Ist die Geschichte der Anthropologie einfach nur Ausdruck von Kolonialismus und Rassismus? Mit dem aufregenden Buch „Schule der Rebellen“ des Historikers Charles King lässt sich diese trotz allem verkürzte Ansicht gewinnbringend korrigieren.

Nach einer Zeit der notwen­digen Kolo­ni­al­kritik erscheinen nun vermehrt Bücher, die noch einmal neu ansetzen und die im 19. Jahr­hun­dert entstan­denen Diszi­plinen der Anthro­po­logie und der Ethno­logie nicht mehr allein als Diene­rinnen von Impe­ria­lismus und Kolo­ni­al­herr­schaft verstehen. So geht der US-amerikanische Histo­riker H. Glenn Penny in seinem Buch Im Schatten Humboldts. Eine tragi­sche Geschichte der deut­schen Ethno­logie (2019) davon aus, dass die überaus reich­hal­tigen ethno­lo­gi­schen Samm­lungen in deut­schen Museen nicht (nur) von kolo­nialer Samm­lungswut und asym­me­tri­schen Macht­ver­hält­nissen zeugen, sondern vor allem den Reichtum und die Viel­falt unter­schied­li­cher mensch­li­cher Prak­tiken, Ideen und Welt­sichten doku­men­tieren sollten.

Adolf Bastian etwa, lang­jäh­riger Direktor des Ethno­lo­gi­schen Museums in Berlin, war von der Exis­tenz einer einheit­li­chen Mensch­heit mit vielen Varia­tionen über­zeugt, die sich in eben diesen aus aller Welt zusam­men­ge­tra­genen Zeug­nissen mate­ri­eller Kultur ausdrü­cken würden. Ohne Zweifel fand dieses „Sammeln“ in einer kolo­nialen Situa­tion statt. Ideen von ausster­benden Völkern, denen noch schnell ihre Instru­mente, Werk­zeuge und Kunst­werke wegge­nommen werden mussten, spielten ebenso eine Rolle wie die Vorstel­lung, dass allein die euro­päi­schen Wissen­schaftler befä­higt und befugt waren, die hehren Ideen der einen Mensch­heit zu formu­lieren und in ihren Museen zu reprä­sen­tieren. Aller­dings lag auch eine große Spreng­kraft in diesem ethno­lo­gi­schen bzw. anthro­po­lo­gi­schen Blick auf die Welt, in dem Versuch, eine einzige Mensch­heit zu denken und die Schön­heit, Diffe­ren­ziert­heit und Sinn­haf­tig­keit der Kultur von vermeint­lich „Primi­tiven“ zu zeigen – ein Ansatz den auch Franz Boas verfolgte.

Anti­ras­sis­ti­sche Anthropologie

In einer Gegen­wart, in der die Aufar­bei­tung der kolo­nialen Vergan­gen­heit Europas auf ein Erstarken rassis­ti­scher Welt­in­ter­pre­ta­tionen trifft, lässt sich viel aus der Geschichte derje­nigen Diszi­plin lernen, deren Kern schon immer die Beschäf­ti­gung mit (kultu­reller) Diffe­renz war. Gerade die mit dem Namen von Franz Boas verbun­dene Schule des Kultur­re­la­ti­vismus hält erstaun­lich aktu­elle Botschaften bereit, denn es ging hier gerade nicht um die Beto­nung von Unter­schieden und Anders­ar­tig­keit im Sinne eines „othe­ring“, oder gar um eine mora­li­sche und poli­ti­sche Belie­big­keit, sondern um die Erkenntnis, dass wir – d.h. alle mensch­li­chen Gesell­schaften – unsere soziale Welt erstens aktiv selbst schaffen und daher auch verän­dern können. Und dass zwei­tens unser Blick auf Andere von eben­dieser selbst geschaf­fenen Welt geprägt ist – hierin lag der Grund für die nicht zuletzt in diesen Samm­lungen doku­men­tierte Rela­ti­vität der Kultur, die nicht mehr als biolo­gisch ererbt oder gött­lich gegeben betrachtet wurde, aber auch nicht in einer Miss­ach­tung von Menschen­rechten oder Eman­zi­pa­tion. Mit dem Verzicht auf einen natür­lich oder reli­giös begrün­deten Über­le­gen­heits­an­spruch der weißen Kultur entfiel aller­dings auch die Recht­fer­ti­gung für Kolonialismus.

Charles King, Professor für Inter­na­tional Affairs an der George­town Univer­sity, beschreibt in seinem Buch Gods of the Upper Air. How a Circle of Rene­gade Anthro­po­lo­gists Reinvented Race, Sex, and Gender in the Twen­tieth Century (2019) einen mal eng inein­ander verschränkten, mal lose mitein­ander verknüpften Kreis von Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaft­lern, die mit der cultural anthro­po­logy eine Gesell­schafts­theorie aus der Praxis entwi­ckeln wollten, die zudem dezi­diert anti­ras­sis­tisch war und herkömm­liche Geschlech­ter­rollen in Frage stellte. Das Zentrum oder Herz dieser „Schule der Rebellen“, so der deut­sche Titel von Kings Buch (2020), war Franz Boas, Begründer der modernen Anthro­po­logie, der nach seinem Studium in Heidel­berg und Bonn sowie einer ersten großen Arktis­ex­pe­di­tion 1868 in die USA ausge­wan­dert war.

Franz Boas in Inuit-Kleidung, 1885; Quelle: nybooks.com

Seit 1899 Professor für Anthro­po­logie an der Columbia Univer­sity, führte er mit seiner Frau Marie Krako­witzer ein großes offenes Haus, schrieb Tausende von Briefen und diri­gierte mehr oder weniger erfolg­reich einen durch Liebes­be­zie­hungen, Konkur­renz, gemein­same Arbeit, Ehen und Eifer­sucht verbun­denen Zirkel von Anthro­po­lo­ginnen und Anthro­po­logen. Als er 1942 im Dezember in New York starb, soll sein letzter Satz gelautet haben: „Wir sollten niemals aufhören zu wieder­holen, dass der Rassismus ein mons­tröser Irrtum und eine dreiste Lüge ist.“ Zeit seines Lebens hatte Boas gegen den Rassen­wahn in seiner neuen und in seiner alten Heimat gekämpft, und dabei versucht, das Konzept von Rasse sowohl empi­risch als auch theo­re­tisch zu wider­legen. Gleich­zeitig entwi­ckelten er und seine Schüler:innen neue Modelle zur Erklä­rung von (kultu­reller) Diffe­renz, die auf teil­neh­mender Beob­ach­tung und Selbst­re­fle­xion beruhten.

Wie kann Respekt ange­sichts kultu­reller Fremd­heit gelingen, ohne das Eigene zu leugnen und Diffe­renz entweder zu tilgen oder im Sinne eines „othe­ring“ beiseite zu schieben und hier­ar­chisch zu verorten? Das war die zentrale Frage bei den Forschungen inner­halb der eigenen Gesell­schaft und den Feld­for­schungen in fremden Gesell­schaften. Und dabei bedeu­tete Kultur­re­la­ti­vismus immer auch die Erfor­schung des Selbst, so verstrickt dieses sein mag und so verstellt der eigene Blick. Warum stoßen uns manche fremden Prak­tiken ab? Wie sind wir selbst kultu­rell und histo­risch geprägt? Wie beein­flusst das unseren Blick auf Andere? Wie unter­su­chen wir unsere eigene Kultur?

Schule der Rebellinnen

Der Titel von Kings Buch lautet auf Deutsch „Schule der Rebellen“, doch eigent­lich müsste es Rebel­linnen heißen, denn im Mittel­punkt stehen neben Boas die Anthro­po­lo­ginnen Margaret Mead, Ruth Bene­dict, Zora Neale Hurston und Ella Cara Deloria. Die so wich­tige Frage nach der eigenen Kultur stellte sich für Hurston und Deloria bzw. Anpétu Wašté Win in beson­derer Weise, gehörten sie doch zu Gemein­schaften, die im eigenen Land margi­na­li­siert waren. Beide galten auch weit über den Boas-Kreis hinaus als Wissen­schaft­le­rinnen aus eigenem Recht, bewegten sich aber zugleich in einer Doppel­rolle als Analy­ti­ke­rinnen und Zeuginnen ihrer eigenen Kultur, wenn nicht sogar in gewisser Weise als Unter­su­chungs­ob­jekte. Das galt beson­ders für Deloria, die mit Boas gemeinsam eine Dakota Grammar veröf­fent­lichte, Lingu­istin und Infor­mantin in einer Person. Zora Neale Hurston bezeich­nete sich selbst ironisch als „gehei­ligte schwarze Kuh von Barnard“ (dem berühmten Frau­en­col­lege in New York), und war einer­seits gefeiert und umworben und ande­rer­seits mit den abwer­tenden Urteilen über die afro-amerikanische Kultur konfron­tiert, die sogar Boas und seine Schüler teilten. Dies sollte später für ihre Arbeit wichtig werden.

Ella Deloria/Anpétu Wašté Win sagte von sich „ich stehe genau in der Mitte“, mit Eltern unter­schied­li­cher Herkunft und ihrer Doppel­rolle im Boas-Kreis. Sie stand vor der Aufgabe, eine Kultur in ihrer Voll­stän­dig­keit und Huma­nität zu erfor­schen, die sie selbst kannte und die in einer von rassi­scher Taug­lich­keit und linearer kultu­reller Entwick­lung beses­senen Gesell­schaft zur Folk­lore für Boy Scouts geworden war, die in ihren Sommer­camps für Kinder der weißen Mittel­schicht „India­ner­ri­tuale“ durchführten.

Trotz aller intel­lek­tu­ellen Offen­heit und einem Klima des Aufbruchs an manchen Univer­si­täten und in aufge­klärten Kreisen der Ostküste, stießen beide an die Grenzen einer Rassen­ge­sell­schaft, so wie Mead und Bene­dikt, beide bereits zu Lebzeiten extrem berühmt, an die Geschlech­ter­grenzen stießen. Ruth Bene­dikt, von vielen als Nach­fol­gerin Boas‘ ange­sehen, erhielt erst kurz vor ihrem Tod eine regu­läre Professur, und auch Margaret Mead bekam trotz 28 Ehren­dok­tor­ti­teln (!) eben­falls erst relativ spät für zwei Jahre einen Ruf an die jesui­ti­sche Fordham Univer­sity in New York.

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Ange­wandte Wissen­schaft und public intellec­tuals

Boas und seine Mitstrei­te­rinnen mussten mit ihrer Arbeit nicht aus dem sprich­wört­li­chen Elfen­bein­turm heraus­treten, sondern waren von vorn­herein public intellec­tuals. Das hatte einer­seits mit ihrem Selbst­ver­ständnis zu tun: Sie wollten in einer Zeit gesell­schaft­lich wirken, in der in den USA trotz aller Beru­fung auf die Aufklä­rung ein System ethni­scher Entrech­tung perfek­tio­niert wurde, wie King schreibt. Der Status der public intellec­tuals hatte ande­rer­seits aber auch mit ihren Methoden zu tun. So hatte Boas im Regie­rungs­auf­trag anthro­po­lo­gi­sche Messungen durch­ge­führt, um fest­zu­stellen, ob die in den USA gebo­renen Kinder von Einwan­de­rern eher wie ihre Eltern aussahen, oder zu einem neuen „ameri­ka­ni­schen Typ“ würden. Aus heutiger Sicht sind sowohl die Prämissen als auch die Methoden frag­würdig, aller­dings kam Boas zu der mit Daten belegten Über­zeu­gung, dass „Rasse“ keine stabile Kate­gorie sei, und daher jede Einwan­de­rungs­po­litik, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Abstam­mung einteilte und bevor­zugte oder ablehnte, sinnlos sei. Schon nach einer Gene­ra­tion ähnelten die Kinder der Einwan­derer einander mehr als ihren Eltern, etwa was die Körper­größe betraf. Die Dillingham-Commission dankte freund­lich und formu­lierte dennoch die Grund­lagen für eine rassis­ti­sche Einwanderungspolitik.

Ganz anders – und darin für die Geschichte des Rassismus nicht nur in den USA sehr instruktiv – erging es dem Gegen­spieler von Boas, dem Juristen, Euge­niker und Lobby­isten Madison Grant: Dessen 1916 erschie­nenes Buch The Passing of the Great Race war ein krudes rassis­ti­sches Mach­werk, das zwar nie zum Best­seller wurde, ihm aber in den 1920er Jahren und im Kontext des Immi­gra­tion Act von 1924 einigen Einfluss verschaffte. Die deut­sche Über­set­zung von The Passing, erschienen 1925, wurde in der Zeit­schrift Anthropos umge­hend als wissen­schaft­lich wertlos bezeichnet, beein­flusste aller­dings Hitler, der Grant einen begeis­terten Dankes­brief schrieb –, und das Buch wird bis heute in Kreisen der Alt-Right hoch­ge­halten. Boas hingegen, dessen Bonner Doktor­titel von 1881 später dann in Deutsch­land annul­liert und dessen Bücher verbrannt wurden, hatte vergeb­lich versucht, mit objek­tiven Daten gegen eine rassis­ti­sche Politik zu kämpfen; seine Nieder­lage ist ein weiteres Indiz dafür, dass rassis­ti­sche Politik keiner wissen­schaft­li­chen Begrün­dung bedarf.

Ruth Bene­dikt; Quelle: wikipedia.org

Auch Ruth Bene­dikt, eine andere promi­nente Vertre­terin des Boas-Kreises, versuchte mit ihrer Studie Chry­san­theme und Schwert: Formen der japa­ni­schen Kultur (1946) poli­tisch zu inter­ve­nieren. Das Buch stellte den Versuch dar, in einer Situa­tion, in der japa­ni­sche Ameri­kaner im Zweiten Welt­krieg als poten­ti­elle Feinde in Inter­nie­rungs­la­gern zusam­men­ge­pfercht waren, die japa­ni­sche Kultur als diffe­rent, aber nicht als anders­artig und minder­wertig zu verstehen. Chry­san­theme und Schwert wurde millio­nen­fach verkauft und erreichte inner­halb von fünf Jahren acht Auflagen und wurde auch ins Japa­ni­sche über­setzt. Zwar wurde es von japa­ni­schen Wissen­schaft­lern dafür kriti­siert, dass es zu sehr die Perspek­tive der japa­ni­schen Mittel­schicht – aus der Bene­dikts Mitar­beiter stammten – und des Mili­tärs einnahm, aber es stellte einen bedeu­tenden Versuch des Verste­hens und Über­set­zens zwischen Feinden dar.

Eine noch­mals andere Erfah­rung machte Zora Neale Hurston. Ihr Werk wurde gerade dafür kriti­siert, dass sie sich nicht als Über­set­zerin, sondern als Doku­men­ta­ristin, Samm­lerin und Erzäh­lerin verstand. Sie wollte die afro-amerikanische Kultur der Südstaaten weder als Über­bleibsel aus Afrika, aus den Herkunfts­ge­bieten der Skla­vinnen und Sklaven, verstehen, noch als korrum­pierte Version des Weiß­seins. Sie inter­es­sierte sich für die genuin schwarze ameri­ka­ni­sche Kultur als voll­ständig, wert­voll, kreativ, als Ausdruck von Menschen, die sich nicht entweder als Wider­stands­kämpfer oder als Opfer der Skla­verei verstanden, sondern als Mütter und Väter, Lehre­rinnen und Musiker, als Poeten und Bürger­meister, Geschich­ten­er­zäh­le­rinnen und Arbeiter. Das brachte ihr den Vorwurf ein, eine verklärte Sicht auf den Süden zu beför­dern und Menschen vorzu­führen, weil sie deren Sprache unver­fälscht in ihren Büchern wiedergab. Für sie aber war es eine schöne und rich­tige Sprache. Und es gehört zu den Beson­der­heiten der Texte von Zora Neale Hurston, dass sie nicht im ethno­gra­fi­schen Präsens schrieb, welches die beschrie­benen Menschen gleichsam gram­ma­ti­ka­lisch einfriert (sagt, isst, zeigt), sondern deren Hand­lungen in der Vergan­gen­heits­form beschrieb (tat, meinte, erklärte). „Dadurch setzte sie eine Kern­bot­schaft von Boas dauer­haft um: dass alle Kulturen sich verän­dern, sogar während die Anthro­po­logen fleißig ihre Feld­no­tizen machen“, wie Charles King festhält.

Margaret Mead (links) und Fa’amotu Ufuti, American Samoa, circa 1925; Quelle: Random House

Die wohl größte öffent­liche Wirkung unter den Rebel­linnen jedoch besaß Margaret Mead, die neben ihrer wissen­schaft­li­chen Tätig­keit auch zu allen mögli­chen gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Themen befragt worden ist. Sie war wissen­schaft­lich unge­heuer produktiv und verfasste zudem regel­mäßig Kolumnen und Artikel für popu­läre Zeit­schriften, und trat im Rund­funk und Fern­sehen auf. Ein indi­rekter Beleg für ihre Popu­la­rität und Wirk­sam­keit zeigt sich darin, dass sie zwar als eine der wich­tigsten Frauen der Zeit ausge­zeichnet wurde, zugleich aber eine mehr als 1000 Seiten umfas­sende Akte beim FBI über sie exis­tierte… Beson­deres Inter­esse erregten ihre Arbeiten zu Sexua­lität und Pubertät, zu Geschlecht und Geschlech­ter­ver­hält­nissen. Sie kriti­sierte schon in ihrem Buch Geschlecht und Tempe­ra­ment in drei primi­tiven Gesell­schaften (1931) die Vorstel­lung, dass Geschlecht und gesell­schaft­li­ches Verhalten zusam­men­ge­hören. Alle Gesell­schaften wiesen Männern und Frauen bestimmte Rollen zu, so Mead, diese müssten aber nicht an Biologie gebunden sein. Genaue Beob­ach­tungen würden zudem zeigen, dass indi­vi­du­elle Unter­schiede zwischen Männern bzw. Frauen je unter­ein­ander größer seien als zwischen Mann und Frau als kate­go­rial unter­schie­dene Gruppen.

Kultur­re­la­ti­vismus

Die Geschichte der im Kreis um den deutsch-amerikanischen Anthro­po­logen Franz Boas herum forschenden und publi­zie­renden „Rebel­linnen“ und „Rebellen“, wie Charles King sie nennt, lehrt uns, dass Kultur­re­la­ti­vismus keine Recht­fer­ti­gung für Unter­drü­ckung, Frau­en­feind­lich­keit und Verach­tung der Menschen­rechte bedeuten muss. Viel­mehr geht es um die Aner­ken­nung dafür, dass es andere als die vertrauten und bekannten Wege des Lebens gibt. Die Forscher:innen aus dem Boas-Kreis haben in anderen Gesell­schaften auch Unglück gesehen oder wenig gelun­gene Gesell­schafts­ent­würfe analy­siert. Sie mussten auch einräumen, dass nicht nur die wissen­schaft­li­chen Begriffe kultur­ge­bunden und keines­wegs universal sind, sondern dass dies für alle Auffas­sungen gilt. Gleich­wohl ist es möglich, Anderes zu erkennen und von anderen Gesell­schaften zu lernen, etwa was die Durch­läs­sig­keit von Geschlech­ter­vor­stel­lungen betrifft.

Dass Boas und seine Schü­le­rinnen und Schüler anthro­po­me­tri­sche Messungen vornahmen, wirkt aus heutiger Sicht viel­leicht irri­tie­rend. Ebenso ihr Sprach­ge­brauch, wenn sie von primi­tives, natives, indians und negros spre­chen – in der dama­ligen Zeit wurde mit solchen heute als rassis­tisch markierten Begriffen um eine anti­ras­sis­ti­sche Haltung gerungen. Warum King sie auch jenseits von Zitaten benutzt, begründet er im Nach­wort. Für ihn wird Geschichte gewis­ser­maßen zu einer anderen Kultur, die er in ihren eigenen Begriffen darstellen möchte. Das ist zwar disku­tabel, aber man muss dem nicht zustimmen. Ihre umstands­lose Über­tra­gung ins Deut­sche hingegen irri­tiert auf jeden Fall erheblich.