Die kolumbianische Bevölkerung hat gewählt: Am Sonntag, 19. Juni 2022 setzt sich mit historischer 58% Wahlbeteiligung Gustavo Petro, ein ehemaliger Guerillakämpfer und Bürgermeister von Bogota, bei den Präsidentschaftswahlen gegen seinen konservativen Gegner durch. Nicht nur die Wahl Petros zum ersten linken Präsidenten ist historisch, auch die designierte Vizepräsidentin, die afrokolumbianische Aktivistin Francia Márquez, verkörpert einen Wandel für das seit Jahrzehnten durch soziale Ungleichheit, strukturellen Rassismus, Diskriminierung und Armut geprägte Kolumbien
Eine neue Geschichtsschreibung
Auf Twitter schrieb die vierzigjährige Márquez direkt nach dem Wahlsieg des Bündnisses “Pacto Historico”: “Dieser Sieg ist für unsere Großeltern, Frauen, Jungen, LGTBIQ+, Indigene, Bauern, Arbeiter, Opfer, mein schwarzes Volk, die Widerstand leisteten und nicht mehr sind… für ganz Kolumbien. Heute beginnen wir eine neue Geschichtsschreibung!“

Gustavo Petro und Francia Marquez sind die Gesichter der ersten linken Regierung Kolumbiens. Quelle: facebook
Diese neue Geschichtsschreibung, die sich aus dem Erfolg des Duos Petro und Márquez ergeben könnte, ist Ergebnis der Frustrationen und Hoffnungen vieler Menschen am Rande. Das Friedensabkommen zwischen Regierung und der größten Guerillagruppe FARC im Jahre 2016 brachte zwar Veränderungen mit sich, doch trotz wirtschaftlicher Fortschritte und einer Öffnung für den Tourismus nach sechs Jahrzehnten bewaffneten Konflikts, herrscht in Kolumbien nach wie vor große Ungleichheit. Dieser Trend hat sich während der Covid-19-Pandemie weiter verschärft und mündete in verbreiteten Unruhen in Kolumbiens Metropolen. Die Proteste von 2019 und 2021 wandten sich vor allem gegen ein politisches Establishment, das die Erwartungen an den Friedensprozess von 2016 enttäuscht hat. Die Mehrheit der Menschen – besonders die Jungen und Marginalisierten – fühlten, dass die Politik ihnen sowie der Gerechtigkeit und dem Frieden den Rücken gekehrt hat. Die Frustration über anhaltende Menschenrechtsverletzungen, Korruptionsskandale und enttäuschte Erwartungen an den Friedensprozess entluden sich zuerst auf der Straße und nun auch an den Wahlurnen.
Neben Gustavo Petro, der seit vielen Jahren fester Bestandteil der politischen Landschaft Kolumbiens ist – als ehemaliges Mitglied der Rebellenorganisation M-19 in den 1980er Jahren sowie Stationen als Botschafter in Belgien, als Bürgermeister von Bogota und langjähriger Abgeordneter – verkörpert Francia Márquez den tiefgreifenden Wandel des Landes. Die politische Newcomerin hingegen wird die erste afrokolumbianische Vizepräsidentin des südamerikanischen Landes sein.
Meilensteine auf dem Weg zur Vizepräsidentschaft
Márquez musste gewaltige Hindernisse überwinden, um in der elitären politischen Welt Kolumbiens Fuß zu fassen. Diese liegt traditionell in den Händen von Männern, die den reichen, weißen und städtischen Eliten angehören. Wenig in Márquez’ Vergangenheit deutet darauf hin, dass sie eine politische Karriere anstreben würde. Ihr Profil, ihre Herkunft und ihr Sprachgebrauch unterscheiden sich fundamental von all ihren Vorgänger*innen im Amt. Auch wenn sie nicht die erste Frau ist, die in Kolumbien die Vizepräsidentschaft innehat – Vizepräsidentin ist momentan Marta Lucia Ramirez –, ist sie die erste Afrokolumbianerin in diesem Amt. In ihrem Wahlkampf waren es vor allem ihre Botschaft der Diversität und der Kampf gegen die systematische Diskriminierung von ethnischen Gemeinschaften, insbesondere der schwarzen und indigenen Bevölkerung, mit denen Márquez viele Menschen erreichen konnte. Ihr Kampf gegen strukturellen Rassismus, für die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Anerkennung sexueller Vielfalt bildeten der Kern ihrer Wahlkampfthemen, die nun im Zentrum des neu zu schaffenden Ministeriums für Gleichberechtigung stehen sollen. Das Ziel dieses Ministeriums ist es, die sozialen Unterschiede zu verringern, die Kolumbien zu einem der ungleichsten Länder Lateinamerikas machen.
Unermüdlicher Einsatz für den Umweltschutz
Francia Márquez zeichnet ihre bescheidene Herkunft aus. Sie wuchs in der ländlichen Gemeinde Yolombó im Bezirk La Toma auf. La Toma liegt in den Cauca-Bergen im Südwesten Kolumbiens nahe der drittgrößten kolumbianischen Stadt Cali. Im 17. Jahrhundert wurden Menschen aus Afrika in diese Region verschleppt, um als Versklavte Bergbau und Landwirtschaft für das koloniale Ausbeutungssystem der Spanier zu betreiben. Auch heute noch lebt in dieser Region eine Viertelmillion Menschen afrikanischer Abstammung, die seit Generationen Landwirtschaft und handwerklichen Bergbau an den Ufern des Flusses Ovejas betreibt. Der illegale Goldabbau in dieser Region ist ein wachsendes Problem, das mit extremer Armut der lokalen Bevölkerung und bewaffneten Konflikten um die begehrten Ressourcen durch bewaffnete Akteure und multinationale Firmen geprägt ist. Es wird geschätzt, dass 80% des Goldes illegal abgebaut wird, was verheerende Auswirkungen auf die Umwelt hat, wie zum Beispiel die Abholzung der Wälder und die Verschmutzung der Wasserquellen, wodurch Fische und Menschen flussabwärts vergiftet werden.

La Toma liegt in der Suarez Gemeinde in den Cauca Bergen. Das Gebiet ist geprägt von illegalem Goldabbau und Umweltzerstörung. Quelle: tierraderesistentes
2009 stellten die Behörden ein Projekt zur Umleitung des Flusses Ovejas vor, wo auch Francia Márquez, wie viele andere Menschen in der Region, nach Gold gesucht hatte, um zu überleben. Außerdem vergaben die Behörden Schürfrechte an mehrere multinationale Unternehmen, wodurch die örtliche Bevölkerung ihre Lebensgrundlage verlor. Gegen diese Marginalisierung und politische Ausgrenzung setzte sich Márquez zur Wehr. In ihrer Wahlkampfabschlussrede am 22. Mai sagte sie kämpferisch: „Mir wurde beigebracht, dass ich ein Nachkomme von Sklaven bin. Sie haben mir nicht beigebracht, dass ich von freien Menschen abstamme, die versklavt wurden.”
Ihren Einsatz für umweltpolitische Fragen begann Márquez bereits als Jugendliche. Landesweite Aufmerksamkeit erhielt sie, als sie 2014 in Absprache mit dem UN-Hochkommissar für Kolumbien einen zehntägigen Marsch von Frauen aus den Cauca-Bergen nach Bogota organisierte. Dieser Marsch machte landesweit auf die ökologische und soziale Zerstörung aufmerksam, die der illegale Bergbau in La Toma und anderen Gemeinden in der Cauca-Region verursacht. Diese Mobilisierung führte dazu, dass der Oberste Gerichtshof Kolumbiens die Umleitung des Flusses Ovejas stoppte, den multinationale Unternehmen durchsetzen wollten. Für ihren mutigen Kampf erhielt Márquez 2018 den renommierten Goldman-Preis, der als Umweltnobelpreis angesehen wird.
Doch Aktivist*innen leben in Kolumbien gefährlich. Seit dem Friedensabkommen 2016 wurden über 1000 soziale Führungspersönlichkeiten ermordet. Auch auf Francia Márquez wurde ein Attentat verübt, das sie zwang, aus ihrer ländlichen Gemeinde in die Stadt zu fliehen. Die Wahl Kamala Harris zur ersten schwarzen US-amerikanischen Vize-Präsidentin nutzte Márquez, um in einem offenen Brief auf die Lage der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung in Kolumbien aufmerksam zu machen. In eindringlichen Worten äußerte Márquez ihre tiefe Besorgnis über den strukturellen Rassismus, die anhaltende Ermordung zivilgesellschaftlicher Aktivist*innen, die Ausbeutung der Umwelt sowie die Brutalität der Polizei und der Regierung.
Francia Márquez – das Gesicht der Niemande
Als preisgekrönte Menschenrechts- und Umweltaktivistin ist Francia Márquez innerhalb weniger Monate zu einem nationalen Phänomen geworden. Bei den landesweiten Vorwahlen im Präsidentschaftswahlkampf im März 2022 wurde sie die drittstärkste Kandidatin aller Parteien, was Gustavo Petro letztlich veranlasste, sie als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft in sein Team „Historischer Pakt” aufzunehmen.
Ein wichtiges Merkmal von Márquez ist ihr Sprachgebrauch. Als sie 2020 beschloss, in die Politik zu gehen, war es ihr Ziel, als Sprachrohr der „Niemande” aufzutreten: „Los y las nadies”, die Unsichtbaren, die Vergessenen und Machtlosen, die weit entfernt von den Zentren der Macht und des Wohlstandes leben und sich ausgeschlossen fühlen. Ihr Slogan „Vivir Sabroso” ist ein Leitspruch, der sich an das bekannte Konzept des „Buen Vivir” („gutes Leben“) anlehnt, welches in zahlreichen südamerikanischen Ländern als neue Denkweise Eingang in die Politik und teilweise in die Verfassung gefunden hat und sich durch gemeinschaftsorientiertes, kultursensibles und ökologisch verantwortliches Denken und Handeln auszeichnet.
Dieses Konzept des Gemeinschaftswohls, bei dem es darum geht, das Individuum innerhalb einer Gemeinschaft und in Bezug auf eine bestimmte kulturelle und natürliche Umgebung zu sehen, drückt sich im zweiten Wahlspruch „Soy porque Somos” aus. Dieser Ausspruch leitet sich vom Konzept Ubuntu ab, welches insbesondere im südlichen Afrika in den Nguni-Sprachen, aber auch in ähnlicher Form in anderen Sprachen des subsaharischen Afrikas gebraucht wird. Ubuntu bezieht sich auf die universelle Verbindung der gesamten Menschheit und betont das Ideal der Zusammenarbeit und Gleichheit aller.
Inklusion wurde zum zentralen Thema von Márquez’ Wahlkampagne. Die Tatsache, dass Francia Márquez aus der Zivilgesellschaft und nicht aus der traditionellen politischen Elite stammt, ist für diejenigen Kolumbianerinnen und Kolumbianer ein Pluspunkt, die nach Jahrzehnten von Stillstand einen Wandel und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen erhoffen. Insbesondere für eine neue Generation von jungen Wähler*innen avancierte Márquez zu einem Symbol des Wandels. Ihr Wahlkampf für die vielen „Niemande” und gegen das konservative traditionelle politische Establishment markiert diesen Wendepunkt in Kolumbien.
Unfähig zu regieren?

Francia Marquez bedankt sich bei ihren Unterstützer*innen: „Danke dass ihr die Saat der Hoffnung gesät habt.“ Quelle: facebook
Márquez, die noch nie ein gewähltes Amt innehatte, wird nun die erste schwarze Vizepräsidentin Kolumbiens. Im Alter von 16 Jahren war sei eine alleinerziehende Mutter und hat seit ihrer Jugend als Goldschürferin und als Hausangestellte gearbeitet. Erst 2020 konnte sie ein Studium der Rechtswissenschaften abschließen. Die häufigste Kritik, die in den kolumbianischen Medien geäußert wird, lautet, dass sie zwar ihre Qualitäten als Führungspersönlichkeit unter Beweis gestellt habe, es ihr aber an Regierungserfahrung mangele. Wortgewandt und selbstbewusst antwortet Márquez auf die diversen Beleidigungen und Kritiken, die sie im Wahlkampf erhielt: „Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, würde ich jetzt in der Küche einer reichen Familie abwaschen.” Sie schlussfolgert, dass es logischerweise die Elite beunruhige, wenn eine ehemalige Hausangestellte ihre zukünftige Vizepräsidentin sein wird.
Die Präsidentschaftswahlen haben einen Wechsel eingeläutet: Gustavo Petro und Francia Márquez repräsentierten den Wunsch derjenigen Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die nach Veränderungen und einer vielfältigen Repräsentation eines sehr diversen Landes rufen. Von nun an müssen sowohl Gustavo Petro als auch Francia Márquez ihre Ideen zur Bekämpfung der Ungleichheit in den Institutionen verwirklichen und versuchen, die hohen Erwartungen ihrer Anhängerschaft nicht zu enttäuschen. Die Frage, ob der Rest des Landes bereit für dieses Bündnis ist, wird sich zeigen.