Fremdworte sind Reizworte. Ängstliche Sprachbewahrer glauben, dass mit ihnen die Sprache verfällt, dass das „Abendland“ untergeht und das Binnen-I die Freiheit bedroht. Sie verstehen nicht, dass in der Sprache Neues und Altes sich mischen und Eigenes und Fremdes nicht zu unterscheiden sind.

  • Sabrina Habel

    Sabrina Habel ist Literatur- und Kultur­wis­sen­schaft­lerin und gerade mit einem Rosenzweig-Stipendium an der Hebrew University in Jerusalem. Sie hat in Tübingen studiert, arbeitete als wissen­schaft­liche Assis­tentin an der Universität Zürich, war Redakteurin beim Merkur und bei Geschichte der Gegenwart.

In regel­mä­ßigen Abständen rufen Konser­va­tive, Schrift­steller und Sprach­be­wahrer dazu auf, sich dem Sprach­wandel entge­gen­zu­stellen. Die jüngste Inter­ven­tion des „Verein Deut­sche Sprache“ führte zur Entste­hung eines „Verein zur Verhun­zung der deut­schen Sprache“, der sati­risch dagegenhält.

„Rettet dem Deutsch“: Spiegel-Titel vom Oktober 2006; Quelle: amazon.de

Die Sprach­pu­risten miss­trauen einem Sprach­ge­brauch, der seinem Gegen­stand gerecht werden will und Tradiertes so immer wieder prüft. Sie miss­trauen einer Sprache, die für Ände­rungen offen ist und die ausstellt, dass sie und ihre Gegen­stände etwas Kultu­relles und damit auch Verän­der­bares sind. Der Gedanke, dass Sprache nicht etwas Unmit­tel­bares, Natür­li­ches ausspricht, sondern dass sie „fremde“ Einflüsse aufnimmt, sich also beständig verän­dert, gehört zu den Grund­an­nahmen jeder Sprachwissenschaft.

Für die Über­le­gung, dass die Wörter unserer Sprache(n) künst­liche Setzungen sind, dass sie mit ihrem Gegen­stand nicht iden­tisch sind, sondern diesen in viel­fäl­tigen und histo­risch wech­selnden Bezeich­nungen nur anzeigen, ist der Schweizer Sprach­wis­sen­schaftler Ferdi­nand de Saussure bekannt: Das einzelne Wort verbinde eine Vorstel­lung mit einem Laut­bild, und die Tatsache, dass andere Spra­chen ein anderes Laut­bild für dieselbe Vorstel­lung wählen, zeige, dass die Bezeich­nung grund­sätz­lich beliebig ist. Ferdi­nand de Saussure gilt als Begründer der theo­re­ti­schen Lingu­istik, als „Entde­cker“ des arbi­trären Zeichens und als Begründer der Wissen­schaft der Semio­logie, die – wie es bei ihm heisst – „das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens“ unter­su­chen und die gemein­samen Gesetze von Sprache und Gesell­schaft heraus­ar­beiten soll.

Sprach­wandel

Die prin­zi­pi­elle Arbi­tra­rität der Sprache lässt sich, so Saussure, leicht bewusst machen, wenn man reflek­tiert, dass Sprache geschicht­lich ist (etwa mit Blick auf den Sprach­wandel). Aus der grund­sätz­li­chen Belie­big­keit der Wörter folgen zwei einander auf den ersten Blick entge­gen­ge­setzte Sach­ver­halte: Zum einen die Verän­der­lich­keit der Sprache in der Geschichte, durch sozialen Wandel oder Reformen und zum anderen ihre rela­tive Unver­än­der­lich­keit, die Tradi­tion und der Codex der Sprache. Saussure formu­liert das als dialek­ti­sche Pointe (man merkt, dass er in Berlin und im Hegel-Kontext studiert hat): Dass wir die Sprache, die unsere Umge­bung spricht und die wir als Kinder erlernen, nicht einfach grund­sätz­lich ändern können, ist gerade der Beweis für ihre innere Unmo­ti­viert­heit. Gerade weil die Bezeich­nungen nichts Natür­li­ches oder im Wesen der Dinge Veran­kertes sind, müssen sie gelernt, tradiert und fest­ge­schrieben werden. Gerade weil der Sprache die radi­kale Möglich­keit der Verän­de­rung eignet, braucht sie starke Stra­te­gien der Fest­schrei­bung (Duden und Gesetze). Was beson­ders starr und unver­än­der­lich wirkt, ist also in Wirk­lich­keit beson­ders arbi­trär und damit prin­zi­piell verän­derbar. Gerade der Eindruck des Beharr­li­chen und Immer-schon-Gegeben weist den Weg, im vermeint­lich Unwan­del­baren das Künst­liche und Erlernte und eben nicht das „Natür­liche“ zu sehen: Das gilt für die Sprache wie für andere gesell­schaft­liche Einrichtungen.

Die Worte der Sprache sind Produkte sozialer und histo­ri­scher Kräfte, sie reichern sich mit Kontexten an und rufen ihre gesell­schaft­li­chen Produk­ti­ons­be­din­gungen mit auf (das Wort „Neger“ die Skla­verei, das Wort „Fräu­lein“ die ganze Geschichte der bürger­li­chen Ehe und Miso­gynie). Ein verän­dertes Sprach­be­wusst­sein, ein bewusster Sprach­wandel oder eine Sprach­re­form, auch wenn sie von etwas ausgehen, das so abwer­tend „poli­tical correct­ness“ genannt wird (als wäre die Korrekt­heit nicht ein Merkmal der Sprachstarren), ist der Sprache also nicht äußer­lich, sondern gehört zur Aner­ken­nung ihrer Geschicht­lich­keit. Es gibt keine verlo­rene Unschuld oder kontext­lose Jung­fräu­lich­keit der Worte. Die einzenen Wörter sind immer histo­risch geworden (und histo­risch anders gewesen), mit sozialen Kontexten ange­rei­chert und politisch.

Mehr­spra­chig­keit

Auch die Mehr­spra­chig­keit macht die Arbi­tra­rität der Sprach­zei­chen bewusst. Man könne, sagt Saussure, darüber streiten, ob die mono­game Ehe vernünf­tiger sei als die poly­game, aber man kann nicht darüber streiten, ob die Wörter „sœur“ oder „sister“ für die Vorstel­lung einer „Schwester“ passender sei. An der Vorstel­lung „Schwester“ lässt sich zeigen, dass Laut­folge und Bedeu­tung gerade nicht „verwandt“ sind. Lingu­is­tisch betrachtet ist die Sprache polygam, eine Vorstel­lung paart sich mit mehreren Laut­bil­dern, die Bedeu­tung verhält sich (in Anleh­nung an eine Formu­lie­rung Walter Benja­mins) wie der Sultan im Harem der Worte. Die Belie­big­keit der Wörter zu erkennen ist ein Moment der Säku­la­ri­sie­rung: Es gibt keine heilige Sprache, nur eine soziale, histo­ri­sche und durch und durch mensch­liche. In dieser Über­le­gung steckt, so Adorno, ganz grund­sätz­lich der „Spreng­stoff der Aufklärung“.

Wegen allem ein Pessi­mist: Theodor W. Adorno; Quelle: kulturwoche.at

Die Theorie der Arbi­tra­rität richte sich „gegen den konfor­mis­ti­schen Zug der Sprache“ und gegen den konfor­mis­ti­schen Umgang mit ihr – gegen das, was Adorno den „Jargon der Eigent­lich­keit“ nannte und was heute viel­leicht der Jargon des Authen­ti­schen wäre. Beim Nach­denken über die Sprache wird deut­lich, wie es um alle sozialen Einrich­tungen und kollek­tiven Über­ein­stim­mungen bestellt ist, etwa – um an die vorhe­rige Meta­phorik anzu­knüpfen – um die kultu­rellen Vorstel­lungen von Ehe (wer darf sie schließen?) und Eltern­schaft. Die sozialen Einrich­tungen sind gerade nicht natür­lich, sondern Kultur­pro­dukte, nicht statisch, sondern verän­derbar. Eine Verän­de­rung, die mit einer Verän­de­rung der Sprache einher­gehen oder von dieser indi­ziert werden kann.

Wörter aus der Fremde

Im Fremd­wort, so schreibt Adorno Sauss­ures Verwandt­schafts­me­ta­phern fort, lockt eine „Exogamie der Sprache“, „die aus dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus­möchte“. Das fremde Wort ist für Adorno eine beson­ders wich­tige Refle­xi­ons­figur des Gesell­schaft­li­chen. Es unter­läuft die Vorstel­lungen einer homo­genen, von Einflüssen unbe­rührten Sprache und damit auch das Phan­tasma eines homo­genen Volkes. Mit seinem Essay Wörter aus der Fremde (1959) formu­liert Adorno vor dem Hinter­grund deut­scher Stammes- und Rein­heits­phan­ta­sien eine Vertei­di­gung des Gebrauchs von Fremd­wör­tern und von Fach­sprache. Hinter der Abwehr des Fremd­worts meint er die Abwehr gegen eine offene Gesell­schaft, die reak­tio­näre Rück­füh­rung des Sozialen auf ein vermeint­lich Natür­li­ches zu erkennen. Adorno schreibt dabei aus der Defen­sive: Seine Texte und Vorträge sind und waren berüch­tigt für einen Einsatz von Fremd­wör­tern, der wenig Zuge­ständ­nisse an die Allge­mein­ver­ständ­lich­keit macht. Adorno gibt denn auch zu, dass der Versuch einer Vertei­di­gung des bildungs­sprach­li­chen Fremd­wortes, solange Bildung ein soziales Privileg und nicht allen gleich zugäng­lich ist, „hilflos“ ausfallen muss: Sein Essay ist eine immer wieder neu anset­zende Rede, deren Teile einander immer wieder relativieren.

Das Fremd­wort als Widerstand

In seiner Jugend, so schreibt Adorno, „bildeten [die Fremd­wörter] winzige Zellen des Wider­stands gegen den Natio­na­lismus im ersten Welt­krieg.“ Adorno spricht nicht nur von fran­zö­si­schen Voka­beln in Schul­auf­sätzen, die zu Gebärden des Wider­stands werden, sondern auch vom Latei­ni­schen der höheren Bildung. Im Deut­schen, so Adornos sprach­ge­schicht­liche These, ließe sich an der (älteren neuhoch­deut­schen) Sprache ablesen, dass die latei­ni­sche Zivi­li­sa­tion, der Huma­nismus und die Inte­gra­tion ins christ­liche West­eu­ropa abge­wehrt wurden und dem Denken fremd blieben. Die unas­si­mi­lierten latei­ni­schen Wörter, die fremd aus der deut­schen Sprache heraus­ragen, zeigen, dass keine „pax romana“ geschlossen wurde, dass der Huma­nismus nicht „als Substanz der Menschen selber erfahren wurde, sondern als ein Unver­söhntes und ihnen Auferlegtes.“

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Eine ähnliche Über­le­gung bringt Ernst Robert Curtius dazu, während des Natio­nal­so­zia­lismus über das geteilte „römi­sche Erbe der euro­päi­schen Lite­ratur“ zu forschen. 1948 veröf­fent­lichte Curtius seine Studie Euro­päi­sche Lite­ratur und latei­ni­sches Mittel­alter, die dieselben antiken (Sprach-)Bilder und Themen in verschie­denen euro­päi­schen Spra­chen aufzeigt und auch das Deut­sche (sprach­lich und poli­tisch) ins latei­ni­sche Europa inte­griert. Der deut­sche Natio­na­lismus wird hier mit einem, wie Curtius schreibt, „Euro­pa­be­wusst­sein“ konfron­tiert, ein Europa, das aller­dings mit dem römi­schen Recht und Chris­tentum in eins gesetzt wird und den slawi­schen Raum ganz ausspart: „Man ist nur Euro­päer, wenn man civis Romanus geworden ist“, so Curtius‘ Fazit. Adorno geht es in seinem Essay dagegen weniger darum, einem christ­li­chen West­eu­ropa das Wort zu reden, als um eine Faschis­mus­ana­lyse. Darum, aus dem deut­schen Umgang mit dem Fremd­wort die Frem­den­feind­lich­keit der Natio­nal­so­zia­listen (die „das Fremde“ erst konstru­iert) und aus dem Umgang mit der Bildungs­sprache das typisch deut­sche „Unbe­hagen an der Zivi­li­sa­tion“, das Ressen­ti­ment gegen das Frie­dens­recht heraus­zu­lesen, das Norbert Elias dem deut­schen Bürgertum 1939 in seiner Forschung zum „Prozess der Zivi­li­sa­tion“ attestierte.

„Kanak Sprak“

Die Verbin­dung von Sprache und Natio­na­lismus und die Regle­men­tie­rung von Fremd­wör­tern ist – auch jenseits von Adornos Fokus – ein immer wieder­keh­rendes Thema des poli­ti­schen Diskurses: Sprach­schutz­ge­setze wie in Frank­reich, Polen, Ungarn, Rumä­nien und Schweden gehen mit einem Popu­lismus einher, der die vermeint­liche Rein­heit der eigenen Tradi­tion gegen fremde Worte, Konzepte und Menschen stark macht. Denn wie Fremd­worte werden längst nicht mehr nur Einflüsse aus anderen Spra­chen behan­delt, sondern auch Begriffe aus den Gender-und Kultur­wis­sen­schaften, Formu­lie­rungen die Inter­es­sens­ver­bände nahe­legen und die Alter­na­tiven zu altehr­wür­digen Chau­vi­nismen bieten sollen.

Dass das Konzept des Fremd­wortes auf andere Wörter und die gesamte Sprache ausge­weitet, und subversiv gewendet werden kann, ist auch die Pointe von Adornos Essay. Für Adorno ist das im Deut­schen im Gegen­satz zu den roma­ni­schen Spra­chen so „unas­si­mi­liert heraus­ste­chende“ Fremd­wort mehr als das geschicht­liche Zeugnis für das Miss­lingen einer Verei­ni­gung und eines Friedensschlusses.

Quelle: zvab.com

Es kann zu einer bewussten Praxis werden, sich einer erzwun­genen, sprach­li­chen und „völki­schen“ Verein­heit­li­chung entge­gen­zu­stellen. „Keine Sprache, auch die alte Volks­sprache nicht, ist, wozu restau­ra­tive Lehren sie machen möchten, ein Orga­ni­sches, Natur­haftes“, schreibt Adorno, der im Abschotten der „Volks­sprache“ von Einflüssen anderer Spra­chen und Kulturen eine Analogie zu rassi­schen Rein­heits­vor­stel­lungen sieht. Die Fremd­worte werden in der „Nehmer­sprache“ des Deut­schen so zur Chance: zum Ort der Refle­xion des Sozialen und zum Wider­stand gegen das Poli­ti­sche. In einer Zeit der poli­ti­schen Spal­tung und Abschot­tung bieten Fremd­wörter und Sprach­mi­schungen die Möglich­keit, sich mit dem Ausge­schlos­senen zu soli­da­ri­sieren. Heute lägen dafür weniger die großen (europäisch-kolonialen) Welt­spra­chen nahe, als die Spra­chen der soge­nannten „Gast­ar­beiter“, der Migranten und aus ihrer Heimat Geflo­henen – wie Monika Schmitz-Emans in ihrem Beitrag zur „Kanak Sprak“ von Feridun Zaimoglu zeigt.

Philosophie-Effekt

Auf einer ganz prin­zi­pi­ellen, philo­so­phi­schen, aber damit nicht weniger kriti­schen und prak­ti­schen Ebene dient das Fremd­wort der Ver-fremdung des Gewöhn­li­chen. Es ist nicht nur subversiv, sondern, so Adorno, radikal: „Das Fremd­wort mahnt krass daran, dass alle wirk­liche Sprache etwas von der Spiel­marke hat, indem es sich selber als Spiel­marke einbe­kennt. Es macht sich zum Sünden­bock der Sprache, zum Träger der Disso­nanz (…). Wogegen man sich beim Fremd­wort sträubt, ist nicht zuletzt, dass es an den Tag bringt, wie es um alle Wörter steht (…).“ Das Wort aus der fremden Sprache, dessen Zeichen­haf­tig­keit beson­ders hervor­sticht, zeigt, dass in Wirk­lich­keit alle Worte fremd sind – manche ist man einfach nur gewohnt. Das Fremd­wort „demas­kiert“ die Sprache in seinem Umkreis; es zeigt, dass auch das vermeint­lich Natür­liche eine Setzung und Tradi­tion ist – und bei weitem keine eindeu­tige und unwi­der­spro­chene. Auch inner­halb einer Sprache gibt es andere: ein Patch­work aus Dialekten, Sozio­lekten, Jargon und Fach­sprache (die nicht jedem zugäng­lich ist). Das Fremd­wort und der absicht­liche Terminus der Wissen­schaft vernichten „den Schein der Natur­wüch­sig­keit der Sprache“. Lingu­is­tisch betrachtet begegnen sich in jedem Wort fremde Elemente, ein Laut­bild, das genauso gut ein anderes sein könnte, und eine Vorstel­lung. Alle Wörter muss man lernen, keines ist unver­mit­telt gegeben und daher normal oder natür­lich. Fremde, das wäre das Fazit, sind die Worte sich selbst und Spre­chen heißt immer in einer Gesell­schaft mit Fremden sein.