
Derzeit gehen Bilder aus Afghanistan um die Welt, wo Menschen aus Angst vor den Taliban, die wieder das Land beherrschen, zwangsmigrieren. Sie flohen aus den ländlichen Gebieten in die Städte, wo sie sich Schutz erhofften, und von den Städten versuchten sie schliesslich ins Ausland zu gelangen. Hier im Westen sind neue ikonische Bilder von Flucht entstanden: Menschen, die in Panik versuchen, in den Flughafen von Kabul zu gelangen, sich an startenden Flugzeugen festklammern und in den Tod stürzen.
Es handelt sich um kein neues Phänomen, dass Menschen aus und in Afghanistan fliehen, auch wenn das Bewusstsein in Europa dafür erst mit der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015 wieder gewachsen ist. Mit dem Eingang in politische, soziale und gesellschaftliche Diskurse schlug sich das Thema Flucht sofort auch in der Populärkultur nieder. Denn Flucht stellt grundlegende Fragen an Selbstverständlichkeiten der westlichen Welt: Menschenrechte, Sesshaftigkeit, Selbstbestimmung, nationale Zugehörigkeit, Heimat, Familie, Sicherheit. Das Auf-der-Flucht-Sein ist laut der Literaturwissenschaftlerin Ulrike Zeuch „eine existentielle Erfahrung des Menschen als eines Fremden […] in dieser Welt“, die von der Literatur aufgegriffen und verarbeitet wird. Die Fluchtliteratur ist an der Produktion sozialer Bedeutung von Flucht mit beteiligt, da sie sich als Sparte selten auf reine Fiktionalität begrenzen lässt, ja gar von ihrem Realitätsbezug und der Möglichkeit, wahr zu sein, lebt. Sie erschafft und transportiert Vorstellungen von Flucht und Geflüchteten, die den Diskurs mitprägen.
Repräsentationen von Jugendlichen auf der Flucht
Die Suche nach Obdach und Heimat scheint gerade in Bezug auf flüchtende Kinder und Jugendliche besonders dringlich und der Verlust von Zugehörigkeit grausam. Die Literatur trägt der Tatsache Rechnung, dass sich aktuell besonders viele minderjährige und junge Menschen auf dem Weg in eine sichere Welt mit Hoffnung auf Zukunft befinden. Sowohl in der Literatur für Erwachsene als auch in jener für Kinder und Jugendliche erscheinen seit 2015 auffallend viele flüchtende Kinder und Jugendliche. Auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt werden Werke zur Thematik rund um Flucht und Integration in beachtlicher Menge und Formenvielfalt herausgegeben, häufig mit der Intention, Empathie, Inklusion und damit kulturelle Diversität zu fördern und Flucht verständlich zu machen.
Viele Jugendromane beschäftigen sich mit der Flucht an sich, obwohl die Mehrheit dieser Bücher als Begegnungsromane konzipiert sind, die sich um das Ankommen und Integriert-werden von Geflüchteten in der Mehrheitsgesellschaft dreht. Gerade die Flucht aus Syrien und Afghanistan nach Europa scheint auf dem deutschsprachigen Markt zu boomen. Diese gestaltet sich vornehmlich in drei Etappen: das Herkunftsland und das Aufbrechen; die Flucht; das Aufnahmeland und das Ankommen. Den jungen Protagonist:innen wird dadurch ermöglicht, sich zuerst als vollständige und teilhabende Individuen einer Gesellschaft zu präsentieren, als Heimat-Habende, bevor sie entwurzelt werden. Dieser identitätsstiftende Zugang wird in der politischen und medialen Debatte meist unterschlagen. Die Heimat gestaltet sich häufig als idyllischer Gegenentwurf zum spätmodernen europäischen Leben: naturnah, geborgen, familiär und einfach. Dies erinnert, wenn auch sicher von den Autor:innen nicht intendiert, an eine koloniale Artikulation, die die Ursprünglichkeit sogenannter Naturvölker rühmt – ihnen jedoch gleichzeitig eine rationale Zurechnungsfähigkeit abschreibt.
Die jugendlichen Protagonist:innen erzählen ihre Geschichten in einem personalen Erzählstil, in Tagebuchform oder als Ich-Erzähler:innen. Eine prozesshafte Entwicklung, ähnlich dem Entwicklungsroman, lässt tief in ihren Charakter, ihre Wünsche und Gedanken blicken. All dies führt zu einer leichteren Identifikation der Lesenden und zu einer Art Miterleben und Aneignung des Erzählten. Leicht wird ein direkter Bezug zu lebensweltlichen Menschen hergestellt, da die Stationen der Erzählungen dem bereits bekannten Schema der Nachrichten folgen und in stereotypen Beschreibungen von Flucht enden: Auffanglager, Meeresüberquerungen in überfüllten Booten, geschlossene Grenzen, Leben auf der Strasse. Gleichzeitig werden die Romane in der Regel von deutschsprachigen Autor:innen ohne eigene Fluchterfahrung geschrieben. Ihre Romane authentifizieren sie damit, einen grossen Rechercheaufwand betrieben und mit zahlreichen Menschen gesprochen zu haben, die eine Flucht erlebten. Sie erzählen ‚wahre‘ Fluchtgeschichten, die sie aus erster Hand erfahren haben, oder als Ko-Autor:in im Namen einer geflüchteten Person niederschreiben. So kann diese Literatur als Versuch verstanden werden, marginalisierten und häufig von intersektioneller Diskriminierung betroffenen Geflüchteten in Form von Einzelschicksalen in der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft eine Stimme zu verleihen.
Doch Fluchtliteratur ist eben nicht Literatur von Geflüchteten und die Bearbeitung durch europäische Autor:innen führt stets zu einer erneuten Wiedergabe vorherrschender Bilder, die sich in der westlichen Welt festgesetzt haben und die sie weitertransportieren. Die flüchtenden Protagonist:innen sprechen nur scheinbar mit ihrer eigenen Stimme, da in Wirklichkeit durch die Autor:innen für sie gesprochen wird. Die repräsentierten Jugendlichen aus fernen Ländern erzählen also ihre Heimat und ihre Flucht mit der Stimme einer Europäerin oder eines Europäers. Das gut gemeinte Bestreben, einer an den Rand gedrängten Gruppe einzelne Stimmen und Gesichter zu gegeben, um der Entmenschlichung in Medien und Politik anhand kollektiver Wassersymbolik wie ‚Welle‘, ‚Strom‘ oder ‚Flut‘ entgegenzuwirken, führt häufig dazu, dass altbewährte Klischees versteift und rekonstruiert werden. Nur selten setzen sich die Romane etwa damit auseinander, was es heisst, der Kollektividentität ‚Flüchtling‘ zugeordnet zu werden und dadurch einen Teil an persönlicher Identität zu verlieren.
Flucht und Abenteuer
Das Etappenschema Aufbruch – Fluchtreise – Ankommen, in welches eine Flucht in der Jugendliteratur häufig gegliedert wird, orientiert sich an den Grundstrukturen bürgerlicher Reise- und Abenteuerromane, die sich im 19. Jahrhundert grosser Beliebtheit erfreuten. Sie befriedigten das Interesse an fernen und exotischen Ländern, das sich parallel zu den Auswanderungswellen aus Europa und zum Ausbau des Kolonialbesitzes entwickelte. Das überhöhte Verständnis des Westens von sich selbst und die geographische und ethnologische Vermessung und Bewertung der restlichen Welt spiegelt sich in der Literatur wider. Die Migration ist mit dem Motiv der Umsiedlung in ein fremdes Terrain, etwa in der Auswandererliteratur, aber auch mit der nur zeitweisen Deplatzierung, wie in der Robinsonade oder dem Seeabenteuer, in der Abenteuerliteratur schon seit ihren Anfängen vertreten. Es scheint daher natürlich, dass sich die aktuelle Fluchtliteratur nach den Konventionen der Abenteuerliteratur richtet.
Georg Simmel schrieb 1919 in seinem Essay über das Abenteuer: „Und zwar ist nun die Form des Abenteuers, im allerallgemeinsten: dass es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt.“ Als „Exklave des Lebenszusammenhangs“ werden denn auch die Fluchtreisen der flüchtenden Figuren dargestellt: losgerissen vom bisherigen und zukünftigen Leben, mit klar festmachbarem Anfang und Ende. Auch was Simmel die „Intensität des Lebens“ nennt, also das Leben um des Lebens Willen, „als Gegenwartswesen“ gelöst von Vergangenheit und Zukunft, lässt sich in der Fluchtliteratur für Jugendliche beobachten. Die Figuren leben auf schon fast romantisierte Weise im Moment, lassen sich auf das ein, was ihnen der Zufall in einer fremden, noch zu entdeckenden Welt an die Hand gibt – ganz wie die Eroberer und Abenteurer der klassischen Abenteuerliteratur. Dabei schwingt stets der Optimismus mit, dass am Schluss schon alles gut werden wird, wenn man nur das sichere Europa erreicht und die Menschen dort einem gut gesonnen sind, was durchaus als Anruf an die Leser:innen verstanden werden kann.
Carolin Philipps: Talitha. 2. Aufl. Innsbruck, Wien: Obelisk 2016 (2015).
Mit bemerkenswert wenigen Ausnahmen ist die Meeresüberquerung in einem überladenen Schlauchboot oder Fischkutter der Höhepunkt des abenteuerlichen Spannungsbogens. Dies ist durchaus zynisch in Anbetracht der humanitären Tragödien, die sich auf dem Meer und auf der Flucht abspielen – und der Tatsache, dass auch andere, weniger abenteuerliche Fluchtverläufe erlebt werden, die jedoch genauso traumatisierend sein können. Auch hier zeigt sich, was weiter oben als stereotype Bilder von Flucht beschrieben wurde, da sich die Abenteuerkonvention nicht an individuellen Erlebnissen, sondern kulturell tradierten Normen der fiktiven Kinder- und Jugendliteratur richtet, die wiederum in der Form des Fluchtromans als glaubwürdig verkauft werden.
Anhand der Konvention der Abenteuerliteratur wird entgegen der Absicht aktueller Fluchtliteratur für Jugendliche, Geflüchtete als ebenbürtige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, diskursiv ein ‚Anderes‘ entwickelt. Wo zwar der bürgerliche Abenteurer sich noch freudig ins Abenteuer stürzte, um anders zu sein als seine regelgeleitete und unnatürliche Herkunftswelt, werden die flüchtenden Abenteurer:innen zum Abenteuer gezwungen und als ‚Andere‘ exponiert. Im Vergleich zur europäischen Norm sind sie bedroht, krisenhaft, nicht-sesshaft, und exotisch.
Zwischen Welten
Gerade die Konzeption als Abenteuerliteratur birgt jedoch das Potential, die Figuren als handelnde und selbstbestimmte Personen darzustellen: als Abenteuerheld:innen. Obwohl die vereinfachende Erzählform und die Exotisierung von Flüchtenden problematisch gegen das integrative Ziel der Romane arbeiten, erhalten die Protagonist:innen Handlungsmacht und entkommen der passiven Opferrolle. Gleichzeitig wird den Leser:innen angeboten, mit alternativen Perspektiven auf die Welt zu blicken.
Unterwegs zu sein ist ein zentrales Motiv sowohl in der Abenteuer- als auch in der Fluchtliteratur, das Ausgangs- und Zielort miteinander verbindet. Unterwegs-Sein bedeutet, nicht hier und nicht da, weggegangen aber nicht angekommen zu sein. Flucht und Abenteuer bilden so ein literarisches Dazwischen, einen Raum zwischen verschiedenen Welten. Der Fluchtraum befindet sich zwischen Herkunfts- und Zielort oder -gesellschaft, von denen sich die Protagonist:innen während ihrer Reise gänzlich lösen. Die Lücke, die sich zwischen festgeschriebenen Räumen öffnet, bietet die Möglichkeit, diese neu zu denken, sich zu entwickeln und Oppositionen zu vereinen, wie es auch mit den scheinbaren Gegensätzen von Abenteuer und Flucht geschieht. Fluchtliteratur wird zur Verhandelnden zwischen Welten, zwischen Heimat und Ferne, zwischen Sprachen oder unterschiedlichen Selbstentwürfen der Protagonist:innen, wie es die Abenteuerliteratur schon lange ist. Der Zwischenraum der Flucht und des Abenteuers ist Sowohl-als-auch und gleichzeitig Weder-noch, in dem sich die Abenteurer:innen immer neu erfinden müssen und – in einem gewissen Rahmen – können. Im Unterschied zur Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts positionieren sich die Protagonist:innen jedoch nicht in Abgrenzung zum eroberten Abenteuerraum als dem Umfeld überlegen, sondern in Verbindung mit ihm, teilhabend und mitgestaltend. Die flüchtenden Figuren balancieren zwischen dem, was sie waren und dem, was sie sein werden. Sie vereinen in sich die Kultur ihrer Herkunft und jene all der Regionen, die sie durchreisen.
Im Dazwischen werden die Grenzen der dominierenden Weltordnung aufgeweicht und mit dem Überschreiten schreiben die Protagonist:innen den Raum neu und vereinen, was unvereinbar schien. In Parallelgesellschaften überwinden sie soziale Grenzen und geben bekannten Räumen – beispielsweise der Stadt Athen – neue Bedeutungen und neue Betrachtungsweisen. Sie schauen gewissermassen durch die Hintertür auf die Kultur der Lesenden. In Athen etwa auf den Tourismus, der dadurch ganz absurd erscheint. Nationalgrenzen, geographische Grenzen wie Meere und Gebirge oder Sprachgrenzen, die unbeweglich und unüberwindbar wirken, werden aufgelöst. Damit entsteht eine Wechselwirkung zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft, Bewegung und Stillstand, Ein- und Ausschluss, Realität und Fiktion, der sich die Flüchtenden hingeben und die sie zu Mediator:innen zwischen Welten macht.
Jugendliteratur zum Thema Flucht bietet damit eine Alternative zu dominierenden Anschauungen und stellt in Frage, was über ein Massenphänomen erzählt wird, wenn sie auch tatsächliche jugendliche Flüchtende nicht zu repräsentieren vermag. Mit ‚dem Flüchtling‘ als Denkfigur vermag sie Stereotype zu hinterfragen, die sie selbst vermittelt, und regt dazu an, auf neue Weise über Flüchtende, kulturelle Identität, Nationen, Menschen nachzudenken.