Zu den Symptomen einer Krise gehört die Ungewissheit darüber, was die Zukunft bringen wird. Das gilt heute nicht mehr. Mit unseren Gegenwartskrisen gehen wir um, indem wir sie als Dauerzustand denken und in die Zukunft verlängern. Das schafft Orientierung, aber auch Probleme.

Von den Sex Pistols stammt einer der bekann­testen und meist zitierten Slogans der 1980er Jahre: No Future. Er markierte ein Lebens­ge­fühl, das nach der Reform- und Aufbruch­stim­mung der 60er und 70er Jahre von einer trot­zigen Resi­gna­tion geprägt war. Die konser­va­tive Wende, der Kalte Krieg mit neuen Aufrüs­tungen, eine zwar breite, aber relativ macht­lose Frie­dens­be­we­gung, eine von der Politik noch kaum ernst­ge­nom­mene Umwelt- und Natur­zer­stö­rung, regel­mä­ßige Korrup­ti­ons­skan­dale und schließ­lich mit Tscher­nobyl ein Vorge­schmack auf die mögliche Apoka­lypse – all das hatte auf viele Jüngere einen ebenso poli­ti­sie­renden wie desil­lu­sio­nie­renden Effekt. Gesell­schafts­kritik schien manchen nur noch im Medium anar­chis­ti­scher Satire möglich. Von der Zukunft jeden­falls versprach man sich – nichts.  

Entspre­chend trat Verwir­rung ein, als der Fall der Mauer den Zukunfts­ho­ri­zont wieder öffnete, eine ganze Epoche been­dete und jetzt Vieles, wenn nicht ‚Alles‘ möglich schien. Wie unge­wohnt dieser offene Zukunfts­ho­ri­zont war, zeigt nicht zuletzt das Ausmaß, in dem man nach der Wende auf die Vergan­gen­heit als Orien­tie­rungs­in­stanz zurück­griff. Kaum ein Jahr­zehnt war „geschichts­ver­ses­sener“ als die 1990er Jahre. Die Offen­heit der Zukunft, vom Jahr­tau­send­wechsel noch symbo­lisch unter­stri­chen, wurde zwar wahr­ge­nommen und bisweilen auch gefeiert. Das Gegen­warts­ver­ständnis aber war vorwie­gend eine Mischung aus obses­sivem Rück­blick und vorsich­tiger Voraus­schau. 

Die Zukunft als Prozess

Dieser offene, aber bearg­wöhnte Erwar­tungs­ho­ri­zont endete mit dem 11. September 2001 und verwan­delte sich schlag­artig in sehr konkrete Ängste und Aussichten auf einen langen ‚Krieg gegen den Terror‘ oder gar einen ‚Krieg der Kulturen‘. Jetzt, und deut­li­cher als nach dem Fall der Mauer, schienen sich die ersten Umrisse und neuen Heraus­for­de­rungen einer uns wieder entge­gen­kom­menden Zukunft abzu­zeichnen. Der diffuse Erwar­tungs­ho­ri­zont der 90er füllte sich mit den ersten konkreten Erwar­tungen eines ganz anderen nächsten Jahr­hun­derts, während das voran­ge­gan­gene, in den 90ern noch die unmit­telbar auf den Nägeln bren­nend, zur ‚Histo­ri­sie­rung‘ frei­ge­geben wurde.  

Seitdem wech­seln nicht nur die Krisen und neuen Heraus­for­de­rungen, sondern ebenso die Programme und Visionen zu ihrer Lösung, Über­win­dung oder Gestal­tung einander ab: Terro­rismus, Klima­wandel, Europa, Finanz­krise, Rechts­po­pu­lismus, Demo­kra­tie­krise, Migra­tion, Digi­ta­li­sie­rung, Corona. Was sie gemeinsam haben, ist unsere kaum hinter­fragte Bereit­schaft, sie nicht nur als Heraus­for­de­rungen unserer Zeit, sondern als Heraus­for­de­rungen der Zukunft zu denken. Selten werden sie poli­tisch und öffent­lich disku­tiert, ohne diese Verant­wor­tung unseres jetzigen Handelns für den Rest des Saecu­lums zu unter­strei­chen. Über­haupt ist immer häufiger zu lesen und zu hören, dass über das 21. Jahr­hun­dert ‚jetzt‘ oder zumin­dest in den anste­henden ‚Zwan­ziger Jahren‘ entschieden werde.   

Nun ist an einem gesunden Verant­wor­tungs­be­wusst­sein für die Zukunft über­haupt nichts auszu­setzen. Ebenso wenig aber lässt sich die histo­ri­sche Erfah­rung leugnen, dass noch kein Jahr­hun­dert so geworden ist, wie man es an seinem Beginn erwartet hat. Es geht hier also nicht um den so legi­timen wie notwen­digen poli­ti­schen Anspruch, die Zukunft gestalten zu wollen. Es geht um das Ausmaß, in dem unser Handeln von einer als bereits deter­mi­niert gedachten Zukunft bestimmt – und damit einge­schränkt wird 

Auch wenn die heutigen Heraus­for­de­rungen sicher nicht über Nacht verschwinden, sondern uns womög­lich über Jahr­zehnte begleiten werden, steht ihre konkrete Zukunft nicht fest. Sie jetzt schon voraus­ei­lend als deter­mi­nierte Prozesse zu denken, erkauft Hand­lungssicher­heit durch selbsterzeugte ‚Alter­na­tiv­lo­sig­keit‘. Denn ein voraus­den­kend schon bekannter Prozess gibt erst vor, was wir als gegen­wär­tigen ‚Freiraum seiner Beein­flus­sung wahr­nehmen. Wie es Odo Marquard einmal formu­liert hat: In Prozessen macht die Praxis stets nur das Wenige, was noch zu machen ist. Damit sie möglich sei, muss in einem sehr beträcht­li­chen Umfang schon nichts mehr zu machen sein.“ 

Diese Tendenz, uns Hand­lungs­op­tionen bevor­zugt von dem vorgeben zu lassen, was wir als objek­tive Prozesse wahrnehmen und schon jetzt als Zukunft imagi­nieren, lässt sich als ein Lebens­ge­fühl unserer Gegen­wart beschreiben: For Future. Dabei ist es zuneh­mend zweit­rangig, ob es um eine mit allen Mitteln abzu­weh­rende, dysto­pi­sche oder um eine erträumte Ideal­zu­kunft geht. Viel­mehr über­nehmen meist beide, in ihrem Gegen­satz, die Funk­tion, das jetzt notwen­dige Handeln zu defi­nieren, indem sie eine klare Entweder-Oder-Logik für die Prozesse nahe­legen, die sowieso im Gang sind. Eben das aber verleiht der Frage, was jetzt zu tun sei, eine zugleich bipo­lare und deter­mi­nis­ti­sche Struktur: das Rich­tige ist das Nicht-Falsche und wer A sagt, muss auch B sagen. Dass lässt sich an eher banalen ebenso wie an poli­tisch brisan­teren Beispielen illus­trieren.  

Digi­tale Zukunft

Nach jüngeren Umfragen will inzwi­schen ein Drittel der deut­schen Auto­fahrer ein Elek­tro­auto anschaffen. Die Aussicht auf einen emis­si­ons­freien Stra­ßen­ver­kehr gewinnt also immer mehr Anhänger. Schaut man sich aber die Berichte zur Entwick­lung dieser grünen Verkehrs­technik an, stellt man schnell fest, dass die Frage des Antriebs hier inzwi­schen ein Neben­schau­platz ist. Statt­dessen geht es um das „auto­nome Fahren“, um die Kommu­ni­ka­tion zwischen Autos (nicht zwischen ihren Fahrern) und es geht darum, das Auto zu einem voll funk­ti­ons­fä­higen Büro oder Enter­tain­men­traum zu machen. Mit der jetzt realis­tisch gewor­denen Umstel­lung auf Elek­tro­mo­bi­lität kehren sämt­liche Zukunfts­vi­sionen wieder, die schon in den 1950er Jahren, damals an die Atom­technik geknüpft, von einer Fort­be­we­gung träumten, die komplett auto­ma­ti­siert abläuft. 

Die klima­schüt­zende Elek­tri­fi­zie­rung des Verkehrs scheint heute nicht ohne seine Digi­ta­li­sie­rung denkbar. Diese aber hat Neben­folgen. Der Firma Tesla etwa wurde von Daten­schüt­zern kürz­lich der Big-Brother-Preis verliehen, weil die Sensoren und Kameras ihrer Autos nicht nur beim Fahren in Betrieb sind, sondern ständig, und ihre Daten regel­mäßig an die Server des Unter­neh­mens in Kali­for­nien senden. Auch zählt blindes Vertrauen in elek­tro­ni­sche Sicher­heits­sys­teme zu den immer häufi­geren Unfall­ur­sa­chen. Vor allem aber kann man sich fragen, warum die Elek­tri­fi­zie­rung der Antriebs­technik zum Zweck des Klima­schutzes über­haupt mit der ScienceFictionVision des auto­nomen Fahrens so eng verbunden sein muss, dass wir wohl tatsäch­lich erst dann alle emis­si­ons­frei unter­wegs sein werden, wenn unsere Autos ‚von alleine‘ fahren.  

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Digi­ta­li­sie­rung ist wohl der Prozess, der heute am meisten vom voraus­ei­lenden Zukunfts­denken bestimmt wird. Und zwar so weit, dass wir die bewusste Praxis, die er eigent­lich beschreibt, immer schon als nach- und aufho­lende Annä­he­rung an etwas denken, das längst geschieht. Ob Verkehr, Wirt­schaft, Alltag, Bildung oder Verwal­tung – Digi­ta­li­sie­rung meint heute die bloße Imple­men­tie­rung einer Zukunft, die ohnehin eintritt. Nicht zuletzt durch sie haben wir uns daran gewöhnt, auch in anderen Kontexten gegen­wär­tigen Heraus­for­de­rungen mit digi­talen Lösungen zu begegnen, indem wir sie schon jetzt imaginär in zukünf­tige Zustände verwan­deln.  

Auch in den Diskus­sionen zur Corona-Politik samt ihren jetzt notwen­digen und gut begründ­baren Maßnahmen zeigt sich, dass ihr Ausnah­me­cha­rakter, ihre Funk­tion als Notfall­in­stru­ment, immer weniger eine Rolle spielt. Das gilt für die Wahr­neh­mung ihrer Befür­worter wie ihrer Gegner. Während die einen die Einsetz­bar­keit der Corona-App als Instru­ment auch zukünf­tiger Anste­ckungs­ver­fol­gung ebenso in Betracht ziehen wie die gene­relle Abschaf­fung der Präsenzlehre in höheren Bildungs­ein­rich­tungen oder den Abbau recht­li­cher Hürden für kommende Sofort­maß­nahmen, halten die anderen – eher parallel als ‚quer‘ – die jetzigen Maßnahmen für untrüg­liche Zeichen einer poli­ti­schen Verschwö­rung zur dauer­haften Entmün­di­gung des Volkes. Die einen wie die anderen gehen davon aus, dass Corona die Welt endgültig verän­dert hat. Wer dagegen heute auch nur die Hoff­nung äußert, der ganze Spuk könnte im nächsten Jahr viel­leicht vorbei sein, gilt als bodenlos naiv.  

Sich in die Zukunft hoch­rechnen 

Wir scheinen gerade regel­recht zu verlernen, die Gegen­wart ohne ihre unmit­tel­bare Verlän­ge­rung in die Zukunft zu bewerten. In der klas­si­schen Moderne hatte die Wahr­neh­mung von Krisen immer auch eine kathar­ti­sche Funk­tion; sie galten immer als Brüche mit offene Enden. Heute denken wir sie als kaum aufzu­hal­tende Prozesse und richten unser Denken und Handeln an dem aus, was durch sie kommen wird. Nur die schlicht hoch­rech­nende Verwand­lung der heutigen Corona-Situation in eine fest­ste­hende Zukunft verleiht den derzeit kursie­renden Planungs- wie Verschwö­rungs­theo­rien ihre Schein­plau­si­bi­lität. 

Mit dieser voraus­ei­lenden Orien­tie­rung an imagi­nären Zukunfts­zu­ständen hängt viel­leicht über­haupt der gegen­wär­tige Erfolg des verschwö­rungs­theo­re­ti­schen Denkens zusammen – zumal dort, wo es von rechts poli­tisch mobi­li­siert wird. Denn ‚rechts‘ im klas­si­schen Sinne von konser­vativ, rück­wärts­ge­wandt und tradi­tio­nell ist der Rechts­po­pu­lismus nur vorder­gründig; seine wesent­liche und erfolg­reiche Stra­tegie besteht viel­mehr darin, die herge­brachten Grund­be­griffe und Eckpfeiler moderner Staats­ord­nungen – Demo­kratie, Nation, Volk, Gesell­schaft, Kultur – zu einer von allen Regeln, Vorgaben, Insti­tu­tionen und Tradi­tionen losge­lösten Neube­stim­mung und Neube­set­zung auszu­rufen. Sein Hang zu Fake und Fiktion ist nur Ausdruck dieser Grund­bot­schaft, dass nichts mehr Geltung hat, dass alles ganz anders gedacht werden kann, darf und soll. Genau damit arti­ku­liert er sein Verspre­chen einer Zukunft, die von jenen bestimmt werden soll, die sich heute von ihr ausge­schlossen fühlen. Das aber lässt nur drei Zukunfts­zu­stände übrig: eine post­de­mo­kra­tische Direkt­herr­schaft des ominösen Volkes die kaum ohne einen ‚Führer‘ denkbar ist; einen Bürger­krieg auf den sich in der Tat immer mehr Menschen vorbe­reiten; oder ein Über- und Weiter­leben der jetzigen Ordnung was sich allein durch tief­sit­zende und macht­volle Verschwö­rungen erklären lässt. 

Aus eben­diesen drei imagi­nären Zukunfts­sze­na­rien besteht die poli­ti­sche Rhetorik des Rechts­po­pu­lismus. Die Prozess­logik aber, der sie gehor­chen, ist die gleiche, die auch unseren Alltag prägt: Was wir heute erleben, wird das 21. Jahr­hun­dert bestimmen und darauf müssen wir uns jetzt vorbe­reitenfor future. Damit soll keines­wegs nivel­liert werden, was Thesen etwa der Abschaf­fung Deutsch­lands durch zu viel Einwan­de­rung von Thesen der zukünftig digita­li­sierten oder coro­ni­sierten Gesell­schaft politisch-normativ unter­scheidet. Was aber auffällt ist der quer zu allen Lagern liegende Hang unserer Gegen­wart, sich selbst in die Zukunft hoch­zu­rechnen und auf Kurs zu bleiben  

Zu erkennen, dass auch der Rechts­po­pu­lismus diese Denkmaxime teilt, kann für seine kriti­sche Analyse sogar wichtig sein. In dieser Sicht­weise erscheint etwa Trumps Verwei­ge­rung, sich den Tradi­tionen der Amtsüber­gabe zu beugen, nur konse­quent. Für seine Anhänger, fünf Millionen mehr als bei der letzten Wahl, bedeutet die Wider­stän­dig­keit des Präsi­denten und sein Einreißen noch der letzten poli­ti­schen Gepflo­gen­heiten, dass ihre Zeit kommen wird 

Die Vergan­gen­heit der Zukunft

Ganz ohne Zukunfts­er­war­tungen lässt sich weder denken noch handeln. Derzeit aber ist eine prozes­suale Form der Zukunftsorien­tie­rung vorherr­schend, die unsere Denk- und Handlungsmöglich­keiten eher einschränkt statt sie zu öffnen. So viel Orien­tie­rung und Halt der Glaube an eine festgelegte Zukunft auch stiftet, er blendet aus, was die Zukunft noch zu bieten hat: Spiel­raum, Kontin­genz, Wandel, Über­ra­schung – oder auch die Option, Gegen­wart wie Zukunft nach ihrer Vergan­gen­heit zu befragen. Denn irgend­wann will auch verstanden sein, wie wir dazu gekommen sind, unsere Krisen aufs Jahr­hun­dert hoch­zu­rechnen, und wie wir jenen Drei­schritt voll­zogen haben: no future, open future, for future.  

Die jüngeren Analysen zum Geschichts- und Gegen­warts­be­wusst­sein unserer Zeit betonen in ihren Thesen einer „breiten Gegen­wart“ (Gumbrecht) oder eines vorherr­schenden „Präsen­tismus“ (Hartog) die Tendenz zur Ausdeh­nung des Gegen­wär­tigen in Vergan­gen­heit und Zukunft. Zumin­dest zur Zukunfts­seite hin entspricht das dem, was auch hier argu­men­tiert wurde. Doch so plau­sibel diese Diagnosen sind, sie bleiben bei der Diagnose stehen – als würden sie nur darauf warten, dass etwas geschieht, was diese Domi­nanz des Gegen­wär­tigen wieder durch­bricht. Ist es aber über­haupt möglich, dass eine Gegen­wart sich in ihre Vergan­gen­heit und Zukunft ausdehnt, ohne von dem, was sie dort real oder imaginär vorfindet, tangiert und viel­leicht sogar über­rascht zu werden? Lassen sich nicht auch Prozesse wieder in Geschichte zurück­ver­wan­deln oder zumin­dest als Geschichte lesen? In diesem Fall wäre es an der Zeit, nicht nur die Ausdeh­nung unserer Gegen­wart fest­zu­stellen, sondern danach zu fragen, welche Vergan­gen­heit und welche Zukunft wir uns damit eigent­lich einkaufen.