Im März 2022 läutete ein neues israelisches Unternehmen die Glocke der NASDAQ in New York. Dieses Ereignis markierte eine neue Partnerschaft zwischen Tnuva, Israels größtem und bekanntestem Lebensmittelkonzern, und Pluristem, einem israelischen Biotech-Unternehmen, das auf Zellkulturen spezialisiert ist. Das erklärte Ziel der neuen Partnerschaft: die Vermarktung von „kultiviertem Fleisch“ (cultured meat).
Um mit Hilfe von Zellkulturen Fleisch herzustellen, entnehmen Wissenschaftler:innen Tieren zunächst Zellen. Anschließend lassen sie Fett- und Muskelgewebe in separaten Strängen wachsen, vermischen sie und formen daraus ein Produkt, das Hackfleisch ähnlich ist. Die Herausforderung besteht heute darin, diese Technologien auszubauen und ihre Kosten zu senken, um eine Massenproduktion zu ermöglichen. Obwohl dieses Ziel noch in weiter Ferne liegt, werben Start-ups bereits für kultiviertes Fleisch als ökologische Alternative zur herkömmlichen Fleischindustrie.
Eine vielversprechende Biotech-Industrie

Quelle: vegnews.com
Israel ist ein wichtiges Zentrum für kultiviertes Fleisch. Nach dem kalifornischen Silicon Valley finden sich hier die meisten Biotech-Start-ups und Pilotanlagen, die sich der Produktion von kultiviertem Fleisch verschrieben haben. Das erste im Labor erzeugte Steak der Welt wurde in Israel hergestellt. Hier wurde die weltweit erste Produktionsanlage für kultiviertes Fleisch lanciert. Als weltweit erstes Staatsoberhaupt kostete der ehemalige Premierminister Benjamin Netanjahu kultiviertes Fleisch. Im Jahr 2022 hat ein israelisches Start-up allein 347 Millionen USD aufgebracht – ein Rekordwert in diesem Sektor. Fast 40 % aller weltweiten Investitionen in kultiviertes Fleisch fließen in israelische Unternehmen, darunter vor Kurzem auch Investitionen der Schweizer Firmen Nestlé und Migros.

Quelle: elpais.com
Dass Israel in diesem Technologiebereich eine herausragende Stellung einnimmt, ist keine Überraschung. Das Land ist eine selbsternannte „Startup-Nation“, und die Israelis bezeichnen ihre Tech-Industrie liebevoll als „Silicon Wadi“ („Wadi“ bedeutet „Tal“ auf Arabisch und Hebräisch). Das Land hat in der Tat eine lange Tradition des Rückgriffs auf technologische Lösungen – so auch zur Bewältigung von Umweltproblemen.
Die Entscheidung, in kultiviertes Fleisch zu investieren, ist jedoch nicht nur auf Israels technologische Fähigkeiten zurückzuführen, und bei der Kultivierung von Fleisch geht es nicht nur um eine nachhaltige Zukunft. Technologien sind stets auch an die Geschichte der Orte gebunden, an denen sie entstehen und sich entwickeln. In Israel ist diese Geschichte in das koloniale Erbe seiner Fleischindustrie eingebettet, verbunden mit einem Jahrhundert der Sehnsucht nach Fleisch in einer natürlichen Umgebung, die eine solche eigentlich nicht zulässt.
Prekäre Fleischversorgung
In Palästina konsumierten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur die sehr Wohlhabenden regelmäßig Fleisch. Die Lage an der Ostküste des Mittelmeers mit ihren langen, heißen und trockenen Sommern ließ intensive Viehzucht nicht zu. Die meisten Bauern bauten Getreide an, Vieh wurde hauptsächlich als Arbeitskraft genutzt. Die Fleischversorgung wurde in Palästina durch ein regionales Handelsnetz gewährleistet, innerhalb dessen Händler die Tiere durch den Nahen Osten trieben. Sie kauften das Vieh von lokalen Züchtern und brachten es zu den regionalen Märkten. Im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und des wegen der boomenden Zitrusindustrie steigenden Wohlstands nahmen immer mehr Einheimische Fleisch in ihren Speiseplan auf.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Geschichte des Fleisches in Palästina eine neue Wendung. Die britischen Streitkräfte eroberten Palästina und beendeten damit die 400-jährige osmanische Herrschaft. Die neu gebildete britische Regierung Palästinas regierte über eine vielfältige Gemeinschaft von Muslim:innen, Christ:innen und einer Minderheit von (meist) sephardischen Jüdinnen und Juden. In der restlichen Region teilten die britischen und französischen Verwalter die ehemaligen osmanischen Gebiete unter sich auf und legten neue Grenzen fest, die die Zirkulation von Menschen und Vieh kontrollierten. Entlang dieser Grenzen wurden Quarantänestationen eingerichtet, neue Regeln und Vorschriften für den Handel mit Tieren in der Region aufgestellt und somit die historisch gewachsenen Viehhandelswege künstlich unterbrochen.

«Man hat uns über die Erfindung von ‚synthetischem Fleisch‘ in unserem Land informiert, hergestellt aus Pilzen und Auberginen…» «Was ist das für ein Tier?» «Seht, eine synthetische Kuh!», in: Ma’ariv, 11. November 1949; Quelle: The National Library of Israel
Während der Import von regionalem Vieh nach Palästina unter der britischen Herrschaft zurückging, nahm die Immigration von Menschen zu. Infolge der britischen Politik in Palästina und des zunehmenden institutionellen Antisemitismus in Europa kam zwischen den beiden Weltkriegen eine beispiellose Zahl jüdischer Siedler:innen aus Europa nach Palästina. Die Nachfrage nach Fleisch stieg in dieser Zeit sprunghaft an. Obwohl Fleisch auch in den vielen Gemeinschaften Palästinas auf Grund seiner nahrhaften und sättigenden Eigenschaften geschätzt wurde, waren die jüdischen Mittelschichten aus Europa daran gewöhnt, in größeren Mengen und mit größerer Regelmäßigkeit Fleisch zu essen als die meisten Palästinenser oder die lokalen sephardischen Jüdinnen und Juden.
Die zunehmende jüdische Einwanderung verschärfte die Spannungen zwischen den Gemeinschaften im Land und führte zum palästinensischen Aufstand von 1936-1939, einem entscheidenden Moment in der Geschichte Palästinas. Der palästinensische Generalstreik betraf Häfen, Straßen und Märkte und unterbrach die Lebensmittellieferungen der jüdischen Siedler. In den Augen der zionistischen Führer in Palästina verdeutlichte der Aufstand die Abhängigkeit der jüdischen Siedlungen von der palästinensischen Landwirtschaft und Infrastruktur, insbesondere, was die Versorgung mit Fleisch betraf.
In Europa waren die Juden seit dem Mittelalter mit dem Viehhandel verbunden. In Palästina hingegen hing der Fleischkonsum von palästinensischen und regionalen arabischen Züchtern ab. Jüdische Akteure (Importeure, Metzger, religiöse Autoritäten, städtische Beamte) versuchten, im Fleischhandel des Landes verstärkt Fuß zu fassen. In den 1930er Jahren begannen jüdische Viehhändler mit dem Import von Rindern aus Europa und stützten sich dabei auf ihre alten kontinentalen Netzwerke. Durch die Verschiffung von Tieren aus Übersee erweiterten die jüdischen Händler Palästinas den regionalen zu einem transkontinentalen Handel. Dieser Austausch über den Seeweg vermochte den regionalen arabischen Handel jedoch nicht zu ersetzen und funktionierte auch nicht gänzlich von ihm getrennt. Doch er ermöglichte es den jüdischen Händlern, in den Fleischhandel des Landes einzudringen, indem sie in Palästina europäische Rinder einführten, die dreimal grösser waren als die einheimischen Arten.
Während die jüdischen Händler in Importe investierten, kam es seitens der zionistischen Führung zu keinen Versuchen, die lokale jüdische Rindfleischproduktion zu fördern. Aus gutem Grunde: Die Umweltbedingungen in Palästina sind mit einer intensiven Viehzucht nicht vereinbar. Zwar strebte die zionistische Führung eine separate und autarke Siedlerwirtschaft an, doch die Fleischversorgung blieb weiterhin von palästinensischen Züchtern, regionalen arabischen Händlern und Überseeimporten aus Europa abhängig. All dies stand in einem krassen Widerspruch zu den zionistischen Bestrebungen nach einer autarken Wirtschaft.
Die Importzahlen zeigen jedoch, dass die jüdischen Konsumenten aus Europa weiterhin Fleisch aus verschiedenen Quellen kauften und trotz der wirtschaftlichen Pläne ihrer Führung große Mengen Rindfleisch verzehrten. Tel Aviv beispielsweise war finanziell, demografisch und auch in Bezug auf den Fleischkonsum die wichtigste Stadt des Siedlungsgebietes. Die sich entwickelnde Fleischinfrastruktur – insbesondere der 1931 errichtete Schlachthof – förderte die Expansion der Stadt und damit der gesamten jüdischen Besiedelung.
Statt nach einem Land, in dem Milch und Honig fließen, sehnten sich die Siedler:innen nach Fleisch als materiellem Ausdruck einer wahr gewordenen Utopie von Wohlstand und Überfluss. Die Verbesserung des Zugangs der Juden zu Fleisch in Palästina unter britischem Mandat mag zwar gegen wirtschaftliche Ideale verstoßen haben, diente aber dennoch dem zionistischen Ziel: dem Ausbau der Siedlung und der Kolonisierung Palästinas.
Zeit der Entbehrungen

Hauptsitz der Firma Tnuva; Quelle: Tnuva
Nach dem Ende der britischen Herrschaft im Jahr 1947 kam es 1948 zum Palästinakrieg. Als die israelischen Brigaden die Palästinenser von ihrem Land vertrieben, plünderten sie auch deren Viehbestand, nicht zuletzt, weil die durch den Krieg verursachte Störung des Handels zu einem Rückgang der Fleischimporte führte. In der Folgezeit beauftragte das neu gegründete israelische Landwirtschaftsministerium die Firma Tnuva mit der Zentralisierung des lokalen Fleischhandels. Zu diesem Zeitpunkt war Tnuva bereits der größte Lebensmittelhändler des Landes und war vor allem mit der jüdischen Milchindustrie verbunden. Auf seiner Website erinnert das Unternehmen daran, wie es in das Fleischgeschäft eingestiegen ist: Bis 1948 sei die Fleischversorgung von der „arabischen Landwirtschaft und nomadischen Beduinen abhängig [gewesen]. Doch mit der Staatsgründung verschwand diese Hauptquelle für Fleisch“. In Anlehnung an die hegemoniale israelische Haltung reduziert die Website von Tnuva die Palästinenser auf eine „Fleischquelle“ und ihren erzwungenen Exodus auf ein „Verschwinden“.
Für jüdische Israelis war die Fleischknappheit eines der prägenden Merkmale der ersten Jahre Israels. In diesen Jahren, die auch als Zeit der Entbehrungen bezeichnet werden, enthielt eine Lebensmittelration etwa 100 Gramm Fleisch pro Person und Woche. Beim Ministerium für Rationierung und Versorgung gingen zahlreiche Beschwerdebriefe ein. Die Bürger gingen auf die Straße, um gegen die Reduktion der Fleischportionen zu protestieren. Der Schwarzmarkt blühte. Der illegale Fleischhandel war so lukrativ, dass selbst die Feindseligkeiten zwischen den Bevölkerungsgruppen manche Juden und Palästinenser nicht davon abhielten, beim Fleischhandel über die feindlichen Linien hinweg zusammenzuarbeiten. Einige schmuggelten Fleisch aus palästinensischen Dörfern in jüdisch besiedelte Gebiete. Andere trieben ihr Vieh über die Grenzen der benachbarten arabischen Länder. Damit wurden jene historischen regionalen Viehhandelspfade wiederbelebt, die seit der osmanischen Zeit bestanden und unter der britischen Herrschaft weiterverwendet worden waren, wenn auch nicht mehr als reguläre Handelswege, sondern als Schmugglerpfade.
Die Fleischknappheit prägte auch die Entstehung der israelischen Küche. Mit dem Ziel, Fleisch zu imitieren, experimentierten Kochlehrer, Ernährungswissenschaftler und Hausfrauen mit verschiedenen vegetarischen Kreationen. In den 1950er Jahren behauptete ein israelischer Chemiker, „das neue Fleisch“ erfunden zu haben, oder, wie die Presse es nannte: „synthetisches Fleisch“. Die Kreation war größtenteils pflanzlich, fermentiert und versprach, zu schmecken wie das beste Stück Rindfleisch mit einem Hauch von Entenfett. Doch das „neue Fleisch“ wurde nie kommerziell produziert. Das Ministerium für Rationierung und Versorgung lehnte den Antrag des Erfinders auf Einfuhr der erforderlichen Zutaten ab.
Stattdessen wurden israelische Köche und Verbraucher ermutigt, sich mit Auberginen als dem fleischähnlichsten einheimischen Gemüse zu trösten. Fleisch durch verschiedene Ersatzprodukte ersetzen zu müssen, war sinnbildlich für die Opfer, die den neuen Israelis abverlangt wurden. Wie der berühmteste Ernährungswissenschaftler des Landes feststellte: „Der neue Einwanderer muss nicht nur lernen, er muss auch vergessen“. Wie das so oft bei nationalen Ernährungsstilen der Fall ist, wurden auch hier manche dieser Ersatzgerichte allmählich zu einem festen Bestandteil der israelischen Küche. Ein beliebter Aubergineneintopf, der dem Geschmack und die Konsistenz der osteuropäischen Delikatesse „Gehackte Leber“ nachempfunden ist, wird noch heute in israelischen Supermärkten verkauft.
Auf dem Weg zur Fleisch-Autarkie

Fleischtheke in israelischem Supermarkt; Quelle: israeltoday.co.il
Erst mit dem Wirtschaftsboom der 1990er Jahre und der Öffnung des israelischen Marktes für internationale Importe wurde Fleisch in Israel zu einem Grundnahrungsmittel. Und trotz der jüngsten veganen Trends ist Israel heute einer der größten Fleischkonsumenten der Welt. Im Jahr 2021 belegte es beim Rindfleischkonsum nach den Vereinigten Staaten, Argentinien und Brasilien Platz 4 unter den OECD-Ländern. Doch im Gegensatz zu diesen Ländern wird in Israel immer noch vergleichsweise wenig Rindfleisch produziert. Die einheimische Fleischindustrie ist von Fleischimporten und Schiffsladungen mit lebenden Tieren abhängig. Das Unternehmen, das nach wie vor den größten Anteil an der israelischen Fleischindustrie hält, ist Tnuva.
Rund 70 Jahre nachdem Tnuva vom Staat mit der Zentralisierung der Fleischindustrie beauftragt wurde, steigt die Firma jetzt in das neue Geschäftsfeld des cultured meat ein. Als Israels größter Lebensmittelproduzent mit dem größten Vertriebsnetz des Landes und täglich rund vier Millionen verkauften Produkten hat Tnuva das Potenzial, die Kulturfleischindustrie zu verändern. Im April gab die israelische Innovationsbehörde bekannt, dass Tnuva ein „nationales Konsortium für kultiviertes Fleisch“ leiten wird, das aus 14 Unternehmen und 10 akademischen Labors besteht. Das Konsortium wird eine erste Tranche staatlicher Mittel in Höhe von 60 Millionen NIS (etwa 17 Millionen CHF) erhalten, eine weltweit beispiellose Unterstützung der Regierung für den Kulturfleischsektor.
Dass die israelische Regierung im Labor gezüchtetes Fleisch unterstützt, beruht auf dem Wunsch, bei der Entwicklung einer hochmodernen und potenziell rentablen Lebensmitteltechnologie führend zu sein. Darüber hinaus behaupten die Befürworter des von Tnuva geführten Konsortiums, dass die Beschaffung nachhaltiger Proteinquellen Teil der nationalen Bemühungen um Ernährungssicherheit und -souveränität sei. Nach einem Jahrhundert der Sehnsucht nach Fleisch wird das Aufkommen einer Technologie, die es ermöglicht, Fleisch unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten vor Ort zu züchten und sich von der Abhängigkeit von ausländischen Importen zu befreien, als magische Lösung für zahlreiche, seit Langem bestehende Probleme angesehen. Dass Tnuva die Glocke der NASDAQ läuten ließ, erinnert uns jedoch auch daran, dass Fleischkulturen in der Vergangenheit oft auch den Kolonialismus gefördert haben.
Dieser Text erscheint in Kooperation mit dem Blog der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen (SGMOIK).