Cyborgs haben Konjunktur und sind mitten unter uns. Ein Rückblick in die Geschichte dieses Konzepts kann helfen, die ökonomischen Hintergründe unseres Dranges zur Selbstoptimierung durch Anpassung zu verstehen.

  • Patrick Kilian

    Patrick Kilian ist Historiker und wurde an der Universität Zürich mit einer Arbeit über die Entwicklung der US-Raumfahrtmedizin während des Kalten Kriegs promoviert. Heute arbeitet er als Storyteller bei einer internationalen Unternehmensberatung. Er interessiert sich für Mensch-Maschine-Beziehungen und für die merkwürdigen Wege, auf denen Wissen in die Welt und den Weltraum kommt.

Im März dieses Jahres publi­zierte der fran­zö­si­sche Web-Designer und Daten­schützer Aral Balkan in der ZEIT einen bemer­kens­werten Artikel. Unter dem Titel „Wir sind alle Cyborgs“ postu­lierte er, es sei notwendig, „dass wir die Grenzen dessen, was wir Ich nennen, neu defi­nieren und jene Tech­no­lo­gien mit dazu zählen, die wir nutzen, um über unsere natür­li­chen Fähig­keiten hinaus­zu­wachsen. Wenn wir unsere vernetzten Alltags­ge­gen­stände so begreifen – nicht als von uns getrennte Akteure, sondern als Erwei­te­rung unserer Persön­lich­keit –, können wir vieles klarer sehen.“ Längst scheinen diese Misch­wesen aus Leben­digem und Tech­no­lo­gi­schem also nicht mehr nur die Romane ständig anwach­sender Science-Fiction-Bibliotheken oder die Lein­wände Holly­woods zu bevöl­kern, sondern mitten unter uns zu sein.

Stelarc, »Third Hand«, 1981 – 1994 1981 | © Stelarc, Quelle: http://www.medienkunstnetz.de

Stelarc, „Third Hand“, 1981-1994, © Stelarc, Quelle: medienkunstnetz.de

Cyborgs sind der Inbe­griff, ja die ikoni­sche Figur einer Verschmel­zung, die in den letzten Jahren unter den Stich­worten „Human Enhance­ment“ und „Trans­hu­ma­nismus“ zu einem breit gefä­cherten Forschungs- und Entwick­lungs­feld der großen Tech­no­lo­gie­kon­zerne avan­ciert ist. Aral Balkan sieht in der Entwick­lung des Menschen hin zum Cyborg jedoch auch zuneh­mende Gefahren. Denn auch die Daten, die wir in Zusam­men­ar­beit mit unserer tech­no­lo­gisch vernetzten Umwelt laufend produ­zieren, sind, so Balkan, ein Teil unserer Persön­lich­keit. Das bedeutet nicht weniger als eine essen­ti­elle Neube­stim­mung dessen, was in unserer digi­talen Gegen­wart ein Subjekt ausmacht, eine Neube­stim­mung der Grenze, wo der Mensch aufhört und wo Tech­no­logie beginnt: „Ab einer gewissen Infor­ma­ti­ons­dichte werden Daten über eine Sache zu dieser Sache selbst. Ihre Daten sind Sie“, so Balkans beun­ru­hi­gende Diagnose. Diese Daten können selbst­re­dend auch zur Über­wa­chung und Kontrolle genutzt werden. Dann aber „wäre Über­wa­chung nicht länger nur ein Abfangen von Signalen, sondern Körperverletzung.“

Das digi­tale Selbst und seine ökono­mi­sche Verwertung

Allein, unsere Daten, also unser digi­tales Selbst, sind nicht nur Objekt staat­li­cher Über­wa­chungs­be­stre­bungen, sondern sie sind auch zu einem ökono­mi­schen Faktor geworden. Mit der massen­haften Samm­lung von Infor­ma­tionen, deren statis­ti­scher Auswer­tung sowie der Erstel­lung von Präferenz- und Verhal­tens­pro­filen erhoffen sich Unter­nehmen, uns als Verbrau­cher noch gezielter und effek­tiver zu adres­sieren. Dahinter steckt auch der prognos­ti­sche Traum, künf­tiges Verhalten inner­halb von Systemen voraus­be­rechnen und steuern zu können. Dieser Traum ist älter, als es scheinen mag. Er stammt aus der Theorie der Rege­lungs­technik der späten 1940er Jahre – der Grün­dungs­phase der Kyber­netik. Heute läuft die vor allem von großen Konzernen erträumte Regu­lie­rungs­tech­no­logie darauf zu, unsere Bedürf­nisse und Wünsche noch vor uns selbst zu kennen und vorher­sagen zu können. Das Kalkül besteht darin, uns in unserer Zukunft gezielt ‚abzu­holen‘ und dort gewis­ser­maßen schon mit Ange­boten auf uns zu warten.

Drogeriemarkt, Berlin-Neukölln, Bild: Philipp Sarasin

Droge­rie­markt, Berlin-Neukölln, Bild: Philipp Sarasin

Bereits im Februar 2012 veröf­fent­lichte der Jour­na­list Charles Duhigg unter dem Titel „How Compa­nies Learn Your Secrets“ in der New York Times einen aufse­hen­er­re­genden Artikel, in dem beschrieben wurde, wie es der US-Discounterkette Target mittels algorithmisch-statistischer Verfahren gelingt, aus dem Kauf­ver­halten ihrer Kundinnen auf eine mögliche Schwan­ger­schaft zu schließen und sogar den Zeit­punkt der Geburt etwa ein halbes Jahr im Voraus zu berechnen: „Take a fictional Target shopper named Jenny Ward, who is 23, lives in Atlanta and in March bought cocoa-butter lotion, a purse large enough to double as a diaper bag, zinc and magne­sium supple­ments and a bright blue rug. There’s, say, an 87 percent chance that she’s pregnant and that her deli­very date is some­time in late August.“ Es ist nicht allzu speku­lativ anzu­nehmen, dass es dem Unter­nehmen bald auch gelingen wird, die Schwan­ger­schaft noch vor der werdenden Mutter – viel­leicht sogar noch vor Eintritt der Schwan­ger­schaft – zu erahnen. Dass sich ein solcher Infor­ma­ti­ons­vor­sprung in viel­fäl­tiger Weise produktiv machen lässt, liegt hierbei auf der Hand.

Unter diesen Vorzei­chen und auch vor dem Hinter­grund der von Balkan skiz­zierten Entwick­lungen unserer digi­talen Gegen­wart, könnte es sinn­voll sein, noch einmal nach der Herkunft des Cyborg-Konzepts zu fragen und der aktu­ellen Debatte eine histo­ri­sche Kontur zu geben. Auf den ersten Blick führt diese Genea­logie, die sich bis in die phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie der Schweiz zurück­ver­folgen lässt, weit weg von Daten-Ökonomie und Cyber-Überwachung. Auf den zweiten Blick enthüllt sie jedoch die Heraus­bil­dung eines Menschen­bildes, das gerade in unserer Gegen­wart eine beson­dere wirt­schaft­liche Aktua­lität erlangt hat.

Raum­fahrt­me­dizin und Psychiatrie

In die Welt gekommen ist der Cyborg – also der ‚kyber­ne­ti­sche Orga­nismus‘ – 1960 auf einer von der US Air Force orga­ni­sierten raum­fahrt­me­di­zi­ni­schen Konfe­renz in San Antonio, Texas, die sich mit den „Psycho­phy­sio­lo­gi­schen Aspekten der Raum­fahrt“ befasste. Es ging darum heraus­zu­finden, wie der mensch­liche Körper, aber auch dessen Psyche, auf die Heraus­for­de­rungen des Welt­raums reagieren würden. Wie würden sich die Schwe­re­lo­sig­keit, die enormen Beschleu­ni­gungs­kräfte bei Start und Wieder­ein­tritt, aber auch die Isola­tion in der Raum­kapsel auswirken? Und würde der Mensch verläss­lich mit dem tech­no­lo­gi­schen System aus Rakete, Steue­rungs­ein­heit und Kontroll­zen­trum inter­agieren? Oder wäre er die Schwach­stelle inner­halb dieses Netz­werks von auto­ma­ti­sierten, kyber­ne­ti­schen Maschinen, wie von vielen Wissen­schaft­lern befürchtet wurde?

Der Astronaut als Cyborg: Alan Shepard bereitet sich auf seinen Suborbitalflug am 5. Mai 1961 vor, Quelle: NASA Images

Der Astro­naut als Cyborg: Alan Shepard bereitet sich auf seinen Subor­bi­tal­flug am 5. Mai 1961 vor, Quelle: NASA Images

Um diesen Fragen und Problemen zu begegnen, präsen­tierten zwei externe Wissen­schaftler, die nicht aus dem inneren Kreis der mili­tä­ri­schen Forschungs­ein­rich­tungen kamen, ein ambi­tio­niertes Projekt –  den Cyborg. Der Titel ihres Vortrags – „Drugs, Space, and Cyber­ne­tics: Evolu­tion to Cyborgs“ – deutete bereits daraufhin, dass es sich hierbei in erster Linie um ein medi­zi­ni­sches Konzept handelt. Die beiden Autoren, Nathan Kline, ein Psych­iater, der sich bereits einen Namen als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Psycho­phar­ma­ko­logie gemacht hatte, und Manfred Clynes, ein junger und ehrgei­ziger Compu­ter­spe­zia­list, waren beide in der Forschungs­ab­tei­lung des Rock­land State Hospi­tals beschäf­tigt. Nur wenige Kilo­meter nörd­lich von New York entfernt gelegen war Rock­land eine der größten psych­ia­tri­schen Kliniken der Verei­nigten Staaten, versorgte um 1960 bereits über 9000 Pati­enten und hatte durch die Anwen­dung von Lobo­to­mien und elek­tri­schen Schocks einen zwei­fel­haften Ruf in der ameri­ka­ni­schen Öffent­lich­keit erlangt. Als Kline 1952 als Leiter der Forschungs­ab­tei­lung nach Rock­land kam, war er ange­treten, die Psych­ia­trie zu moder­ni­sieren und fand schnell eine neue Methode, mit der die als schi­zo­phren diagnos­ti­zierten Pati­enten behan­delt werden konnten.

Cyborgs made in Switz­er­land: Anpas­sung und Leistung

Anfang der 1950er Jahre hatte Kline Kontakt mit dem Schweizer Chemie- und Phar­ma­zie­un­ter­nehmen Ciba (heute Novartis) aufge­nommen, das ihm ein neues Präparat zum Test an seinen Pati­enten anbot. „Reserpin“, so der Name des Wirk­stoffs, wurde aus der indi­schen Schlan­gen­wurzel (Rauwolfia serpen­tina) gewonnen und schien Wunder zu wirken: Bereits 1954 publi­zierte Kline erst­mals über seine Erfah­rungen mit der Substanz, die auf Schi­zo­phrene eine beru­hi­gende Wirkung habe und diese von ihren Wahn­vor­stel­lungen und Hallu­zi­na­tionen zu kurieren verspreche. Am Ende seines Arti­kels, der in den Annals of the New York Academy of Sciences veröf­fent­licht wurde, berich­tete er jedoch noch über ein weiteres mögli­ches Anwen­dungs­ge­biet: Die Einnahme von Reserpin habe einer Kran­ken­schwes­tern­schü­lerin beim Abschluss ihrer Ausbil­dung geholfen. Trotz hohem IQ und über­durch­schnitt­li­cher Moti­va­tion sei diese wegen zu großer Aufre­gung und Konzen­tra­ti­ons­schwie­rig­keiten zuvor immer wieder geschei­tert, habe durch das Medi­ka­ment jedoch die nötige Ruhe gefunden.

Clynes:Kline_Life-Magazine1960

Manfred Clynes und Nathan Kline, Quelle: Life Maga­zine (11. Juli 1960)

Dieser Ansatz, Menschen durch gezielte Medi­ka­men­tie­rung an ihre Umwelt anzu­passen und damit ihre Leis­tungs­fä­hig­keit zu verbes­sern, wurde schließ­lich auch zum Grund­ge­danken für den Cyborg als Proto­typen der künf­tigen Astro­nauten, und damit auf den gesunden Körper über­tragen. Mittels einer selbst­re­gu­la­tiven Pumpe, so die Idee von Kline und Clynes, sollten die Astro­nauten im Welt­raum auto­ma­tisch mit verschie­denen Medi­ka­menten versorgt und stets perfekt an die lebens­be­droh­li­chen Umwelt­be­din­gungen des Welt­raums sowie die tech­no­lo­gi­schen Anfor­de­rungen der Raum­kapsel ange­passt werden. In Momenten, die eine erhöhte Wach­sam­keit verlangen würden, könnten beispiels­weise Amphet­amine verab­reicht werden. In Stress­si­tua­tionen oder bei großer Aufre­gung, schlagen die beiden unter anderem Reserpin vor. Die Astro­nauten haben auf ihre Medi­ka­men­tie­rung selbst keinen Einfluss, diese verläuft voll­ständig auto­ma­ti­siert und wird vom kyber­ne­ti­schen Rege­lungs­kreis­lauf, der ständig zwischen Soll- und Ist-Zustand vergleicht, auf ein Optimum eingependelt.

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Im Denk­mo­dell der beiden Wissen­schaftler schienen Medi­ka­mente sowohl ein probates Mittel zu sein, um Menschen mit einer Geis­tes­krank­heit wieder auf ihre Umwelt ‚einzu­stellen‘, als auch Hoch­leis­tung und Effek­ti­vi­täts­stei­ge­rung bei Gesunden zu erzielen. Letzt­lich ging es in beiden Fällen glei­cher­maßen darum, Menschen produk­tiver und funk­ti­ons­fä­higer zu machen.

Unter­nehmer unserer Selbstoptimierung

Die heutigen Cyborgs unserer digi­talen Gegen­wart scheinen sich weit von ihrer Herkunft entfernt zu haben. Und doch weisen aktu­elle Tendenzen wie der Trend zur „Selbst­op­ti­mie­rung“ durch Mobile Apps direkt auf die Geburt des Cyborg-Konzepts aus dem Geiste der Raum­fahrt­me­dizin und Psych­ia­trie zurück. Mit Hilfe des Smart­phones und zusätz­lich einge­setzter Appli­ka­tionen, wie den so genannten Acti­vity Trackern, ist es heute möglich, als „Unter­nehmer seiner selbst“, der „für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produ­zent, seine eigene Einkom­mens­quelle“ (Foucault), an der stän­digen Opti­mie­rung der eigenen Fitness, Ernäh­rung, den Schlaf­rhythmen bis hin zur Kontrolle des Blut­zu­cker­spie­gels mitzu­ar­beiten. Opti­mie­rung und Produk­ti­vi­täts­stei­ge­rung werden hierbei oft synonym gesetzt.

Das Selbst vermessen und optimieren: Activity Tracker, Quelle: smartwatchnews.org

Das Selbst vermessen und opti­mieren: Acti­vity Tracker, Quelle: smartwatchnews.org

Vor dem Hinter­grund der von vielen Menschen als zuneh­mend flexi­bler und beschleu­nigter wahr­ge­nom­menen Arbeits­welt erscheint Selbst­op­ti­mie­rung dabei als ein Mittel der Anpas­sung und nimmt in vielen Fällen den Charakter einer ‚Selbst­nor­mie­rung‘ an. Auch Medi­ka­mente spielen nach wie vor eine wich­tige Rolle für diese Entwick­lung: So bewegt sich das 1954 eben­falls von dem Basler Unter­nehmen Ciba einge­führte Stimu­lanz „Ritalin“ heute in jenem ambi­va­lenten Span­nungs­feld zwischen medi­zi­ni­scher Fürsorge und Leis­tungs­stei­ge­rung, in dem auch der Cyborg 1960 entstanden ist. Nicht nur, dass die Behand­lung von Kindern und Jugend­li­chen mit der Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) zum Teil auch darauf abzielt, diese mit Blick auf den Anpassungs- und Leis­tungs­druck der Schule ‚produk­tiver‘ zu machen. In den letzten Jahren ist dieses Medi­ka­ment auch an den Univer­si­täten zu einer gefragten Lern­droge avan­ciert, die Konzen­tra­tion fördern und deren Störung durch die Umge­bung oder Selbstab­len­kung entge­gen­wirken soll.

Diese medi­zi­ni­schen Formen der Selbst­op­ti­mie­rung sind implizit nach der Logik der Cyborg-Vorstellung von Clynes und Kline struk­tu­riert. Sie verweisen darauf, dass der Cyborg trotz seiner digi­talen Gegen­wart als Daten-Erweiterung des Menschen eine sehr mate­ri­elle und greif­bare Geschichte hat. Alles andere als beendet, haben sich Denk­muster und Prak­tiken dieser Geschichte bis in unsere Gegen­wart gehalten und in den vorherr­schenden ökono­mi­schen Impe­ra­tiven neue Formen der Anwen­dung gefunden. 1997 veröf­fent­lichte die briti­sche Alternative-Rockband Radio­head auf ihrem Album OK Computer das Musik­stück Fitter Happier, dessen Text nicht gesungen, sondern von der ausdrucks­losen Stimme des synthe­ti­schen Sprach­ge­nera­tors Plain­Talk eines Apple Macin­tosh Compu­ters vorge­tragen wird. Dieser Text bringt die instruk­tive Program­matik des Cyborgs auch noch knapp zwanzig Jahre später präzise auf den Punkt: „Calm, fitter, healt­hier, and more produc­tive. A pig in a cage on antibiotics.“