Europa steckt – nach wie vor – in der „Flüchtlingskrise“ fest. Seit dem Sommer 2015 gelangten Menschen aus Syrien, dem Irak, aus Eritrea und Afghanistan auf lebensgefährlichen Fluchtwegen nach Europa. In der Bundesrepublik wurden eine Million „Flüchtlinge“ zunächst mit Gastfreundschaft willkommen geheißen. Nach der Silvesternacht 2015, als im Kölner Hauptbahnhof junge Männer aus nordafrikanischen und arabischen Herkunftsgesellschaften Sexualdelikte begangen hatten, kippte die Stimmung. Jetzt kamen Ressentiments aus der Deckung. Die „Gäste“ hatten, stellvertretend für alle anderen, so schien es, den Pakt der Gastfreundschaft gebrochen und wurden als Bedrohung für die liberale Gesellschaft wahrgenommen. Rechtsextreme Parteien und Gewalttäter schlugen daraus Kapital. Der Historiker Joachim C. Häberlen hat auf die beiden „Erzählungen“ von der helfenden Zivilgesellschaft einerseits und der bedrohten Demokratie andererseits hingewiesen und angemerkt, dass es beiden Erzählungen an historischer Tiefe mangelt: Das betrifft vor allem das unerhörte politische Engagement der Geflohenen in den Demokratiebewegungen Tunesiens, Ägyptens, Libyens, im Jemen und in Syrien. Die Revolution in Syrien wurde und wird mit einer verheerenden Folter-, Kriegs- und Gewaltdynamik zunichte gemacht, vor der Millionen Syrer*innen bis heute fliehen. Über ihre politischen Lebensgeschichten und Demokratievisionen ist in Europa wenig bekannt. Sie hätten jedoch, so Häberlen, das Zeug, die Stereotypen vom hilfsbedürftigen Flüchtling oder demokratieaversen Fremden zu erschüttern, womöglich auch dazu, einer vertagten Demokratiedebatte zwischen dem Nahen Osten und dem Westen Vorschub zu leisten. Das gilt zumal für ein differenziertes Wissen um den politischen Kontext der Flucht, der zu einem neuen Verständnis von Flucht als einer Form politischen Handelns führen könnte.
Flucht als Widerstand
Nicht zufällig wird Flucht als widerständige Praxis der Selbstbefreiung in der politischen Philosophie bis heute ausgespart. Der heterodoxe Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschman, der als Sozialist jüdischer Herkunft kurz nach der Machtergreifung der NSDAP im April 1933 aus Deutschland floh, hat in den 1970er Jahren Reaktionsweisen von Kunden und Organisationsmitgliedern untersucht, die kraft der Praktiken Exit oder Voice ihre Unzufriedenheit mit dem Leistungsabfall eines Unternehmens oder einer Organisation zum Ausdruck bringen. Das lässt sich auch und gerade politisch verstehen: Ausgehend von einem ordinary language-Befund geht es in einem historischen Perspektivwechsel um die Wiedergewinnung der politischen Relevanz der Flucht. In der Hochphase des europäischen Menschenkapitalismus (1450-1850) gehörten Fluchtpraktiken zum zentralen Widerstand gegen die Gewalträume der Versklavung.
Das Wort „Flucht“ hat in unseren Breitengraden keinen guten Ruf. Wer flieht, der tritt den Rückzug vor einer übermächtig erscheinenden Realität an, anstatt für die eigene Sache einzustehen. Wer es mit den realen Herausforderungen nicht aufnehmen kann, tritt die Flucht z.B. ins Gaming, ins Porning, in die Droge an. Die „Flucht in die Krankheit“ steht symptomatisch dafür, sich der Auseinandersetzung mit seinen psychischen Konflikten zu entziehen. Wer flieht, hat sich dissoziiert. Auch wenn er körperlich an Ort und Stelle bleibt, mit seinen Gedanken, Erregungen und Phantasien, ist er ganz woanders, nicht mehr ansprechbar. Flucht ist eine Zeitpraxis der Abwesenheit und eine Raumpraxis des Verschwindens: Soldaten, die vom Schlachtfeld flohen, anstatt in ihren eigenen Tod vorzulaufen, hat man seit jeher Feigheit nachgesagt. Desertation wurde seit der Aufstellung von stehenden Heeren mit harten Körperstrafen geahndet. Flucht bedeutet, so die gängige Überzeugung, sich der Verantwortung zu entziehen, eingegangenen Verpflichtungen genauso wie schuldigem Gehorsam. Die Raumcodes der Disziplinaranstalten – Kaserne, Schule, Fabrik, Hospital, Gefängnis – weisen jedem Körper seinen Posten, sein Pult, seinen Platz, seine Zelle zu. Diese Lokalisierung, die die Vielen zu individualisieren, zu synchronisieren und zu verwalten hilft, soll Flucht und Herumschweifen genauso verhindern wie Zusammenballung. Michel Foucault wusste das genau. Die Undisziplinierbaren, die unter der Last der Befehle nicht zusammenzubrechen wollten, aber über keine politische Stimme verfügten, konnten nur abhauen und mit wachsender räumlicher Entfernung eine ungesicherte Freiheit suchen.
Flucht als Praxis der Selbstbefreiung und humaner Resistenz
Das galt umso mehr für die Gewalträume des slaving, für die trunks und barracoons an den afrikanischen Küsten, für die Forts auf den vorgelagerten atlantischen Inseln, für die Sklavenschiffe auf der middle passage, für die Sklavenmärkte und Plantagen in den Kolonien. Auf den Sklavenschiffen aller sklavenhandelnden europäischen Nationen wurde die „menschliche Ware“ geradezu „gestapelt“, so dass den Versklavten keine einzige ungehinderte Bewegung möglich war. Die schwimmenden Gefängnisräume der Marinearchitektur, die den trikontinentalen Handel und die Sklavenfahrten über die Ozeane ermöglichten, stellten für die versklavten Menschen mit wachsender Entfernung von ihren Herkunftsgesellschaften Orte eskalierender Rückkehrlosigkeit dar. Und doch waren sie durchzogen von „Fluchtlinien“ der Selbstbefreiung und humaner Resistenz. Wohin konnte man fliehen, mitten auf dem Ozean? Gewalt bedeutet, Menschen auf bloße Körper, auf Ware, auf Sexobjekte zu reduzieren, sie „als Eigentum einzuschreiben“ (Michael Zeuske), sie ihres Namens, Selbstbesitzes und ihrer Selbstzugehörigkeit, ihrer Familie und Verwandtschaft, ihrer Sprache und Kultur, ihres Besitzes und ihrer Erbschaft zu berauben. Gewalt bedeutet, sie zu verstümmeln, zu foltern, noch über ihren Tod hinaus.

Laderaum eines britischen Sklavenschiffs (1788), Quelle: Wikimedia
Wo es Gewalt gibt, gibt es Widerstand und Gegengewalt. Menschen lassen sich nicht restlos und widerstandslos auf bloße Körper reduzieren. Michael Zeuske macht für die Revolutionszeit von 1760 bis 1850 eine „gigantische, bisher kaum reflektierte, maritime, ozeanische Dimensionen“ geltend – „revolution at sea“. Neben Schiffsrevolten artikulierten die Mundtoten ihren Widerstand mit body politics der Flucht wie Hungerstreik und Suizid. Von britischen Sklavenschiffen wird berichtet, dass die männlichen Gefangenen unter Trommel- und Peitschenschlag auf dem Deck täglich zum dancing and singing in Eisenketten gezwungen wurden, um sie in Form zu halten und die Mannschaft zu unterhalten. Die Versklavten kaperten den slaveship dance: Verdrehungen des Körpers und Verrenkungen der Gliedmaßen stellten Angst und Schmerz dar; Codes des Schweigens, der versiegelten Lippen und der stummen Trommeln alternierten mit Kreischlauten der Trauer. Plötzliches In-die Hände-Klatschen, Stampfen mit den Füßen sowie Auf- und Niederspringen evozierten im Kontrast mit langsamem Schwanken und Schlurfen der Füße Fluchtmöglichkeiten. Sklavenschiff-Tänze variierten Erfahrungen von Leid und Demütigung, sie erweckten Energien und riefen zu widerständigen Handlungen auf: Der Tanz war „eine Erprobung von allen möglichen Formen der Flucht,“ wie Geneviève Fabe betont. Flucht war eine Körperpolitik der voices of the voiceless: Suizide und Hungerstreiks, die als politische Widerstands- und Fluchtpraktiken des Sich-Undienlichmachens in den Gewalträumen des slaving erfunden worden sind, wurden mit drakonischer Zwangsernährung und terroristischer Gewalt verfolgt. Aus der Perspektive der Versklavten zogen sie „Fluchtlinien“ zu den Vorfahren und verhießen eine spirituelle Transmigration: Flying back to Africa. Die Kraft des Fliegens wurde nur den in Afrika Geborenen zugesprochen, wie die Flying Songs und Flying Talesto Africa bezeugen.
Runaway Slaves und Marronage
In vielen Interviews, die durch das Federal Writers‘ Project im Rahmen des New Deal seit den 1930er Jahren mit Afroamerikaner*innen geführten wurden, die noch als Kinder in die Sklaverei geboren worden waren, finden sich Hinweise auf die afro-amerikanische Gegenkultur der Flying Songs und Flying Tales to Africa, ferner Erzählungen über alle möglichen Formen der Flucht: nächtelanges Tanzen, heimliche Treffen, Feste, Besuche auf Nachbarplantagen und die solchermaßen wirksame Weigerung, sich auf bloße Arbeitskräfte und sexuell missbrauchte Körper reduzieren zu lassen. Insofern runaway slaves von den Eigentümern als stealing themselves bezeichnet wurden, ironisierten die Versklavten ihre Fluchtpraktiken als stealing away, worauf Saidiya Hartman hinweist.

Harriet Tubman, eine Ikone der Widerstandsbewegung, die 1849 aus der Sklaverei floh und sich danach als Fluchthelferin engagierte. Quelle: Wikimedia
Auch die afro-karibische Gegenkultur mit ihren „radikalen Narrationen“ des Black Atlantic, als welche Alan Rice die Flying Songs und Flying Tales to Africa bezeichnet hat, war verknüpft mit allen möglichen Formen episodischer und dauerhafter Flucht. Sie bildeten ein Gefüge widerständiger und revolutionärer Praktiken im Zeichen einer politisch umgewerteten Marronage.
1847 erläuterte der Sklavereigegner Victor Schoelcher die rassistische Zoologie der Sklavenhalter, die nicht zuletzt darauf gerichtet war, Flucht als politische Handlungsform zu diskreditieren: „Marroon nennt man den Sklaven, der die Flucht ergreift. Das Wort kommt ohne Zweifel von den Spaniern, welche den flüchtigen Sklaven cimmarron nennen. Ursprünglich gebrauchten sie diesen Ausdruck von Hausthieren, welche wild wurden, wenn irgendein Zufall sie aus der Umgebung der Menschen entfernte, und deshalb haben sie wohl auch ihre Neger so genannt.“
In der französischen Karibik unterschieden Sklavenhalter in ihren Betriebsinventaren zwischen petit marronage und grand marronage. Dem Königreich Palmares, das bereits 1605 in den Hügeln von Serra da Barriga im Nordosten Brasiliens von Maroons, freigeborenen Afrikanern und Einheimischen, gegründet wurde und bis 1694 Bestand hatte, wurde auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung nachgesagt, 20.000 bis 30.000 Mitglieder stark gewesen zu sein. Mit der Zunahme des transatlantischen Sklavenhandels im 17. Jahrhundert nahmen auch die Maroon Societies in Süd- und Zentralamerika, in Brasilien und Kolumbien sowie auf den Karibischen Inseln an Zahl und Größe zu. Die aus dem Nichts im unwegsamen Hinterland entstandenen Fluchtsiedlungen wurden als „Wundbrand“ mit kolonial-militärischer und „disziplinärer“ Gewalt erbittert bekämpft. Auf einmonatige Abwesenheit stand Auspeitschung und Brandzeichen, auf längere Abwesenheit: das Durchtrennen der Achillessehne, die Amputation eines Beines und im Wiederholungsfall die Todesstrafe.
Maroon bands überfielen Plantagen, um sich mit den notwendigen Dingen zu versorgen und um weitere Versklavte zu befreien. Die Existenz der Fluchtsiedlungen stellte die Institution der Sklaverei ganz konkret in Frage und stärkte den Rebellions- und Revolutionswillen der Versklavten. Verhießen sie doch im Falle des Scheiterns einen Rückzugsort für die Aufständischen, so die Einschätzung des Schweizer Historikers Albert Wirz. Die Mikropolitik der Flucht war revolutionär und konnte ihrerseits zu revolutionärer Makropolitik führen, wie Neil Roberts mit Blick auf die Haitianische Revolution betont. Im August 1791 begann im Norden der Halbinsel der erste Aufstand und leitete einen revolutionären Prozess ein, der 1804 zur Gründung des ersten unabhängigen schwarzen Nationalstaates Haiti führte. Nicht zufällig hatten Haitianische Revolutionäre wie Milscent de Musset, Boukman, Jean-François Papillon, Georges Biassou oder Jeannot erfolgreich Maroon bands kommandiert.
Politische Philosophie und moderne Marronage
Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ sind im November 1790 erschienen, ein Jahr nach der Französischen, ein Jahr vor der Haitianischen Revolution. Die französischen Jakobiner, so Burke, hätten sich nicht anders verhalten als eine „gang of Maroon slaves, suddenly broke loose from the house of bondage.“
Die rassistische Zoologie der Sklavenhalter und der politischen Philosophie der Neuzeit war zweifellos darauf bedacht, die politischen Verbindungslinien zwischen Flucht, Widerstand und Revolutionär-Werden zu kappen. Für Kolonialphilosophen wie Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder David Hume mit ihren Konzepten der Sklaverei und einer halbierten politischen Mündigkeit war Flucht als politische Handlungsform riskanter Selbstbefreiung nicht nur ungedacht, sondern undenkbar. Das Ungedachte wirkt symptomatisch bis in die Gegenwart nach und bestimmt noch unser entpolitisierendes Denken der Flucht.
Flucht als Zeitpraxis der Abwesenheit, die die kolonialen Gewalträume der Versklavung selbst in die Flucht schlug, Flucht als Raumpraxis, die Gewalträume durch Entzug schwächte, Flucht als body politics der voices of the voiceless bildeten ein Ensemble politischer Fluchtbewegungen der Selbstbefreiung ohne Rückkehr, aber auch ohne gesicherte Ankunft und gesetzlich verbürgter Freiheit.
Gilles Deleuze und Félix Guattari gehören zu den raren europäischen Denkern, die den „Fluchtlinien“ in Bezug auf das literarische Schreiben und als revolutionäre Praxis gefolgt sind. Neil Roberts hat die Marronage als politisches Konzept der Freiheit im Zeitalter der Revolutionen untersucht und Freiheit in Begriffen der Marronage gedacht. Albert O. Hirschman verdanken wir mit Exit und Voice die Aufmerksamkeit für zwei zentrale Handlungsformen des Protests. Flucht kann eine politische Artikulationsform des Widerstands und eine Handlungsform der Selbstbefreiung sein. Hier können das heutige politische Denken und die oral history mit Fluchtgesprächen anknüpfen, um des politischen Handlungssinns der Flucht in der Gegenwart inne zu werden. Das 21. Jahrhundert ist ein Zeitalter der Flucht, wenn nicht gar moderner Formen der Marronage mit digitalen politischen Verlautbarungsweisen und neuen widerständigen Fluchterzählungen.