Die Protagonistin der Geschichte, die einen Tag im Zoo umspannt, leidet unter einem existenziellen Kater. Auslöser für diesen Kater ist eine tiefe Schlaflosigkeit, hervorgerufen einerseits durch die Notwendigkeit, eine Entscheidung treffen zu müssen, anderseits durch die Geräusche der Nachbarn beim Liebesakt im Penthouse in Buenos Aires – einem Liebesakt, der jeden Morgen pünktlich um drei Uhr morgens vollzogen wird und trotz dicker Wände in erheblicher Lautstärke zu vernehmen ist. Die Ursache dieses Phänomens kann auch von einem entnervt konsultierten Akustikfachmann weder lokalisiert noch bekämpft werden. So flieht das Erzähler-Ich vor der entfesselten, wenn auch ritualisierten Animalität ihrer Nachbarn an einen Ort eingehegter, gleichsam gefesselter Animalität, nämlich den Zoo von Buenos Aires. Da der Kater – oder im Spanischen el ratón, die Maus – seine Ursache nicht im Alkoholexzess hat, folgt auch keine Ernüchterung, sondern im Gegenteil, ein Zustand gleichsam literarischer Trunkenheit.
Die Bank im Zoo, auf der sie sich erschöpft niederlässt, wird zum räumlichen Ausgangs- und Mittelpunkt der Erzählung. Sie denkt über den Zoo nach, einer an sich überlebten Institution, über Tiere und Menschen, über ihre Heimat Argentinien und über ihr Leben, das sich an einem Wendepunkt befindet, denn die laut kopulierenden Nachbarn sind Anlass dafür, über eine Rückkehr auf das Land nachzudenken, jedoch nicht nach Patagonien, an den Ort ihrer Kindheit, sondern nach Entre Rios, gemeinsam mit M., dem seltsam konturlosen Ehemann.
Hierher gehe ich immer, wenn ich merke, dass alles durcheinandergerät und nichts mehr nur im Geringsten verständlich scheint. Wenn die Menschen mir wie fremde, rätselhafte Wesen vorkommen. Dann kauere ich mich irgendwo zwischen den Käfigen zusammen, wie eins der Tiere, und mein Gemüt beruhigt sich.
Beruhigend ist nicht der Anblick der Tiere selbst, mit ihren Eigenarten und Gestalten, sondern das Verbundenheitsgefühl mit ihnen: „Ich war nicht als Einzige fehl am Platz hier.“ Es ist geradezu eine Bedingung des Trostes, die Tiere vor ihr nicht als Individuen wahrzunehmen. Sie sind zwar liebevoll, schläfrig beschrieben, doch vor allem Anlass und Ausgangspunkt zum Geschichtenerzählen. Und: „Ginge ich […] öfter in den Zoo, würde mein Kater erst recht unerträglich.“ Dann nämlich würde etwa aus einem Vertreter der Familie der Kamele ein „Einzeltier, mit all seinen Besonderheiten, Stimmungsschwankungen […]. Unmöglich, so ginge es auf keinen Fall. Es würde mir das Herz zerreißen, und das, wo ich jedes Mal schon mit blutendem Herz ankam.“ Und so werden von Patricia Highsmiths Bekenntnissen einer ehrbaren Küchenschabe bis zu John Bergers Reflexionen darüber, warum wir Tiere anschauen, von den berühmten menschenfressenden Löwen Ghost und Darkness aus Tsavo in Tansania bis zum Schimpansen Cholmondeley, der aus dem Londoner Zoo ausbrach und mit dem Bus der Linie 53 floh, allerlei fiktive und verbürgte Tiere in einer assoziativen Erzählkette miteinander verbunden.

María Sonia Cristoff, Unbehaust, Buchcover; Quelle: berenberg-verlag.de
Nun ist hinsichtlich eines assoziativen Schreibstils die Feststellung, dass hier Ordnung durchbrochen, hintergangen oder ignoriert wird, noch nicht sehr interessant. Relevant ist vielmehr die Frage, welcher anderen Ordnung die assoziativen Sprünge folgen. Cristoff gibt bisweilen (fast überdeutliche und dabei ironische) Hinweise auf ihr Verfahren. Ein wenig kokett werden Intertextualität und die eigenen Schreibstrategien vorgeführt, wenn sie etwa auf J.M. Coetzees Das Leben der Tiere verweist und dessen „Vermischung von Fiktion, Essay und autobiographischer Erzählung“, genau das, was sie selbst macht. An anderer Stelle heißt es über die Kinder im Zoo: „Meistens vergleichen sie die Zootiere mit irgendwelchen Artgenossen aus Film oder Fernsehen.“ Auch dies ein deutlicher Hinweis auf das eigene Vorgehen, nach einem kurzen Verweilen bei den realen Tieren sofort wieder zu den zahlreichen Tiergeschichten aus der Literatur, dem Zooarchiv und den Medien zu wechseln.
Der gelegentlich in Rezensionen erhobene Vorwurf, die Autorin würde sich nicht für Tierrechte einsetzen oder die Tiere nur zum Nachdenken über sich selbst benutzen, verfehlt den Text in zweierlei Hinsicht: Erstens handelt es sich um einen literarischen Essay und nicht um ein politisches Manifest, und zweitens widersteht die Identifikation mit den Zootieren einer sentimentalen Feier der „freien Natur“ als Gegenbild zum bösen Menschen. Die Abhängigkeit des Erzähler-Ichs vom Zoo besteht nicht darin, dass hier etwas Verlorenes oder Ursprüngliches zu suchen oder zu finden ist, sondern im gemeinsam geteilten Schicksal des Unbehaust-Seins.
María Sonia Cristoff, Unbehaust. Was Menschen mit Tieren machen, aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Berlin: Berenberg 2012.