
Das akademische Zeitschriftenarchiv jstor.com verzeichnet 61’654 Artikel, Rezensionen und Buchkapitel, die „Michel Foucault“ zumindest erwähnen. Martin Heidegger erreicht hier mit 24‘700 Nennungen nicht einmal die Hälfte dieses Werts. Etwas häufiger – je rund 38‘000 Mal – werden Walter Benjamin und Sigmund Freud genannt, während Jean-Paul Sartre mit rund 22‘000 Einträgen schon deutlich weniger oft zitiert oder diskutiert wird, gefolgt zum Beispiel von Simone de Beauvoir mit etwa 15’000 und Ludwig Wittgenstein mit 13’000 Nennungen.
Ähnliches zeigt sich im Netz: Google meldet für Foucault knapp 8 Millionen Suchresultate (Heidegger erreicht 4,9 Millionen, Wittgenstein 2,6). Geschlagen wird er nur von Simone de Beauvoir mit rund 8,5 Millionen Google-Hits. Trotz dieser aussagekräftigen Zahlen bleibt Michel Foucaults dominante Präsenz in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen und aktivistischen Diskursen eigentlich ein Rätsel: Wie hat er das bloß geschafft?
Der Sohn eines Chirurgen
Ein Teil der Antwort liegt im Zufall seiner Geburt als Sohn einer standesbewussten Arztfamilie in Poitiers. Es war eine sehr bürgerliche und sehr katholische Welt, in der Foucault aufwuchs, aber auch eine bildungsstolze Welt des Wissens, die er später in seiner eigenen schrankenlosen Gelehrsamkeit auf seine Art repräsentierte. Genauer noch: Foucaults eigenem Zeugnis zufolge hatte sein Schreiben und seine Theorie der Diskurse, mit der er fast eigenhändig die Geisteswissenschaften revolutionierte, direkt mit dem Beruf seines Vaters zu tun. In einem 1968 geführten Interview bemerkte er, „vermutlich“ habe er das Skalpell seines Vaters für sich selbst „zum Federhalter gemacht“ und ziehe nun auf dem Papier „dieselben aggressiven Zeichen“, die „mein Vater in den Körper der anderen schnitt“.
Foucault arbeitete damals gerade an einem Buch, das die Regeln des Sprechens untersuchte, die sich auf keine angebliche Autorintention zurückführen lassen. Umso paradoxer erscheint es, dass er sich auf seine eigene Biographie bezog. „Ich weiß ganz genau“, bemerkte er daher, „dass ich Ihnen alle diese Dinge nicht sagen sollte“ – aber er sagte sie trotzdem, weil sie einen zentralen Punkt berührten: Foucault war ein „kalter“ Analytiker, dessen Gegenstände „tot“ zu sein hatten, die er „aufschneiden“ wollte wie ein Anatom, um analytisch den „Herd des Übels“ freizulegen.
Diese analytische Kälte war allerdings nicht allein ein väterliches Erbe. Der Zufall der Geburt am 15. Oktober 1926 machte Foucault in den späten 1940er und frühen 50er Jahren in Paris auch zum Angehörigen einer Generation junger Intellektueller, die vom Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und der „strukturalen“ Psychoanalyse Jacques Lacans fasziniert waren. In beiden Fällen ging es nicht um das hermeneutische Verstehen von Sinn, sondern um die Analyse von anonymen sprachlichen Strukturen, die die Entstehung von Sinn erst ermöglichen. Foucault wahrte zwar immer seine Distanz zum Strukturalismus. Er interessierte sich nicht für die Sprachzeichen, die Signifikanten, die nach strukturalistischer Auffassung die Welt als Wahrnehmbare strukturieren, sondern allein für die Signifikate, mithin das „Gemeinte“, das Ausgesagte. Das hieß für ihn, dass er nicht, wie etwa Jacques Derrida, die Vieldeutigkeiten der Sprache in den Blick nahm, sondern die kompakten Aussagebündel von Diskursen, die er gleichsam Schicht um Schicht analysierte – eben genauso, wie der Anatom im toten Körper die „Häute und Schichten abhebt“.
„Wir kalten Systematiker“
Das änderte allerdings nichts daran, dass Foucault 1966 mit seinem monumentalen Buch Les mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge) von den Medien zum neuen Star des Strukturalismus erklärt wurde. Auch wenn das ein Missverständnis war, so war zumindest richtig, dass er in ganz neuartiger Weise die epochenspezifischen „Wissensordnungen“ untersuchte, die so unterschiedlichen Wissenschaften wie der Linguistik, der Biologie oder den Wirtschaftswissenschaften gemeinsame Formationsregeln von Wissen und Wahrheit aufprägten.
Mit der These, dass Diskurse und ganze Wissensordnungen nach ihren eigenen, historisch variablen Regeln funktionierten, und die seither zur Grundlage vieler Forschungsprogramme in den Geistes- und Sozialwissenschaften geworden ist, untergrub Foucault zwar nicht als einziger, aber wahrscheinlich als einflussreichster Philosoph den illusionären Glauben an überzeitliche, von jeder menschlichen Aktivität unabhängige Wahrheiten. Man hat dieses Untergraben ewiger Wahrheiten „postmodern“ genannt – oder gescholten –, dabei aber übersehen, dass diese epistemologische Position sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts, das heißt seit Nietzsche, Wittgenstein und Heidegger, entwickelt hatte. Und ganz so fern vom Strukturalismus, wie er selbst behauptete, war Foucaults berühmtes Buch auch nicht. In einem Interview bezog er sich auf Lévi-Strauss und Lacan – an anderer Stelle nannte er auch Wittgenstein –, um zu sagen, „das eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt“, sei das „System“, das heißt eine Art Struktur. Daher trügen, zum Beispiel, „in der Biologie die Chromosomen bekanntlich in Form eines Codes, einer verschlüsselten Nachricht, sämtliche Informationen, die für die Entwicklung des jeweiligen Lebewesens erforderlich sind…“
Wieder waren die Naturwissenschaften seine Referenz für sein anti-hermeneutisches Denken, diesmal die Molekularbiologie. Und es war genauso gemeint. Foucault erklärte, es gehe „uns ‚kalten Systematikern’“ darum, „uns endgültig vom Humanismus zu befreien“. Seiner Interviewerin versicherte er im Mai 1966 sogar, dass es „den Angehörigen unserer Generation“ darum gehe zu zeigen, „dass unser Denken, unser Leben und selbst noch die alltäglichsten Formen unseres Daseins Teil derselben systematischen Organisation sind und daher auf denselben Kategorien beruhen wie die wissenschaftliche und technische Welt“.
Wissenschaft und Technik waren in jenen Jahren der Hochkonjunktur noch kaum Gegenstand tiefgreifender und verbreiteter Kritik geworden; Foucault beklagte ganz im Gegenteil den „anthropologischen Schlaf“, in dem die Humanwissenschaften sich befänden, das heißt den Glauben an „den“ Menschen, von dem jede Analyse auszugehen und zu dem jede zurückkehren müsse. Dieser „Schlaf“ sei nicht mehr zeitgemäß, denn angesichts der Fortschritte von Wissenschaft und Technik werde „der“ Mensch verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.
Zeit der Kämpfe
Damit deutet sich schon eine Antwort auf die Frage an, wieso Foucault so überaus berühmt wurde: Er verstand es wie kein anderer, „seine Zeit in Gedanken [zu] erfassen“, wie Hegel das Wesen der Philosophie bestimmt hatte. Er verlieh einigen der avanciertesten Ideen seiner Zeit Ausdruck, blieb gleichzeitig aber ganz eigenständig und wahrte seine Distanz zu vorherrschenden Paradigmen. Aber nicht nur das: Im Februar 1971, nur zwei Monate nach seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, gründete er zusammen mit Gilles Deleuze und anderen die „Groupe d’information sur les prison“ (G.I.P.) und setzte sich in unzähligen Aktionen und Resolutionen für Strafgefangene ein. Er erklärte jetzt, die Geschichte der Denksysteme – so lautete die Denomination des eben für ihn eingerichteten Lehrstuhls – interessiere ihn nicht mehr, und überhaupt habe er das „Büchergekritzel“ satt. In der Zeit nach dem Mai ’68, als die geschlagene Linke sich in kleinen, zersplitterten Gruppen radikalisierte, wurde auch Foucault zum militant, der, ausgerüstet mit einem Megafon, Seite an Seite mit Jean-Paul Sartre auf die Straße ging und sich unter anderem für algerische Arbeiter:innen einsetzte.
Doch während Sartre dabei für die Arbeiterklasse agitierte, setzte sich Foucault für die Algerier:innen als Marginalisierte ein, als Menschen am Rand der französischen Gesellschaft. Die Ausgestoßenen waren schon lange sein Thema. Sein erstes großes Buch, die Histoire de la folie à l’âge classique (dt. Wahnsinn und Gesellschaft) von 1961, handelte davon, wie im 17. und 18. Jahrhundert die aufklärerische Vernunft den Wahnsinn aus dem Kreis des Sagbaren ganz ausgeschlossen hatte und die Psychiatrie die Wahnsinnigen ab 1800 ihren Klassifikationsrastern und institutionellen Praktiken unterwarf.
Diesen Faden nahm er jetzt wieder auf, zum einen in seinen Vorlesungen, zum anderen in Surveiller et Punir. La naissance de la prison von 1975 (dt. Überwachen und Strafen). Die Gedanken, mit denen der Philosoph seine Zeit zu erfassen suchte, waren hier nicht mehr nur kalt, sondern vor allem dunkel. Kühl war zumindest noch die Ausgangsthese: Dass die grausamen öffentlichen Körperstrafen und Hinrichtungen im Ancien Régime sich von den staubtrockenen Gefängnisordnungen des 19. Jahrhunderts und den peniblen Formen der Disziplin auch in Fabriken, Schulen und Kasernen letztlich nur durch das blutige Spektakel unterschieden haben, mit dem das Gesetz des Königs in den Körper des Aufrührers eingeschrieben worden war. Doch humaner, so Foucault, wurde das Gefängnis deswegen nicht. Denn es zielte darauf, im Körper des Delinquenten eine „Seele“ – ein Gewissen, ein Schuldbewusstsein – zu erzeugen und ihn, vollständig diszipliniert, der Arbeit zuzuführen. Die moderne Macht, so Foucaults berühmte Diagnose, ist „produktiv“, sie zerstört die Körper nicht, sondern macht sie „nützlich“. Tiefschwarz war dann die Schlussfolgerung: Die modernen Gesellschaften seien überhaupt zu einem „Kerker-Archipel“ geworden, und wir alle seien Teil der großen Disziplinarmaschine – „jeder ein Rädchen“, wie es am Ende von Überwachen und Strafen heißt.
Mit diesem Buch wurde Foucault in doppelter Weise zu einer Art Generalreferenz für die Linke. Denn zum einen reflektierte Überwachen und Strafen, wie auch schon Wahnsinn und Gesellschaft, die langsame Verschiebung des politischen Fokus der Linken weg vom Proletariat hin zu jenen, die keine „Klasse“ im Marxschen Sinne mehr bildeten, aber die Macht bürgerlicher Normen in aller Härte am eigenen Leib erfuhren. Zum andern aber lieferte das Gefängnis-Buch scharfe Instrumente für die Kritik jener westlichen Gesellschaften, die sich, polizeilich aufgerüstet, auf einen Orwellschen „Big Brother“-Staat zuzubewegen schienen.
Dieses Bild akzentuierte sich noch, als 1976 La Volonté de Savoir (dt. Der Wille zum Wissen) in die Buchhandlungen kam: Foucault konzipierte darin den Zugriff staatlicher Kontrollmacht auf die Körper als „Biopolitik“, die über die Sexualität als dem „Scharnier“ zwischen individuellem Verhalten und Bevölkerungspolitik das Leben selbst produziere und normiere. Jetzt waren es Feministinnen und Aktivist:innen der Homosexuellen, die „ihren“ Foucault entdeckten. Zugleich fand sich – wie bei all seinen Büchern – eine große Zahl von Wissenschaftler:innen, die sich durch seine Thesen aufs Produktivste herausgefordert fühlten.
Selbsttechniken
Obwohl Foucault längst weltweit Vorträge hielt und in den Augen vieler seine Zeit zum Ausdruck brachte, änderte er abermals und recht abrupt die Gangart und die Blickrichtung seiner Arbeiten. Könnte es nicht sein, fragte er sich am Ende der 1970er Jahre, dass er mit seiner Machttheorie übers Ziel hinausgeschossen war, dass Bevölkerungen trotz allem „regiert“ werden müssen und dass der Liberalismus mit seiner Betonung der individuellen Freiheit den Polizeistaat des Ancien Régime überwunden hatte? Und könnte es nicht sein, dass der Einzelne doch nicht nur ein „Rädchen“ in einer Disziplinarmaschine ist, sondern immer ein Stück Freiheit zur Verfügung hat, um der Macht gegenüber „Nein“ zu sagen, oder zumindest: „Wir wollen nicht so sehr, nicht auf diese Weise regiert werden“, wie Foucault dies 1978 formulierte?
Am Ende seines durch eine HIV-Infektion am 25. Juni 1984 früh beendeten Lebens publizierte Michel Foucault noch zwei Bücher zur griechischen und römischen Antike, in welchen er seinen Leser:innen, die sich die Augen rieben, jene „Selbsttechniken“ vorführte, mit deren Hilfe athenische Bürger und römische Stoiker ihre „Freiheit“ konstituierten und pflegten. Abgesehen davon, dass sich jetzt auch die Altertumswissenschaften mit Foucault auseinandersetzen mussten, hatte dieser als Seismograph seiner Zeit registriert, dass gerade eine neue Kultur der Innerlichkeit und der Spiritualität, aber auch der Selbstbezogenheit und des unpolitischen Individualismus aufkam. Mit Le souci de soi (dt. Die Sorge um sich) lieferte er gewissermaßen jenes Stichwort, das die kalte, neoliberale Rede von den Ich-AGs zumindest ein wenig ausbalancierte – oder auch, wie ihm linke Kritiker:innen bis heute vorwerfen, selbst die neoliberale Wende vorantrieb.
Gegen das Gesetz
Neben der überaus breiten, hier kaum berührten wissenschaftlichen Rezeption Foucaults ist dessen Denken immer auch politisch gelesen und verwendet worden. Neben der Kritik an der Disziplinargesellschaft wurde insbesondere sein konstruktivistischer Ansatz als ein mächtiges Instrument zur Zurückweisung angeblich ewiger Wahrheiten und daraus abgeleiteter Machtansprüche verstanden. Zum andern aber wurde dieser Konstruktivismus von der Neuen Rechte missbraucht, um ihre „ethnopluralistische“ These von der grundsätzlichen Verschiedenheit der „Kulturen“ und damit deren wechselseitige Unverträglichkeit zu begründen. Das ist sowohl theoretisch wie politisch das Gegenteil von dem, was Foucault sagte und vertrat, gehört aber zumindest am Rande zur komplexen Geschichte der Rezeption Foucaults.
Die Gefahr solcher Fehldeutungen hängt zwar zweifellos auch damit zusammen, dass Foucaults Denken nicht auf die Errichtung eines philosophischen „Systems“ zielte. Die offenbaren Inkonsistenzen seines Werks – er lehnte den Begriff ab – täuschen allerdings darüber hinweg, dass es ihm immer um die Frage danach ging, was ein Subjekt sei und wie seine Freiheit zu denken wäre – falls überhaupt. Dazu wies er in erster Linie die von Jacques Lacan formulierte Vorstellung zurück, dass der Mensch, sofern er nicht den Wahnsinn wähle, sich einem „Gesetz“ unterwerfen müsse, einer allgemeinen Norm oder Regel. Lacan verstand darunter die Sprache. Foucault dachte historisch konkreter als Lacan und entzifferte im genealogischen Untergrund von dessen „Gesetz“ den kirchlichen Beichtzwang, der sich in der Moderne in den ärztlichen Willen zum Wissen und den Geständniszwang der Psychoanalytiker verwandelt habe. Dagegen, gegen diese Vorstellung eines unumgänglichen „Gesetzes“, stellte Foucault zuerst die Analyse der Wissensordnungen, dann die Kritik jeder Macht und schließlich die Selbsttechniken. Wie kein anderer brachte er damit auch eine tiefgreifende Verschiebung auf den Begriff, die seit einem halben Jahrhundert unsere Gegenwart formt.