In Kolumbien hat eine neue Geschichtsschreibung begonnen. Als erste schwarze Frau wurde Francia Marquez zur Vizepräsidentin der ersten linken Regierung des Landes gewählt. Sie verkörpert den Kampf gegen Rassismus, Klassismus und Korruption und spricht die Sprache der Marginalisierten.

  • Silke Oldenburg

    Silke Oldenburg unterrichtet als Sozialanthropologin an der Universität Basel. Ihre Forschung untersucht die sozialen und politischen Dimensionen von Urbanisierung, Umwelt und bewaffnetem Konflikt in Kolumbien und der Demokratischen Republik Kongo.
  • Melanie Sampayo Vidal

    Melanie Sampayo Vidal doktoriert und unterrichtet seit 2018 am Zentrum für Afrikastudien an der Universität Basel. In ihrer Forschung interessiert sie sich für Narrative, Erinnerungen und Selbstkonstruktion von Theaterschaffenden in Mali. Ein Teil ihrer Familie lebt in Kolumbien.

Die kolum­bia­ni­sche Bevöl­ke­rung hat gewählt: Am Sonntag, 19. Juni 2022 setzt sich mit histo­ri­scher 58% Wahl­be­tei­li­gung Gustavo Petro, ein ehema­liger Gueril­la­kämpfer und Bürger­meister von Bogota, bei den Präsi­dent­schafts­wahlen gegen seinen konser­va­tiven Gegner durch. Nicht nur die Wahl Petros zum ersten linken Präsi­denten ist histo­risch, auch die desi­gnierte Vize­prä­si­dentin, die afro­ko­lum­bia­ni­sche Akti­vistin Francia Márquez, verkör­pert einen Wandel für das seit Jahr­zehnten durch soziale Ungleich­heit, struk­tu­rellen Rassismus, Diskri­mi­nie­rung und Armut geprägte Kolumbien

Eine neue Geschichtsschreibung

Auf Twitter schrieb die vier­zig­jäh­rige Márquez direkt nach dem Wahl­sieg des Bünd­nisses “Pacto Histo­rico”: “Dieser Sieg ist für unsere Groß­el­tern, Frauen, Jungen, LGTBIQ+, Indi­gene, Bauern, Arbeiter, Opfer, mein schwarzes Volk, die Wider­stand leis­teten und nicht mehr sind… für ganz Kolum­bien. Heute beginnen wir eine neue Geschichtsschreibung!“

Gustavo Petro und Francia Marquez sind die Gesichter der ersten linken Regie­rung Kolum­biens. Quelle: facebook

Diese neue Geschichts­schrei­bung, die sich aus dem Erfolg des Duos Petro und Márquez ergeben könnte, ist Ergebnis der Frus­tra­tionen und Hoff­nungen vieler Menschen am Rande. Das Frie­dens­ab­kommen zwischen Regie­rung und der größten Gueril­la­gruppe FARC im Jahre 2016 brachte zwar Verän­de­rungen mit sich, doch trotz wirt­schaft­li­cher Fort­schritte und einer Öffnung für den Tourismus nach sechs Jahr­zehnten bewaff­neten Konflikts, herrscht in Kolum­bien nach wie vor große Ungleich­heit. Dieser Trend hat sich während der Covid-19-Pandemie weiter verschärft und mündete in verbrei­teten Unruhen in Kolum­biens Metro­polen. Die Proteste von 2019 und 2021 wandten sich vor allem gegen ein poli­ti­sches Estab­lish­ment, das die Erwar­tungen an den Frie­dens­pro­zess von 2016 enttäuscht hat. Die Mehr­heit der Menschen – beson­ders die Jungen und Margi­na­li­sierten – fühlten, dass die Politik ihnen sowie der Gerech­tig­keit und dem Frieden den Rücken gekehrt hat. Die Frus­tra­tion über anhal­tende Menschen­rechts­ver­let­zungen, Korrup­ti­ons­skan­dale und enttäuschte Erwar­tungen an den Frie­dens­pro­zess entluden sich zuerst auf der Straße und nun auch an den Wahlurnen.

Neben Gustavo Petro, der seit vielen Jahren fester Bestand­teil der poli­ti­schen Land­schaft Kolum­biens ist – als ehema­liges Mitglied der Rebel­len­or­ga­ni­sa­tion M-19 in den 1980er Jahren sowie Stationen als Botschafter in Belgien, als Bürger­meister von Bogota und lang­jäh­riger Abge­ord­neter – verkör­pert Francia Márquez den tief­grei­fenden Wandel des Landes. Die poli­ti­sche Newco­merin hingegen wird die erste afro­ko­lum­bia­ni­sche Vize­prä­si­dentin des südame­ri­ka­ni­schen Landes sein.

Meilen­steine auf dem Weg zur Vizepräsidentschaft

Márquez musste gewal­tige Hinder­nisse über­winden, um in der elitären poli­ti­schen Welt Kolum­biens Fuß zu fassen. Diese liegt tradi­tio­nell in den Händen von Männern, die den reichen, weißen und städ­ti­schen Eliten ange­hören. Wenig in Márquez’ Vergan­gen­heit deutet darauf hin, dass sie eine poli­ti­sche Karriere anstreben würde. Ihr Profil, ihre Herkunft und ihr Sprach­ge­brauch unter­scheiden sich funda­mental von all ihren Vorgänger*innen im Amt. Auch wenn sie nicht die erste Frau ist, die in Kolum­bien die Vize­prä­si­dent­schaft innehat – Vize­prä­si­dentin ist momentan Marta Lucia Ramirez –, ist sie die erste Afro­ko­lum­bia­nerin in diesem Amt. In ihrem Wahl­kampf waren es vor allem ihre Botschaft der Diver­sität und der Kampf gegen die syste­ma­ti­sche Diskri­mi­nie­rung von ethni­schen Gemein­schaften, insbe­son­dere der schwarzen und indi­genen Bevöl­ke­rung, mit denen Márquez viele Menschen errei­chen konnte. Ihr Kampf gegen struk­tu­rellen Rassismus, für die Gleich­stel­lung von Frauen und Männern sowie die Aner­ken­nung sexu­eller Viel­falt bildeten der Kern ihrer Wahl­kampf­themen, die nun im Zentrum des neu zu schaf­fenden Minis­te­riums für Gleich­be­rech­ti­gung stehen sollen. Das Ziel dieses Minis­te­riums ist es, die sozialen Unter­schiede zu verrin­gern, die Kolum­bien zu einem der ungleichsten Länder Latein­ame­rikas machen.

Uner­müd­li­cher Einsatz für den Umweltschutz

Francia Márquez zeichnet ihre beschei­dene Herkunft aus. Sie wuchs in der länd­li­chen Gemeinde Yolombó im Bezirk La Toma auf. La Toma liegt in den Cauca-Bergen im Südwesten Kolum­biens nahe der dritt­größten kolum­bia­ni­schen Stadt Cali. Im 17. Jahr­hun­dert wurden Menschen aus Afrika in diese Region verschleppt, um als Versklavte Bergbau und Land­wirt­schaft für das kolo­niale Ausbeu­tungs­system der Spanier zu betreiben. Auch heute noch lebt in dieser Region eine Vier­tel­mil­lion Menschen afri­ka­ni­scher Abstam­mung, die seit Gene­ra­tionen Land­wirt­schaft und hand­werk­li­chen Bergbau an den Ufern des Flusses Ovejas betreibt. Der ille­gale Gold­abbau in dieser Region ist ein wach­sendes Problem, das mit extremer Armut der lokalen Bevöl­ke­rung und bewaff­neten Konflikten um die begehrten Ressourcen durch bewaff­nete Akteure und multi­na­tio­nale Firmen geprägt ist. Es wird geschätzt, dass 80% des Goldes illegal abge­baut wird, was verhee­rende Auswir­kungen auf die Umwelt hat, wie zum Beispiel die Abhol­zung der Wälder und die Verschmut­zung der Wasser­quellen, wodurch Fische und Menschen fluss­ab­wärts vergiftet werden. 

La Toma liegt in der Suarez Gemeinde in den Cauca Bergen. Das Gebiet ist geprägt von ille­galem Gold­abbau und Umwelt­zer­stö­rung. Quelle: tierraderesistentes

2009 stellten die Behörden ein Projekt zur Umlei­tung des Flusses Ovejas vor, wo auch Francia Márquez, wie viele andere Menschen in der Region, nach Gold gesucht hatte, um zu über­leben. Außerdem vergaben die Behörden Schürf­rechte an mehrere multi­na­tio­nale Unter­nehmen, wodurch die örtliche Bevöl­ke­rung ihre Lebens­grund­lage verlor. Gegen diese Margi­na­li­sie­rung und poli­ti­sche Ausgren­zung setzte sich Márquez zur Wehr. In ihrer Wahl­kampf­ab­schluss­rede am 22. Mai sagte sie kämp­fe­risch: „Mir wurde beigebracht, dass ich ein Nach­komme von Sklaven bin. Sie haben mir nicht beigebracht, dass ich von freien Menschen abstamme, die versklavt wurden.”

Ihren Einsatz für umwelt­po­li­ti­sche Fragen begann Márquez bereits als Jugend­liche. Landes­weite Aufmerk­sam­keit erhielt sie, als sie 2014 in Absprache mit dem UN-Hochkommissar für Kolum­bien einen zehn­tä­gigen Marsch von Frauen aus den Cauca-Bergen nach Bogota orga­ni­sierte. Dieser Marsch machte landes­weit auf die ökolo­gi­sche und soziale Zerstö­rung aufmerksam, die der ille­gale Bergbau in La Toma und anderen Gemeinden in der Cauca-Region verur­sacht. Diese Mobi­li­sie­rung führte dazu, dass der Oberste Gerichtshof Kolum­biens die Umlei­tung des Flusses Ovejas stoppte, den multi­na­tio­nale Unter­nehmen durch­setzen wollten. Für ihren mutigen Kampf erhielt Márquez 2018 den renom­mierten Goldman-Preis, der als Umwelt­no­bel­preis ange­sehen wird.

Doch Aktivist*innen leben in Kolum­bien gefähr­lich. Seit dem Frie­dens­ab­kommen 2016 wurden über 1000 soziale Führungs­per­sön­lich­keiten ermordet. Auch auf Francia Márquez wurde ein Attentat verübt, das sie zwang, aus ihrer länd­li­chen Gemeinde in die Stadt zu fliehen. Die Wahl Kamala Harris zur ersten schwarzen US-amerikanischen Vize-Präsidentin nutzte Márquez, um in einem offenen Brief auf die Lage der indi­genen und afro­ko­lum­bia­ni­schen Bevöl­ke­rung in Kolum­bien aufmerksam zu machen. In eindring­li­chen Worten äußerte Márquez ihre tiefe Besorgnis über den struk­tu­rellen Rassismus, die anhal­tende Ermor­dung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Aktivist*innen, die Ausbeu­tung der Umwelt sowie die Bruta­lität der Polizei und der Regierung.

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Francia Márquez – das Gesicht der Niemande

Als preis­ge­krönte Menschenrechts- und Umwelt­ak­ti­vistin ist Francia Márquez inner­halb weniger Monate zu einem natio­nalen Phänomen geworden. Bei den landes­weiten Vorwahlen im Präsi­dent­schafts­wahl­kampf im März 2022 wurde sie die dritt­stärkste Kandi­datin aller Parteien, was Gustavo Petro letzt­lich veran­lasste, sie als Kandi­datin für die Vize­prä­si­dent­schaft in sein Team „Histo­ri­scher Pakt” aufzunehmen.

Ein wich­tiges Merkmal von Márquez ist ihr Sprach­ge­brauch. Als sie 2020 beschloss, in die Politik zu gehen, war es ihr Ziel, als Sprach­rohr der „Niemande” aufzu­treten: „Los y las nadies”, die Unsicht­baren, die Verges­senen und Macht­losen, die weit entfernt von den Zentren der Macht und des Wohl­standes leben und sich ausge­schlossen fühlen. Ihr Slogan „Vivir Sabroso” ist ein Leit­spruch, der sich an das bekannte Konzept des „Buen Vivir” („gutes Leben“) anlehnt, welches in zahl­rei­chen südame­ri­ka­ni­schen Ländern als neue Denk­weise Eingang in die Politik und teil­weise in die Verfas­sung gefunden hat und sich durch gemein­schafts­ori­en­tiertes, kultur­sen­si­bles und ökolo­gisch verant­wort­li­ches Denken und Handeln auszeichnet. 

Dieses Konzept des Gemein­schafts­wohls, bei dem es darum geht, das Indi­vi­duum inner­halb einer Gemein­schaft und in Bezug auf eine bestimmte kultu­relle und natür­liche Umge­bung zu sehen, drückt sich im zweiten Wahl­spruch „Soy porque Somos” aus. Dieser Ausspruch leitet sich vom Konzept Ubuntu ab, welches insbe­son­dere im südli­chen Afrika in den Nguni-Sprachen, aber auch in ähnli­cher Form in anderen Spra­chen des subsa­ha­ri­schen Afrikas gebraucht wird. Ubuntu bezieht sich auf die univer­selle Verbin­dung der gesamten Mensch­heit und betont das Ideal der Zusam­men­ar­beit und Gleich­heit aller.

Inklu­sion wurde zum zentralen Thema von Márquez’ Wahl­kam­pagne. Die Tatsache, dass Francia Márquez aus der Zivil­ge­sell­schaft und nicht aus der tradi­tio­nellen poli­ti­schen Elite stammt, ist für dieje­nigen Kolum­bia­ne­rinnen und Kolum­bianer ein Plus­punkt, die nach Jahr­zehnten von Still­stand einen Wandel und tief­grei­fende gesell­schaft­liche Verän­de­rungen erhoffen. Insbe­son­dere für eine neue Gene­ra­tion von jungen Wähler*innen avan­cierte Márquez zu einem Symbol des Wandels. Ihr Wahl­kampf für die vielen „Niemande” und gegen das konser­va­tive tradi­tio­nelle poli­ti­sche Estab­lish­ment markiert diesen Wende­punkt in Kolumbien.

Unfähig zu regieren?

Francia Marquez bedankt sich bei ihren Unterstützer*innen: „Danke dass ihr die Saat der Hoff­nung gesät habt.“ Quelle: facebook

Márquez, die noch nie ein gewähltes Amt inne­hatte, wird nun die erste schwarze Vize­prä­si­dentin Kolum­biens. Im Alter von 16 Jahren war sei eine allein­er­zie­hende Mutter und hat seit ihrer Jugend als Gold­schürferin und als Haus­an­ge­stellte gear­beitet. Erst 2020 konnte sie ein Studium der Rechts­wis­sen­schaften abschließen. Die häufigste Kritik, die in den kolum­bia­ni­schen Medien geäu­ßert wird, lautet, dass sie zwar ihre Quali­täten als Führungs­per­sön­lich­keit unter Beweis gestellt habe, es ihr aber an Regie­rungs­er­fah­rung mangele. Wort­ge­wandt und selbst­be­wusst antwortet Márquez auf die diversen Belei­di­gungen und Kritiken, die sie im Wahl­kampf erhielt: „Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, würde ich jetzt in der Küche einer reichen Familie abwa­schen.” Sie schluss­fol­gert, dass es logi­scher­weise die Elite beun­ru­hige, wenn eine ehema­lige Haus­an­ge­stellte ihre zukünf­tige Vize­prä­si­dentin sein wird.

Die Präsi­dent­schafts­wahlen haben einen Wechsel einge­läutet: Gustavo Petro und Francia Márquez reprä­sen­tierten den Wunsch derje­nigen Kolum­bia­ne­rinnen und Kolum­bianer, die nach Verän­de­rungen und einer viel­fäl­tigen Reprä­sen­ta­tion eines sehr diversen Landes rufen. Von nun an müssen sowohl Gustavo Petro als auch Francia Márquez ihre Ideen zur Bekämp­fung der Ungleich­heit in den Insti­tu­tionen verwirk­li­chen und versu­chen, die hohen Erwar­tungen ihrer Anhän­ger­schaft nicht zu enttäu­schen. Die Frage, ob der Rest des Landes bereit für dieses Bündnis ist, wird sich zeigen.