 444.hu/tag/fekete-ruhas-no

Mária Sándor war es auch, die auf der Groß­de­mons­tra­tion der Pädagogen vor dem Parla­ment am 13. Februar 2016 im strö­menden Regen nach ihrer Rede zu fünf Minuten Schweigen aufrief. Sie reagierte damit konkret auf die zyni­sche Aussage István Lázárs, dem zweiten Mann hinter Orbán, die Pädagogen sollen sich nicht so aufführen, sondern verhan­deln. Aber mit wem? Kein Verhand­lungs­partner weit und breit – nur die bedroh­liche und tief­trau­rige Stille im strö­mendem Regen. „Aus dem verletzten Stolz die stille Würde – aus der Revolte eine Gemein­schaft. Für fünf Minuten“, wie der Philo­soph Miklós Tamás Gáspár in einem Kommentar zur Demons­tra­tion schrieb.

Demons­tranten und Flüchtlinge

Die Spitzen der Regie­rung reagieren sicht­lich nervös auf die Proteste. Ein hoher Fidesz-Funktionär scheute sich nicht, diese mit der Flücht­lings­krise in Verbin­dung zu bringen. Laut Szilárd Németh, Frak­ti­ons­vor­sit­zende der Fidesz-Partei, würden die Pädagogen die Eltern und Schüler als – wört­lich – „Bioku­lisse“ nutzen. Er meint damit, die Demons­tranten würden „die Kinder genauso hemmungslos vor sich herschieben“ wie regie­rungs­kri­ti­sche Poli­tiker „die ille­galen Einwan­derer, welche Europa über­fallen“. In ähnli­cher Weise sprach auch János Lázár vom „Miss­brauch“ der Kinder.

Ähnlich aggressiv reagierte Viktor Orbán selbst, wohl wissend, dass die Luft um ihn herum langsam dünner wird. In seiner Rede zum Natio­nal­fei­ertag am 15. März – sie wurde von deut­lich weniger Menschen verfolgt, als er das gewohnt ist, während am Nach­mittag vor dem Parla­ment mehrere zehn­tau­send Menschen gegen ihn protes­tierten – bediente er sich eines Voka­bu­lars aus den 1920er und 30er Jahren. Europa bezeichnet er als „so zerbrech­lich, schwach und krank wie eine Blume, die von einem versteckten Wurm zerfressen wird“; er sprach von „Völker­wan­de­rung“, auch davon, dass die „Völker Europas […] in Lebens­ge­fahr“ seien, dass eine „auf uns gerich­tete Menschen­masse käme“, die „Verbre­chen und Terror“ nach Europa bringt. Er verbrei­tete Verschwö­rungs­theo­rien über „Ungarn­hasser“, schimpfte unge­halten über „Brüs­sels fana­ti­schen Inter­na­tio­na­lismus“ und bezeich­nete die protes­tie­renden Intel­lek­tu­ellen als einen „Haufen unver­bes­ser­li­cher Kämpfer für die Menschen­rechte“, die „einen unstill­baren Drang fühlen, uns zu belehren und anzu­klagen“. Die Protes­tie­renden sind für ihn „Para­siten“, die nicht zu Ungarn gehören:

Ohne ein Wirts­tier sind ihre Tage gezählt. Wenn aus dem Ausland keine neuen geis­tigen und poli­ti­schen Infusions-Hilfspakete ankommen, dann werden nach den Blät­tern und Ästen auch die Wurzeln austrocknen, weil die unga­ri­sche Heimat­erde zur Behei­ma­tung des Inter­na­tio­na­lismus unfähig ist. Und das ist gut so. –Viktor Orbán

All das aller­dings schüch­tert die protes­tie­renden Lehrer nicht ein. István Pukli, der Direktor des Teleki Blanka Gymna­siums in Buda­pest, der sich an die Spitze der Pädagogen-Demonstration gestellt hat, verkün­dete kürz­lich, dass er ein Ulti­matum an Viktor Orbán und János Ader stelle: Sollten diese sich nicht entschul­digen, werde er am 30. März einen Streik von einer Stunde aller an Schulen Beschäf­tigten durch­setzen. Da Pädagogen kein Streik­recht haben, wird dies die nächste Aktion zivilen Unge­hor­sams darstellen – und eine neue Heraus­for­de­rung der Regie­rung. Welche Vorlage die „Parasiten-Rede“ für die weiteren Proteste bieten wird, bleibt abzu­warten. Aber dass Viktor Orbán nie wieder ein Karo­hemd anziehen kann (was er als Zeichen seiner Volks­nähe doch gerne getan hat), gilt als ziem­lich sicher.