In den Ferien eine rasante Fahrt zurück in die Sowjetunion der 1980er Jahre? Gegen die dortige ideologische Tristesse half nur Phantasie: beim Leben, beim Schreiben, in der Liebe. Heute: Julia Kissina, "Elephantinas Moskauer Jahre".

Aus der gierigen Umklam­me­rung der sowje­ti­schen Ideo­logie konnte man sich nur mit Hilfe von Phan­tasie befreien. Diese züch­tete die heute in Berlin lebende Schrift­stel­lerin und Künst­lerin Julia Kissina schon damals in den 1980er Jahren in allen Lebens­lagen: beim Leben, beim Schreiben, in der Liebe:

Immer, wenn ich mich hinsetzte, um zu schreiben, spürte ich das, was viel­leicht ein Jagd­hund spürt, wenn er in den Wald kommt: eine unglaub­liche Frei­heit. Hinter jedem Baum­stamm versteckte sich das Wild: Metapher-Enten, Phantasie-Fasane! Ich habe die Fährte aufge­nommen! Ich weiss, wo ich suchen muss!

Deshalb heisst ihr Buch nicht Auto­bio­gra­phie, sondern Roman. Roman heisst er aber auch, weil sie die Zeit zwischen 1981 und 1988 mit einer vergeb­li­chen Liebes­ge­schichte zusam­men­heftet: einen Roman zu haben bedeutet im Russi­schen, eine Liebe zu haben. Verliebt ist die jugend­liche Prot­ago­nisten in einen avant­gar­dis­ti­schen Dichter mit rotem Gesicht. Diesem folgt sie aus dem provin­zi­ellen Kiev ins haupt­städ­ti­sche Moskau. Der Dichter, den sie wahl­weise Toma­te­rich, Tomat­chen, Toma­ten­sauce, Toma­tosi, Tom-Sauce, Tomat Gurkowski nennt, versetzt sie in einen „Zustand idio­ti­scher Ehrfurcht“. Sich selbst nennt sie „im Dienste der Kunst“ Elephan­tina, wobei „Havaria Dosto­jew­zewa“, das Pseud­onym zweiter Wahl, die Sache besser trifft. Kissina parodiert den Feti­schismus der spre­chenden Namen in der russi­schen Lite­ratur, indem sie die Namen der Künstler der Moskauer Szene bis zur Unkennt­lich­keit mit einer guten Portion Blöd­sinn unter­wan­dert: Olga Pistole heisst eine Freundin, Kroko­dilzew ein Maler, Ehrwür­diger Pfeffer ein Denker, De. Be. Silber­blick ein Dichter.

Julia Kissina, Elephantinas Moskauer Jahre, Buchcover; Quelle: suhrkamp.de

Julia Kissina, Elephan­tinas Moskauer Jahre, Buch­cover; Quelle: suhrkamp.de

Wie schon in Vergiß Taran­tino (2005 auf Deutsch) und Früh­ling auf dem Mond (2013 auf Deutsch), den Kiever Kind­heits­er­in­ne­rungen, inter­es­siert sich Kissina nicht für das Auto­bio­gra­phi­sche als Gattung von real erlebter Vergan­gen­heit. Sie inter­es­siert sich viel­mehr für die Möglich­keiten des Romans, der auch als Auto­bio­gra­phie durch­gehen kann. Damit unter­scheidet sie sich wohl­tuend vom Virus der „neuen Aufrich­tig­keit“ und des „neuen Auto­bio­gra­phismus“, also von all jenen, die mit anti- oder post­post­mo­derner Geste glauben, dass die Beschrei­bung des eigenen Lebens bereits Dich­tung sei.

Kissina erzählt das Moskauer Under­ground­leben der 1980er Jahre, jener Zeit, als noch jeder Haus­meister ein Dichter oder Maler war. Das Sowje­ti­sche dient ihr als theatral-absurde Kulisse, auf die man nur mit Gegen­theater antworten kann, etwa wenn Elephan­tina wegen einer Aufent­halts­ge­neh­mi­gung für Moskau eine fiktive Hoch­zeit veran­stalten muss. Zu Theater fordert aber nicht nur der Staat heraus, sondern auch die Kunst­szene, etwa die Lesung von Allen Gins­berg inmitten der Moskauer Under­ground­dichter, die kein Englisch verstehen, aber trotzdem lachen.

„Während das Land zerfiel, wurden wir erwachsen“, beschreibt Kissina die Achzi­ger­jahre. Die Sowjet­union selbst schaffte es aus dem Stadium der Kind­heit nicht in eine puber­täre Phase. Ilya Kabakov, ein anderer Moskauer Konzep­tua­list, schrieb in seinen Erin­ne­rungen an diese Zeit, dass der Kommu­nismus den Einzelnen in ein ewiges Kind verwan­deln wollte, indem er alle – auch die Erwach­senen – nie aus der Erzie­hungs­an­stalt entlassen hat.

Doch Kissinas Elephan­tina gehört nicht zum „Klumpen der Angst, der sein Leben im Kampf mit den widrigen Umständen verbrachte“. Sie ist eine Rebellin. Und Kissinas Buch entpuppt sich am Ende als Utopie, als poetisch-politische Utopie. Damit ist nicht etwa die kommu­nis­ti­sche Utopie gemeint, eher deren Gegen­teil – die Utopie der Unan­ge­passt­heit. Elephan­tinas Motto: „Keinen Einflüssen, Sugges­tionen oder Ratschlägen nach­geben. Sich nie verlieben“. Weil sie es weder ein- noch durch­hält, bleibt das Motto Teil ihres Lebens und kann nicht zu Ideo­logie erstarren.


Julia Kissina, Elephan­tinas Moskauer Jahre, aus dem Russi­schen von Ingolf Hopp­mann und Olga Kouv­chin­ni­kova, Berlin: Suhr­kamp 2016.