Historisches Forschen und Vermitteln braucht zwei entgegengesetzte Operationen: Auf der einen Seite werden die Dinge immer komplexer – und meist auch komplizierter – wenn man tiefer in die Materie eindringt. Auf der anderen Seite ist es nötig, Komplexität zu reduzieren, um einen Überblick zu gewinnen oder Sachverhalte zu erklären und in Zusammenhänge zu bringen. Geht es um afrikanische Geschichte und Philosophie, ist offenbar nur Komplexitätsreduktion zulässig. Schriftsteller, Politikerinnen, Philosophen und Künstlerinnen haben scheinbar nur zwei Optionen: Entweder verschreiben sie sich einem radikalen, militanten Widerstand oder sie werden der Kollaboration mit „dem Kolonialismus“ bezichtigt. Es ist Gary Wilders Verdienst, dass sich seine Re-Lektüre der Texte von Léopold Sédar Senghor und Aimé Césaire im 2015 erschienenen Buch Freedom Time der Dichotomie zwischen Widerstand und Assimilation verweigert, die afrikanischen Männern und Frauen nur diese zwei Rollen zugesteht. Fragen zum Beispiel danach, warum sich „die Afrikaner“ nicht gegen „den Kolonialismus“ verbündet haben, verbieten sich damit von selbst. Oder auch eine Perspektive, die jede literarische, künstlerische und philosophische Äusserung zunächst einmal auf ihren Bezug und ihr Verhältnis zu Kolonialismus und Postkolonialismus abklopft.
Konkrete Utopien in Paris
Aimé Césaire, der den Begriff Négritude in der Pariser Zeitschrift L’Etudiant Noir 1935 eingeführt hat, also vor dem Zweiten Weltkrieg und Dekaden vor der Dekolonisierung Afrikas, wurde 1913 auf Martinique geboren. Aufgrund seiner ausgezeichneten schulischen Leistungen konnte er mit einem Stipendium an ein Elitegymnasium in Paris wechseln, wo er 1931 den sieben Jahre älteren Léopold Senghor aus dem Senegal traf, einen Studenten der klassischen Philologie.
Paris war in den 1920er und 1930er Jahren ein Treffpunkt für Intellektuelle aus dem frankophonen Afrika, aus der Karibik und den USA. Paulette Nardal, Schriftstellerin und Journalistin aus Martinique, erste schwarze Studentin an der Sorbonne und mit ihrer Schwester Gastgeberin eines literarischen Salons in Paris, stellte durch ihre Übersetzungen Verbindungen zwischen den Autorinnen und Autoren der Harlem Renaissance und den Studentinnen und Studenten aus dem französischen Kolonialreich her. Wilder spricht von einer „transnational black public sphere in imperial Paris“.

Quelle: dukepress.edu
Wilders Buch beginnt mit dieser Zeit, widmet sich aber besonders der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, „when these student-poets became poet-politicians participating directely in reshaping the contours of the Fourth and Fifth Republic France“. Senghor wurde Soldat in der französischen Armee und geriet 1940 für zwei Jahre in deutsche Kriegsgefangenschaft, wo er Hosties Noires (Schwarze Hostien) schrieb und Goethe entdeckte. Nach der Entlassung arbeitete er als Lehrer und wurde 1945 Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung für den Wahlbezirk Senegal-Mauritanie. Auch Césaire arbeitete zunächst nach seiner Rückkehr nach Martinique 1938 als Lehrer und wurde 1945 zum Bürgermeister von Fort-de-France gewählt. Ab 1946 war er Abgeordneter der Kommunistischen Partei Frankreichs in der Nationalversammlung (bis 1993). Er war ebenso wie Senghor davon überzeugt, dass die Zukunft der Kolonialgebiete nicht in einer nationalen Unabhängigkeit, also der Gründung neuer Staaten lag, sondern in der Überwindung des Nationalismus in einem neu zu bestimmenden territorialen Rahmen. Ausgangspunkt war das französische Imperium und nicht der französische Nationalstaat. „Senghor called neither for France to decolonize Africa nor for Africa to liberate itself, but for Africans to decolonize France.“
Wilders Buch lässt sich in zweifacher Hinsicht lesen: einmal als intellektuelle Geschichte von Senghors und Césaires politischem und literarischen Denken und Schaffen von 1945 bis 1960 – dem sogenannten Afrikanischen Jahr, als 18 Kolonien unabhängig geworden sind und Senghor Präsident der Republik Senegal wurde, nachdem eine Union mit Mali sowie die Utopie einer postnationalen Union mit Frankreich gescheitert waren. Wilder rekonstruiert ihre Konzepte von Föderalismus, Departementalismus und Selbstbestimmung am Vorabend der Unabhängigkeit und ihre Ideen eines nicht-stalinistischen Sozialismus und grundlegender Solidarität für eine post-nationale und post-rassische Gesellschaft. Daran anknüpfend versteht Wilder seine Lektüre auf einer zweiten Ebene als durchaus zukunftsweisend, stehen wir doch erneut vor dem Problem, wie Demokratie und Solidarität in einer neu zu ordnenden Welt nach dem Ende des Ost-Westkonfliktes im Geflecht von Nationalstaaten, Imperien und Globalisierung denkbar sind.

Léopold Sédar Senghor und Aimé Césaire, o.J.; Quelle: 7lameslamer.net
Senghor und Césaire blieben Zeit ihres Lebens Autoren literarischer Texte, und so betont Wilder denn auch die Verbindung zwischen politischem Denken und ästhetischer Praxis im Werk seiner Protagonisten, die er als pragmatische Utopisten und als kosmopolitische Humanisten versteht. Und er zeigt in seinem eleganten und lesenswerten Text, wie es gelingen kann, ohne allen Ideen von Senghor und Césaire zuzustimmen oder ihre spätere Politik im Einzelnen zu rechtfertigen, Ideengeschichte zu dekolonisieren, indem afrikanische Philosophie einbezogen wird, und Kritische Theorie zu globalisieren, indem sie um die koloniale Dimension erweitert wird.
Politische Realität in Westafrika
Beim Gründungskongress der Parti de la Fédération Africaine 1959 in Dakar, die Parteien aus Senegal, Niger, Sudan, Overvolta und anderen afrikanischen Kolonien vereinigte und Grund für einen afrikanischen Bundesstaat legen sollte, erläuterte Senghor – damals bereits Mitglied der französischen Nationalversammlung – sein Programm:
Deswegen sind wir nicht für das Regime des liberalen Kapitalismus und des free enterprise. Wir können die Augen nicht verschließen vor der Rassen-Segregation, mag auch die US-Bundesregierung sie bekämpfen, und auch nicht davor, dass der materielle Erfolg zum Rang eines Lebensstils erhoben wird. Wir sind für einen mittleren Weg, für einen demokratischen Sozialismus, einen Sozialismus, der bis zur Integration spiritueller Werte geht, einen Sozialismus, der an die alte ethische Strömung der französischen Sozialisten anknüpft.
Die Föderation kam allerdings nicht zustande. Die koloniale Abhängigkeit und die Partikularinteressen in den Kolonien waren zu stark. Selbstbestimmung und Selbstregierung liess sich kaum ausserhalb des Nationalstaates denken und die antikolonialen Bewegungen strebten eine nationale Unabhängigkeit für ihre Länder an, die in der Gründung neuer Staaten mündete.
Senghor sah sich im eigenen Land mit zunehmender Unruhe konfrontiert. 1968 kam es zu Studentenunruhen in der Hauptstadt, gefolgt von einem Generalstreik. Die Studierenden protestierten gegen das veraltete Bildungssystem, aber die Unzufriedenheit ging erheblich weiter. Der Sozialist Senghor hatte die Klassengegensätze wohl erheblich unterschätzt, zudem protestierte die Bevölkerung gegen die Machtkonzentration der herrschenden Partei, die Rezession und die anhaltende Abhängigkeit von Frankreich des allerdings erst seit acht Jahren unabhängigen Landes. Unter dem Eindruck des Sezessionskriegs in Nigeria (Biafra) und dem Sturz Kwame Nkrumas in Ghana 1966 und wohl auch der weltweiten Studentenproteste und Streiks reagierte Senghor mit dem Einsatz von Polizei und Militär.
Ehrung in der Paulskirche – Négritude als Geschichte

Senghor, Präsident Senegals, als Mitglied der Académie Française, 1984; Quelle: africanouvelles.com

Dany Cohn-Bendit beim Versuch, die Absperrung vor der Paulskirche zu stürmen, 22. September 1968; Quelle: fr.de
1968 war auch das Jahr, in dem Senghor – als erster Afrikaner überhaupt – in der Paulskirche in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet werden sollte. Während drinnen die Gäste Platz nahmen und der wunderschönen gelehrten Laudatio von François Bondy lauschten, protestierten draussen Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Auf deren Flugblatt hiess es: „Wir werden der philosophierenden Charaktermaske des französischen Imperialismus, der mit Goethe im Kopf und dem Maschinengewehr in der Hand die ausgebeuteten Massen seines Volkes unterdrückt, den Weg in die Paulskirche versperren.“ Von den Unruhen in Senegal sprach Bondy in seiner Rede nicht, er würdigte feinsinnig den „königlichen Präsidenten“, der sich doch eigentlich als Sozialist verstand, und sprach kenntnisreich über die Négritude, die von Senghor immer in Verbindung mit métissage (Hybridität) als einer Misch- und Weltkultur gedacht worden sei.
Bei aller verständlichen Kritik des SDS sprach wohl auch die Wut enttäuschter Liebe, wenn auf dem Flugblatt weiter vom „lyrisierenden Geschwätz“ Senghors die Rede war, „das die Mystik von Blut und Boden als schwarze Kultur verkauft“.
Die Négritude sah sich immer zwei, einander eigentlich ausschliessenden Vorwürfen ausgesetzt: Sie würde sich zu sehr an Europa orientieren und sie sei zu essentialistisch. Diese Kritik fand sich schon an der Conference of African writers of English Expression, die im Juni 1962 am Makarere College in Kampala in Uganda stattfand, und an der unter anderem Chinua Achebe, Wole Soyinka, Ezekiel Mphahlele, Lewis Nkosi, Ngũgĩ wa Thiong’o und Rajat Neogy teilnahmen. Zentrale Fragen der Konferenz waren: Was ist afrikanische Literatur? Ist es Literatur, die von Afrikanern geschrieben wird oder die afrikanische Erfahrung beschreibt? Muss afrikanische Literatur in afrikanischen Sprachen geschrieben werden?
Im Grunde ging es um die Frage, ob afrikanische Literatur Teil einer (englischsprachigen) Weltliteratur sein oder einen eigenen Weg finden wollte, wobei die Négritude, die in geschliffenem Französisch die Schönheit des alten sinnlichen Afrikas pries, bereits als überholt galt. Aber auch Amos Tutuolas in wüstem Pidgin geschriebene, ebenso wüste Geschichte über die Reise eines versoffenen Palmweintrinkers in die Totenstadt fiel an der Konferenz durch. Gleichwohl zielten die versammelten Autoren auf eine Zurückweisung westlicher Überlegenheit und Dominanz, auf die positive Formulierung einer afrikanischen Persönlichkeit, genau auf die Fragen also, mit denen sich auch die Négritude befasste: Wie ist Differenz ohne hierarchische Abwertung zu denken?
Später fand Wole Soyinka, einer der schärfsten Kritiker, denn auch versöhnende Worte, indem er die Négritude historisierte und auf die unterschiedlichen Erfahrungen unter britischer und französischer Kolonialherrschaft hinwies. Aber Senghor ging es um etwas Allgemeingültiges. In seiner Dankesrede in der Paulskirche sagte er,
…daß die heutige Feier etwas Merkwürdiges an sich hat. Da geben Sie den Friedenspreis einem ehemaligen Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht, einen Preis, der immerhin als literarischer Preis gemeint ist, einem alten Vorkämpfer der Négritude, der kulturellen und politischen Eigenständigkeit des Negertums. Eine wahrhaft merkwürdige Feier, die doch so gut unsere Zeit der Gewalt und Verwirrung und zugleich der anbrechenden Morgendämmerung und Klarheit kennzeichnet, diese zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die wir gemeinsam erleben. Seltsam also und doch bezeichnend und nicht ohne Sinn. Denn auch in den Kriegsgedichten dieses Dichters und Gefangenen werden Sie kein Wort des Hasses gefunden haben. Und jener Vorkämpfer des Negertums legte großen Wert darauf, zugleich auch ein Vorkämpfer der künftigen Weltkultur zu sein.
Ein selbstbewusster Dank.
Für Wilder liegen die Relevanz und die Grösse der beiden Politiker-Poeten darin, dass ihr Denken nicht in einer vermeintlichen Opposition von Widerstand oder Assimilation aufgeht. Und mehr noch, sie beanspruchten nicht nur einen Platz für ihre Länder neben Frankreich, sondern Frankreichs Erbe, die Französische Revolution und die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation für Afrika, die Antillen und für alle kolonisierten Völker. Und sie zeigten gleichzeitig, welchen bedeutenden Beitrag ebendiese Völker zur Weltzivilisation geleistet haben und leisten können.
Für Wilder sind die Freunde Senghor und Césaire Denker von welthistorischem Format, weil sie in einem entscheidenden historischen Moment, nämlich am Vorabend der Dekolonisierung, die Welt global denken konnten. Diese Aufgabe stellt sich heute immer noch.