Die SVP möchte mit einer Volksinitiative erreichen, dass völkerrechtliche Verträge bis hin zur Europäischen Menschenrechtskonvention von der Schweiz einseitig gekündet werden können, wenn sie „Schweizer Recht“ widersprechen. Der Vorstoss ist radikal, er zielt auf die Grundlagen unserer Rechtsordnung.

  • Niccolò Raselli

    Niccolò Raselli war von 1995 bis 2012 Ordentlicher Richter am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne – bis 2008 in der II. zivilrechtlichen Abteilung (wovon sechs Jahre als Präsident) und von 2009 in der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung.

Die Schwei­ze­ri­sche Volks­partei (SVP) möchte mit einer Volks­in­itia­tive errei­chen, dass völker­recht­liche Verträge bis hin zur Euro­päi­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion von der Schweiz einseitig gekündet werden können, wenn sie „Schweizer Recht“ wider­spre­chen. Noch hat sich das Parla­ment nicht zur Initia­tive geäus­sert; es hätte das Recht, einen Gegen­vor­schlag auszu­ar­beiten, der den Stimm­bür­ge­rInnen eben­falls zur Abstim­mung vorge­legt werden müsste. Ein Termin für die Volks­ab­stim­mung steht noch nicht fest, sie könnte aber schon 2018 statt­finden. Doch jetzt schon ist klar: Der Vorstoss ist radikal, er zielt auf die Grund­lagen unserer Rechts­ord­nung. Die Folgen der Initia­tive wären verhee­rend. Der Völker­rechtler Oliver Diggel­mann hat auf dieser Platt­form die Initia­tive schon einer Analyse unter­zogen; im Folgenden formu­liert alt-Bundesrichter Niccolò Raselli seine funda­men­tale Kritik an der Initia­tive in vier Punkten. (Red.)

Die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive zielt auf die Euro­päi­sche Menschen­rechts­kon­ven­tion (EMRK)

Die Initia­tive gibt vor, sich gegen „fremde“ Richter zu richten. Tatsäch­lich richtet sie sich gegen unsere Richter und gegen die Menschen­rechte. Das zeigt ihre Entste­hungs­ge­schichte: Als sich abzeich­nete, dass die mit der „Ausschaf­fungs­in­itia­tive“ (2010) anvi­sierte auto­ma­ti­sche und damit menschen­rechts­wid­rige Ausschaf­fung straf­recht­lich verur­teilter Ausländer gesetz­lich nicht ohne weiteres umzu­setzen war, lancierte die SVP zunächst die „Durch­set­zungs­in­itia­tive“ (2016), um einen Auto­ma­tismus in der Bundes­ver­fas­sung fest­zu­schreiben und das Parla­ment unter Druck zu setzen. Nachdem das Bundes­ge­richt dem Parla­ment signa­li­siert hatte, dass ein Auto­ma­tismus ohne Prüfung des Einzel­falles weder mit andern Grund­sätzen der Bundes­ver­fas­sung noch mit der EMRK vereinbar ist,  lancierte SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt als Reak­tion darauf mit einem Brief an alt Bundesrat Blocher die Idee der sog. „Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive“. Laut dieser müsste bei einem Wider­spruch zwischen Schweizer Recht (z.B. auto­ma­ti­sche Ausschaf­fung) und einem Staats­ver­trag (Achtung des Privat- und Fami­li­en­le­bens) dieser „nöti­gen­falls“ gekün­digt werden. Das Parla­ment liess sich weder von der Durch­set­zungs­in­itia­tive noch der ange­kün­digten Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive unter Druck setzen und nahm in das Gesetz zur Umset­zung der Ausschaf­fungs­in­itia­tive eine Härte­fall­klausel auf. Daraufhin reichte die SVP am 12. August 2016 die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive ein.

Das macht zwei­erlei deut­lich: Zum einen sollen Schweizer Richter, die dem menschen­rechts­wid­rigen Auto­ma­tismus wider­spre­chen, zurück­ge­bunden werden. Zum andern sollen Staats­ver­träge, die wie die EMRK eine Schranke gegen menschen­rechts­wid­rige Initia­tiven bilden, „nöti­gen­falls“ gekün­digt werden. In der denk­wür­digen Abstim­mung vom 28. Februar 2016 erteilten Volk und Stände der menschen­rechts­wid­rigen Durch­set­zungs­in­itia­tive eine klare Absage und sank­tio­nierten damit indi­rekt die Härte­fall­klausel. Es ist nur konse­quent, die noch fata­lere Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive zu verwerfen.

Die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive als Quelle von Rechtsunsicherheit

Der Initia­tiv­text erweckt den Anschein, eine klare Rege­lung des Verhält­nisses von Landes­recht und Völker­recht zu schaffen. Das Gegen­teil ist der Fall. Die Initia­tive spie­gelt vor, völker­recht­li­chen Verträgen, die wie die EMRK nicht dem Refe­rendum unter­liegen, den Vorrang vor dem Landes­recht abzu­er­kennen. Mit dem Beitritt zum unkünd­baren Wiener Über­ein­kommen über das Recht der Verträge hat sich die Schweiz indessen verpflichtet, völker­recht­liche Verträge zu erfüllen, ob sie dem Refe­rendum unter­stehen oder nicht. Die Verbind­lich­keit solcher Verträge, nament­lich der EMRK, ist fester Bestand­teil unserer Rechts­ord­nung. Im Übrigen ergibt sich die Verbind­lich­keit völker­recht­li­cher Verträge aus dem Völker­recht selber: Verträge sind zu halten und können nicht einseitig, auch nicht durch natio­nales Verfas­sungs­recht, geän­dert werden. Wer sich an der Verbind­lich­keit von Verträgen stösst, darf keine schliessen. Die Initia­tive beruht auf einem funda­men­talen Irrtum. Ihre Annahme würde hinsicht­lich des heute weit­ge­hend geklärten Verhält­nisses zwischen Völker­recht und Landes­recht bloss Verwir­rung stiften.

Die Initia­tive zündelt mit den Menschenrechten

Die EMRK beruht auf der Allge­meinen Menschen­rechts­er­klä­rung vom Jahre 1948, einer Reak­tion der Völker auf die Kata­strophe des Zweiten Welt­kriegs. Es wäre nicht nur engstirnig, sondern gera­dezu unmo­ra­lisch, wenn just die Schweiz als eines der wenigen im Zweiten Welt­krieg verschonten Länder sich anhei­schig machte, eine erste Bresche in die Euro­päi­sche Menschen­rechts­kon­ven­tion zu schlagen. In der EMRK sind Zivi­li­sa­ti­ons­werte erster Ordnung verbrieft: Das Recht auf Leben, das Recht auf Frei­heit und Sicher­heit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Meinungs-, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

Die EMRK trug und trägt zur Rechts­ent­wick­lung in den einzelnen Staaten bei, auch in der Schweiz. So wurde die berüch­tigte „admi­nis­tra­tive Versor­gung“ 1981 infolge der EMRK aufge­geben. Die in der EMRK enthal­tenen Verfah­rens­ga­ran­tien (Recht auf gericht­liche Über­prü­fung, Recht auf einen Anwalt in der Unter­su­chungs­haft, Recht auf ein faires Verfahren) haben unser Prozess­recht stark beein­flusst und die Rechte des Einzelnen gestärkt. Eine Reihe von Bestim­mungen der Bundes­ver­fas­sung, aber auch deren Trag­weite sind dem Einfluss der EMRK zuzu­schreiben: Verfah­rens­ga­ran­tien, das Diskri­mi­nie­rungs­verbot, die Pres­se­frei­heit (Quel­len­schutz), die Meinungs- und Infor­ma­ti­ons­frei­heit; alles heute auch in der Schweiz selbst­ver­ständ­liche Garan­tien. Die EMRK ist zu unser aller Vorteil.

Die Initia­tive schwächt die Volks­rechte und die Hand­lungs­fä­hig­keit der Schweiz

Die Initia­tive würde den Bund ermäch­tigen – gemäss Art. 184 BV wäre es der Bundesrat –, Staats­ver­träge „nöti­gen­falls“ ohne expli­ziten direkt­de­mo­kra­ti­schen Auftrag, d.h. ohne Konsul­ta­tion des Volkes zu kündigen, sobald sich ein Wider­spruch zum Landes­recht ergibt. Damit würde die Initia­tive just die Volks­rechte schwächen.

Die Initia­tive würde aber auch die Souve­rä­nität, Hand­lungs­fä­hig­keit und Verhand­lungs­macht der Eidge­nos­sen­schaft als inter­na­tio­naler Vertrags­partner schwä­chen.  Da die Verbind­lich­keit völker­recht­li­cher Verträge nicht einseitig ausser Kraft gesetzt werden kann, erweist sich die Initia­tive als insti­tu­tio­na­li­sierter Vertrags­bruch. Vertrags­partner der Schweiz könnten nicht mehr auf Vertrags­treue zählen, sondern müssten mit Vertrags­bruch rechnen. Die Schweiz verlöre ihren Ruf als verläss­li­cher Vertrags­partner. Die Folgen wären unab­sehbar, nicht nur für die Stel­lung der Schweiz im inter­na­tio­nalen Kontext, sondern auch hinsicht­lich allfäl­liger Gegen­mass­nahmen. Für den Klein­staat Schweiz, dessen Volks­wirt­schaft in die Welt­wirt­schaft inte­griert ist, ist die Verbind­lich­keit des Völker­rechts lebens­wichtig. Die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive setzt die Grund­lagen des schwei­ze­ri­schen Wohl­stands aufs Spiel. Die wirt­schaft­li­chen Konse­quenzen könnten verhee­rend sein.

 

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