
Ende Juni kam es in Frankreich wieder einmal zu heftigen Ausschreitungen zwischen Jugendlichen aus den Banlieues und der Polizei, nachdem der 17-jährige Nahel bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre bei Paris getötet worden war. Gewaltausbrüche dieser Art sind in Frankreich kein unbekanntes Phänomen. Sie werden dort auch als émeutes urbaines bezeichnet, was sich wohl am ehesten mit Vorstadtunruhen übersetzen ließe (urban riots im Englischen). Und deren Geschichte reicht in Frankreich immerhin bis ins Jahr 1981 zurück, als in Les Minguettes, einem Vorort von Lyon, die ersten Vorstadtunruhen ausbrachen.
Aus diesen Unruhen entstand 1983 der berühmte „Marche pour l’égalité et contre le racisme“, der in einer politischen Protestbewegung mündete, die bald auch als „mouvement beur“ bekannt wurde und enge Verbindungen zur politischen Linken in der französischen Politik etablieren konnte. Doch diese Verbindung zwischen gewaltsamen Vorstadtunruhen und französischer Politik war kurzlebiger Natur. Sie existierte bereits nicht mehr, als es in den1990er Jahren gleich zu einer ganzen Reihe von Ausschreitungen zwischen meist jugendlichen Banlieue-Bewohnern und der Polizei kam – unter anderem in Vaulx-en-Velin (1990), in Mantes-la-Jolie (1991), in Sartrouville (1991), in Nanterre (1995), in Mirail bei Toulouse (1998), in Vitry-sur-Seine (2001) und in Straßburg (2002). Daher verbindet man seither mit dem Begriff „Vorstadtunruhen“ eher ein verstörendes Gewaltereignis und weniger eine Form von politischem Protest, wenngleich auch diese Sichtweise vor allem in der medialen Berichterstattung durchaus zu finden ist.
Zu den bis dato größten Ausschreitungen dieser Art kam es im Jahr 2005 in Clichy-sous-Bois, einem Vorort von Paris. Durch ihr geografisches und zeitliches Ausmaß stellen diese Unruhen selbst die diesjährigen Ereignisse noch in den Schatten. Doch auch wenn sich das Ausmaß und der Verlauf der französischen Vorstadtunruhen über die Jahrzehnte teils erheblich unterscheiden mag – das Muster der dahinter liegenden Konfliktdynamik ist weitgehend identisch: Es beginnt in aller Regel mit einer polizeilichen Intervention, etwa einer Verkehrs- oder Identitätskontrolle, die einen dramatischen Verlauf nimmt und die schlimmstenfalls zum Tod eines oder auch mehrerer Jugendlicher führt. Anschließend kursieren entweder Gerüchte über die Todesumstände oder sogar Videoaufnahmen wie in diesem Jahr, woraufhin alle Dämme brechen und vor allem die Jüngeren unter den Banlieue-Jugendlichen sich mobilisieren und die gewaltsame Konfrontation mit der Polizei suchen. Diese wiederum gießt in der Regel Öl ins Feuer, weil sie einsatztaktisch nicht auf Deeskalation aus ist, sondern auf Konfrontation, und weil sie gewillt ist, unbeugsame staatliche Härte zu demonstrieren. Das war auch im Juni 2023 wieder der Fall. Man halte sich nur einmal die Dimensionen vor Augen: Im Zuge der diesjährigen Ausschreitungen schickte Frankreichs Sicherheitsapparat zwischenzeitlich bis zu 45.000 hochgerüstete Polizist:innen für den Einsatz gegen die jugendlichen „Unruhestifter“ auf die Straße.
Moralische Schlagseiten in der öffentlichen Debatte
Was muss passieren, damit es in einer Gesellschaft zu einem schwelenden Konflikt kommt, der immer wieder derart eskalieren kann? Ein Blick auf die mediale Berichterstattung zeigt, dass die gängigen Erklärungsansätze aus der umfangreichen Fachliteratur mittlerweile auch von deutschsprachigen Medien sehr routiniert übernommen werden. Dadurch erlauben sie einer interessierten Öffentlichkeit, sich ein umfassendes Bild vom Geschehen zu machen. Gleichwohl birgt die dadurch angestoßene Debatte stets die Gefahr einer einseitigen Lesart dieses vielschichtigen und dynamischen Konfliktgeschehens, das nicht auf einige wenige Ursachen zurückgeführt werden kann.
Vereinfacht gesagt lassen sich zwei grundlegende Deutungsperspektiven mit entgegengesetzter politischer Stoßrichtung unterscheiden, denen die medialen Erklärungsversuche jeweils zugeordnet werden können. Die erste Deutungsperspektive verortet die Gewaltausbrüche in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Jugendlichen sozial ausgeschlossen und kulturell zurückgewiesen fühlen. Rassismus, Polizeigewalt, soziale Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit prägen demnach das Leben dieser jungen Menschen, die dann, so die gängige Lesart, mitunter gewaltsam gegen diese alltäglichen Zumutungen aufbegehren. Diese Perspektive, die in der Fachliteratur auch als Exklusions- oder Deprivationsthese bezeichnet wird und die in der Berichterstattung großen Widerhall findet, ist in der Regel damit verbunden, die Gewalt als soziale Revolte darzustellen und die Jugendlichen moralisch zu rehabilitieren.
Eine zweite Deutungsperspektive, die der Exklusionsthese auf den ersten Blick entgegenläuft, legt das Augenmerk eher auf eine gewaltaffine Subkultur, die den Alltag in den Banlieues bestimmt. Diese Art von juveniler Gegenkultur bildet sich, so diese Deutung, in Opposition zur herrschenden Kultur und zur Bevormundung durch staatliche Institutionen, weshalb vor allem die Verpflichtung zu männlicher Härte und physischer Gewalt einen hohen Stellenwert in ihr einnehmen. Zwar wird auch hierbei oft betont, dass die Polizei selbst und die Art und Weise, wie sie im Alltag mit den Jugendlichen umgeht, einen bedeutenden Anteil an der Entstehung solch eines gewalterprobten Milieus trägt. Gleichwohl und zumal in Form von medialer Berichterstattung geht diese Deutung in aller Regel damit einher, die Gewalt und ihre Protagonisten moralisch zu diskreditieren.
Im Folgenden möchte ich dafür plädieren, diese beiden Perspektiven nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie als komplementär, das heißt als die jeweils andere ergänzend zu lesen. Anderenfalls entsteht eine moralische Deutungskonkurrenz zwischen einer letztlich trivialen Politisierung der Gewalt einerseits und einer diffamierenden Pathologisierung der Jugendlichen andererseits, die zu einseitigen Sichtweisen auf das Geschehen führt. Gewalt wird ausgehend von diesen moralisch konkurrierenden Perspektiven oft nur höchst selektiv skandalisiert und somit in der gesellschaftspolitischen Debatte auch nur in ihren auffälligsten Erscheinungsformen wahrgenommen.
Wenn Gewalt sich im Leben dauerhaft einnistet
Wer die Ausschreitungen auf Polizeigewalt, auf rassistische Diskriminierung und kulturelle Ausgrenzung zurückführt, skandalisiert damit in erster Linie offensichtliche und teils brutale Formen staatlicher Repression sowie eher subtile Formen von Alltagsgewalt (auch strukturelle Gewalt genannt). Die Unruhen selbst erscheinen in der Folge als eine Art Gegengewalt. Es greift allerdings zu kurz, die vermeintliche Gegengewalt primär im Sinne einer Reaktion auf soziale Lebenslagen zu verstehen, in denen Ausgrenzung und Unterdrückung zum Alltag gehören. Denn dabei wird übersehen, wie sich auch andere Gewaltformen im Leben dieser jungen Menschen regelrecht einnisten – und zwar dauerhaft und in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen, nicht nur als Polizeigewalt oder als strukturelle Gewalt. Dort, wo sie sich ins unübersichtliche Terrain des gesellschaftlichen Alltags zurückzieht, ist die Gewalt für die Heranwachsenden in den Banlieues allgegenwärtig, aber für Außenstehende kaum sichtbar – sei es als häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch, der an den sogenannten Rändern der Gesellschaft ebenso verbreitet und unsichtbar ist wie in wohlhabenderen Schichten, sei es als Mobbing unter Kindern und Jugendlichen, in Form von mehr oder weniger organisierter Kriminalität in der eigenen Nachbarschaft oder sei es schließlich als code of the street, wie Elijah Anderson es nennt: „At the heart of the code is the issue of respect—loosely defined as being treated ,right’ or being granted one’s ,props’ (or proper due) or the deference one deserves.“
Der sozialen Kontrolle durch die Peergroup, die mit einem solchen Verhaltenskodex verbunden ist, können sich vor allem die männlichen Heranwachsenden in den Banlieues kaum entziehen – mit schwerwiegenden Folgen für ihr Verhältnis zur eigenen Verletzbarkeit gegenüber Familienmitgliedern, staatlichen Autoritätspersonen (insbesondere Polizist:innen und Lehrer:innen) oder schlicht und einfach im täglichen Umgang miteinander. Dazu nachfolgend ein besonders einschlägiger Interview-Ausschnitt aus meiner eigenen Forschung zu den Unruhen von 2005, in dem die für dieses jugendliche Milieu charakteristische Verpflichtung zur Härte gegen sich und andere treffend beschrieben wird. Das Zitat stammt aus einem Interview mit einem 21-jährigen männlichen Bewohner aus Clichy-sous-Bois, von wo die Unruhen im Oktober 2005 ihren Ausgang nahmen. Der Befragte war damals selbst aktiv an den Ausschreitungen beteiligt, die allerdings zum Zeitpunkt des Interviews schon über drei Jahre zurücklagen:
Man versteckt seine Gefühle, das musst du hier, sonst bist du tot, am Ende. Wieso gibt’s hier deiner Meinung nach so viele Leute, die den Harten markieren? Obwohl eigentlich… sind das keine Harten… Wenn du mit denen allein sprichst… spricht man über Dinge, über die man draußen nicht spricht. Deshalb… verstehst du?! Das ist ein Milieu, das muss man erleben, verstehst du?!
In der Berichterstattung zu den diesjährigen Unruhen zeigte man sich besonders verwundert darüber, dass deren Protagonisten so jung waren; es handelte sich fast ausschließlich um männliche Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren. Doch gerade aus Sicht der Jüngeren gilt es, angesichts einer verletzungsmächtigen sozialen Umwelt stets das eigene Gesicht zu wahren – défendre sa face, wie die Jugendlichen sagen und wie auch bekannte Banlieue-Forscher wie David Lepoutre oder Gérard Mauger es nennen. Die zwischenmenschlichen Begegnungen im Alltag dieser jungen Menschen sind durchsetzt von Erlebnissen, die von ihnen als einschneidende Verletzungen erlebt werden – sei es im Umgang mit autoritären und nicht selten auch gewalttätigen Familienmitgliedern oder anderen Menschen aus dem persönlichen Umfeld, mit oft am Rande der Willkür und Brutalität agierenden Polizist:innen und nicht zuletzt mit rigidem Lehrpersonal, das sich der ausgrenzenden Logik hochselektiver französischer Bildungseinrichtungen verpflichtet fühlt. Die Betroffenen aber können diese Erlebnisse nicht ohne Weiteres als verletzende Erfahrungen zur Sprache bringen, ohne zu riskieren, dass sie ihnen vom persönlichen Umfeld als Schwäche ausgelegt werden.
Gewalt kann zur attraktiven Form der Selbstbehauptung werden
In meiner langjährigen Forschungserfahrung speziell mit dieser Altersklasse ist deutlich geworden, dass die Jugendlichen das Erlebte nur selten wirklich zur Sprache und somit auf Abstand bringen können. Dazu fehlt es ihnen oft an stabilen und vertrauensstiftenden Beziehungen, in deren Rahmen das Erleben anhaltender Verletzungen auch versprachlicht werden kann, ohne zugleich das Gesicht zu verlieren. Dadurch wird die erlittene Gewalt des gesellschaftlichen Alltags nicht nur verlängert, sondern womöglich noch verschärft, auch weil besonders die Jüngeren unter den Banlieue-Jugendlichen in der eigens verübten Gewalt gegen andere eine attraktive Form der Selbstbehauptung finden. Ein weiterer Interview-Ausschnitt aus meiner eigenen Forschung, diesmal mit einem jungen Mann aus Montreuil, macht diesen endemischen Kreislauf der Gewalt deutlich:
Die Gewalt, sie… immer wieder Gewalt, das ist immer dasselbe, von daher… Bist du gewalttätig, werden die Leute dir gegenüber gewalttätig sein und du wirst umso mehr zur Gewalt neigen. Es ist diese Gewalt, die uns jedes Mal so wütend macht. Ich bin mit gewalttätigen Leuten groß geworden und ich hab’ es selbst geschafft, gewalttätig zu werden. Weißt Du, was ich meine? Und diese Gewalt, sie… an einem bestimmten Punkt kannst du sie nicht mehr kontrollieren, dann musst du alles kaputt hauen…
Burkhard Liebsch sprach kürzlich in ähnlichen Zusammenhängen auch von einer Art Souveränität, die in einer Gewalt zu finden sei, die jegliche Verbindung zum Politischen aufzukündigen scheint, weil das Politische seinerseits nicht hält, was es unbedingt versprechen können muss: uns vor der moralischen Unannehmbarkeit ungerechtfertigter Verletzung durch andere zu schützen. Im Banlieue-Kontext richtet sich diese Form von selbstbehauptender Gewalt meist gegen die Polizei. In besonders außeralltäglichen Konfliktphasen wie diesen Sommer richtet sie sich auch gegen öffentliche Einrichtungen wie Rathäuser oder Schulen, weil viele der einschneidenden Verletzungserfahrungen mit ihnen assoziiert werden.
Die Älteren unter den Jugendlichen und vor allem junge Erwachsene sind dagegen oft sehr kreativ darin, verletzende Erfahrungen aus ihrem Lebensalltag eindringlich zu beschreiben. Dadurch gelingt es ihnen, sie mit der nötigen Empörung auch gestisch zurückzuweisen. Mit zunehmendem Alter wachsen mit anderen Worten vor allem die sozialen Spielräume der Kommunikation, in denen diese Erlebnisse als einschneidende Erfahrungen von Ungerechtigkeit und moralischer Verletzung sprachlich entschärft werden können – etwa im Rahmen jener Beziehungen, die durch den Einstieg ins Berufsleben oder durch ein soziales Engagement im eigenen Viertel entstehen; aber auch verlässlicher werdende Intimbeziehungen oder gar die Gründung einer eigenen Familie tragen mit der Zeit dazu bei, dass der Abstand zu den eigenen Verletzungserfahrungen wachsen kann. Nur unter dieser Bedingung kann es den Heranwachsenden gelingen, sich ihre „beschädigte Identität“ (Erving Goffman) wieder anzueignen, weil die Urerfahrung einer verletzenden gesellschaftlichen Umwelt in artikulationsfähige Selbstachtung übersetzt werden kann.
Was ist anders als bei den Unruhen von 2005?
Noch eine andere Frage wurde im Zuge der Berichterstattung immer wieder aufgeworfen: Was hat sich seit den letzten großen Unruhen von 2005 geändert? Nimmt man das hier vorgetragene Argument ernst, lautet die Antwort schlicht: Nichts! Angefangen bei der Polizei über die Schulen bis hin zu den chronisch überforderten Jugendämtern sind damals wie heute weder staatliche Institutionen noch ein erschreckend großer Teil der Eltern in der Lage, fähig oder willens, diese jungen Menschen als die Schwächsten unter uns vor einer alltäglichen Gewalt in Schutz zu nehmen, die sie irreversibel zu verletzen droht.