Die Ferien sind wohl schon vorbei, oder bald vorbei, so wie der Sommer auch. Das macht nichts; freuen Sie sich auf eine Reihe verregneter Herbstwochenenden und eine ganze Reihe länger werdender Abende, denn für City on Fire brauchen Sie Zeit, viel Zeit. Dass das Buch genau 1070 Seiten lang ist, sollte Sie nicht zum Gedanken verleiten, Sie könnten wohl ein wenig darin ‚herumlesen‘, oder gar gleich zum Schluss springen, um zu wissen, wie es ‚ausgeht‘. Sie verstünden kein Wort. Nein, City on Fire müssen Sie ganz lesen, jede Zeile, auch die nur schreibmaschinengetippten oder gar die handgeschriebenen zwischendurch, und es wird Ihnen so gehen wir mir, dass Sie plötzlich merken, dass Sie schon auf Seite 700 angekommen sind und es bedauern, dass auch dieses Buch ein Ende haben muss.
Es geht um New York im Jahr 1977. Es war das Jahr des großen black-out, als sich die Stadt für eine schwarze, lichtlose Nacht ganz in jenes dystopische Chaos auflöste, auf das sie sich schon die ganzen Siebzigerjahre hindurch zubewegt hatte. Es war das Jahr, in dem in der Lower East Side, in Harlem und in der Bronx die für die weiße Arbeiterklasse gebauten und jetzt seit Jahren zerfallenden, von Schwarzen, Gestrandeten, Süchtigen, Punks und Ratten bewohnten Mietskasernen brannten. Sie brannten aus vielen Gründen, nicht zuletzt aber, um für die Erneuerungsprojekte der Achtzigerjahre Platz zu machen, wenn dann die Stadt als postmoderne Finanz- und Kunstmetropole ihre Auferstehung feiern wird.
Es geht aber vor allem um die Leben von etwa einem Dutzend Hauptfiguren (und den unzähligen irrlichternden Gestalten, die deren Bahnen kreuzen), arrangiert im Wesentlichen um zwei Pole: die Immobilien- und Investorenfamilie und -firma Hamilton-Sweeney auf der einen Seite, und eine Gruppe von Punks auf der anderen. Aber was heisst schon „Seite“. William Hamilton-Sweeney III., der gerade erst erwachsen gewordene künftige Erbe eines riesigen Familienvermögens, ist natürlich – das ist der notwendige Kniff des Autors, der die ganze Geschichte am Laufen hält – einer der Punks, oder vielmehr: Er war als Billy Three-Sticks der Leadsänger der schon legendären Punkband Ex Post Facto, schwul, heroinsüchtig, sehr untreuer Liebhaber eines schwarzen Literaturlehrers einer Mädchenoberschule (weiss und privat, natürlich, d.h. sehr ‚uptown‘, während die Punks alle südlich der Housten-Street leben). Die Nachfolge als Firmenchef und damit das ganz grosse Erbe hat Billy zwar ausgeschlagen (die Geschichte zwischen ihm und seinem Vater, dem unnahbaren, zunehmend altersschwachen und von einer Anklage wegen Insidergeschäften bedrohten Unternehmenschef William (Bill) Hamiliton-Sweeney II ist traurig, und man kann Billy’s Enttäuschung verstehen), aber der für den Sohn eingerichtete Trustfonds hilft, die Jugend mit ausgiebigem cruising, Punkrock und Heroin durchzubringen, ohne an eine andere Arbeit als erfolglose Malerei denken zu müssen (er wird später, very 80ties, ein berühmter Fotograf).

Garth Risk Hallberg, City on Fire, Buchcover; Quelle: fischerverlage.de
Die Geschichte beginnt in der Silvesternacht, als Samantha Cicciaro, eine junge Frau, ein 17jähriges Punkmädchen, nachts im Central Park angeschossen wird und dann den ganzen Roman hindurch im Koma liegt; sie wird weitergesponnen durch das Ehedrama der Schwester von Bill, die nicht mit dem Hamilton-Sweeny-Daddy gebrochen hat, dafür aber mit ihrem Mann, weil dieser – ein weiterer kleiner Kniff des Autors – mit Sam Cicciaro ins Bett (und sonstwohin) ging, bis zwei Kugeln sie blutüberströmt in den Silvesterschnee schickten. Der schleppende Versuch eines Deputy Inspectors des New York Police Departments, Licht ins Dunkel dieses Falles zu bringen, leuchtet vor allem dessen merkwürdige, aber durchaus rührende eigene Ehegeschichte aus, und trotz einiger B-Movie-würdiger Verhörversuche und etwas Blaulicht wird aus dem Ganzen nie ein Krimi, auch nicht annähernd. Viel wichtiger ist Bills Beziehungsdrama mit seinem schwarzen Lover aus der Provinz, den New York heillos überfordert (bis er sich einmal mit einem Skinhead prügelt), oder auch die Liebesverwicklungen der Punks (tatsächlich, soviel sei verraten, wichtiger, wie sich am Schluss zeigen wird, wobei: nicht ganz am Schluss, Sie werden die Stelle beim Vorausblättern nicht finden). Dazu das Coming of Age von Charlie, einem 17jährigen jüdischen Jungen aus New Jersey, der allerdings weiss, dass er adoptiert wurde und gar nicht jüdisch ist (und hinter dem Rücken seiner Mutter ein wenig in einer Gideon-Bibel liest), und der ein Punk werden möchte und dann auch langsam herausbekommt, dass einige dieser Punks in ziemlich dunkler Weise dem „Dämonenbruder“, dem Geschäftsführer der Hamilton-Sweeneys helfen, die Mietskasernen in der Bronx abzufackeln…
Kompliziert? Ach, es ist alles noch viel, viel verwickelter, weil das ein Roman über eine Stadt ist, die aus nichts anderem als aus diesen unendlichen Verwicklungen all dieser zufälligen Beziehungen und Überkreuzungen jener Leben besteht, die Garth Risk Hallberg in staunenswerter Präzision, abgrundtief, aber ohne jede Häme, und in langen Schleifen und Rückblenden in aller Ruhe entfaltet. Die kurzen Kapitel folgen short-cut-artig aufeinander, der Erzähler hockt zwar jeweils in den Köpfen der abwechselnd auftretenden Hauptfiguren, aber er sagt niemals „ich“, sondern beschreibt die Wahrnehmungsmaschine in diesen Gehirnen, ihren Versuch, das andauernde Chaos zu ordnen.
Und am Schluss, wie gesagt, fällt in allen fünf Boroughs New Yorks der Strom aus, von der Bronx bis zur Südspitze Manhattans, und die Stadt stülpt die in ihr längst schon simmernde Anarchie in einem Ausbruch wilder Plünderungen und Zerstörungsorgien nach aussen. Zugleich formen sich Demonstrationen, angetrieben von Radiomoderatoren: „Wir wollen unsere Stadt zurück!“ Die Kämpfe in der beginnenden Postmoderne werden nicht mehr dem revolutionären Utopia gelten, sondern anständigem Lebens- und Freiräumen in der Stadt. Wie die Punks, die die Mietskasernen in Brand steckten, waren sie die Vorboten der Gentrifizierung, die sie dann aus der Stadt vertrieben hat.
Aber das ist eine andere Geschichte; im Roman beschränkt sich die Postmoderne darauf, die sterbende Moderne der Siebzigerjahre in Gestalt der hinterlassenen Aufzeichnungen des an AIDS verstorbenen Billy Hamilton-Sweeney III. in einer Serie von Vitrinen in einer weissgetünchten Galerie in Soho auszustellen, zusammen mit einem Buchstaben für Buchstaben an die Wand geworfenen Text, der diese Geschichte erzählt, um sich dann wieder in weisses Licht aufzulösen.