Mit seiner Rückkehr nach Reims hat Didier Eribon seine Vergangenheit aufgesucht, um sich von ihr heimsuchen zu lassen. Die Heimsuchung geschieht allerdings nicht unvermittelt, sondern im Medium einer Analyse, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Bekannt geworden vor allem als Foucault-Biograf, außerdem als LGBT-Aktivist sowie als philosophisch und soziologisch gebildeter Kritiker der Psychoanalyse, löste Eribon mit der auf Französisch bereits 2009 erschienenen Rückkehr nach Reims (Retour à Reims) ein großes Medienecho aus. Dieses hat sich nun mit der im Mai dieses Jahres bei Suhrkamp erschienenen Übersetzung auch im deutschsprachigen Raum eingestellt. Was ist das Besondere an diesem Buch?
Die eigene Vergangenheit aufzusuchen – um schreibend herauszufinden, wie man zu dem geworden ist, der man ist: Das ist auf den erst Blick kaum innovativ, so gut wie jede Autobiografie funktioniert so. Aufregend an Eribons Rückkehr ist jedoch gerade, dass es dem Autor nicht einfach um sich selbst geht, sondern konsequent um die sozialen Bedingungen, Grenzen und – spärlichen – Chancen, aus denen heraus er sich seinen Weg aus der Provinz bis ins Zentrum der intellektuellen Avantgarde in Paris bahnte. Das liest sich streckenweise wie ein Bildungsroman und eine Aufsteigergeschichte zugleich. Und damit nicht genug: Die Coming-of-Age-Geschichte ist außerdem eine Coming-Out-Geschichte und nicht zuletzt eine politische Analyse sowie eine soziologische Milieustudie.
Der Faden, der das alles zusammenhält, ist zwar Eribons erzählendes Ich, aber dieses Ich betreibt kaum Introspektion. Der Blick geht nicht nach innen, sondern er schwebt leicht außerhalb dieses Ichs. Von dieser Position aus wird das Milieu rekonstruiert, in dem Eribon großgeworden ist: der Vater Arbeiter, die Mutter Putzfrau, Armut ist der Normalzustand, Bildung liegt in der Ferne und erscheint auch kaum erstrebenswert, gewählt werden die Kandidaten der Kommunistischen Partei. Zum Vater, an dessen Begräbnis Eribon nicht teilnimmt, gibt es kaum eine Beziehung: „die Verbindung zu meinem Vater [war] für mich rein biologisch-juristisch: Er hatte mich gezeugt, ich trug seinen Namen, ansonsten war er mir egal.“ Das zurückliegende Begräbnis wird gleichwohl zum Anlass, nach Reims, der Stadt seiner Herkunft, zurückzukehren. Eribon führt Gespräche mit seiner Mutter, begibt sich auf Spurensuche, recherchiert wie für einen Roman, dessen Protagonist fast zufällig er selbst ist.
Oder eben nicht der Protagonist: Denn Eribon verweilt tatsächlich kaum je bei sich selbst, er sieht sich eher als Reflektor, aber auch als Spielball und allenfalls als Rebell in einem Gesellschaftsspiel, in dem ein Arbeiterkind wie er im Grunde keine Chancen hat, das Milieu zu verlassen, in das es hineingeboren wurde. Bildung und Zutrauen wären dafür nötig, finanzielle Ressourcen, aber auch – wie Eribon mit Bourdieu analysiert – ein Wissen um den Habitus, die Beziehungen, die ‚feinen Unterschiede‘: ein eher stummes Wissen, das man auf seinem Lebensweg durch Sozialisation mitbekommt – oder eben nicht.
Warum es ausgerechnet ihm – im Unterschied etwa zu seinen Brüdern – gelungen ist, aus dem Milieu auszubrechen, das für ihn keinen Weggang vorgesehen zu haben scheint, ist für Eribon selbst eine der Fragen, die ihn umtreiben. Dass die statistischen Chancen nahezu gegen Null gehen, seinen ‚Platz in der Gesellschaft‘ zugunsten eines vielleicht selbst gewählten Platzes zu wechseln, betont Eribon immer wieder. Chancengleichheit? Wo finden wir sie wirklich? Und was wäre dafür zu tun? Eribon gibt auf diese Fragen kaum Antworten. Überhaupt ist Eribon zurückhaltend beim Versuch, Antworten auf die von ihm selbst gestellten Fragen zu geben. Das liegt allerdings auch und zunächst daran, dass er sich darum bemüht, überhaupt zu verstehen, wie eine Gemeinschaft, eine Gruppe, ein Milieu Präferenzen und Aversion gegenüber bekannten oder neuen Ideen, aber auch gegenüber anderen Gemeinschaften und Gruppierungen ausbildet.

Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Buchcover; Quelle: suhrkamp.de
Zentral für Eribon ist die Frage nach der politischen Partizipation. Wie kommt es, so fragt er sich, dass praktisch sein ganzes ehemaliges familiäres und soziales Umfeld, das sich in den 1960er und 1970er Jahren politisch noch mehrheitlich durch die Kommunistische Partei vertreten sehen konnte, seit den 1990er Jahren zunehmend konservativ und nationalistisch wählt, und zwar auch dann, wenn die entsprechenden Parteien munter jenen Sozialabbau vorantreiben, der zu Lasten eines Gutteils der eigenen Wählerschaft geht? Wie ist es möglich, dass eine politische Interessensvertretung derart schief verlaufen kann? Eribon spart in seinem Buch nicht mit einer fundamentalen Kritik an der etablierten Linken, die es versäumt habe, die Klassenfrage konsequent auf die Agenda zu setzen – ein Versäumnis, das damit zusammenhänge, dass mit der (vielleicht berechtigten) Kritik am Klassenbegriff zugleich die Anerkennung von realen Benachteiligungen und das Interesse an real Benachteiligten geschwunden sei.
Diese Lücke, so Eribons Diagnose, sei von rechtsnationalen Parteien wie dem Front National ausgenutzt worden, um für die Benachteiligten den Schein einer Anerkennung ins Spiel zu bringen, der durch Abgrenzung (gegenüber den Ausländern, aber auch gegenüber den ‚Eliten‘ etc.) funktioniert und dadurch die Suggestion eines Anerkannt-Werdens erzeugt. Es handelt sich dabei allerdings um eine vollkommen fragwürdige Form der Anerkennung, weil der Selbstwert der Anerkannten sich mehr oder weniger in der beschämenden Motivation erschöpft, sich noch stärker Benachteiligten gegenüber überlegen fühlen zu dürfen. Der Rassismus, von dem Eribon sagt, dass er auch der Arbeiterschaft seiner Kindheitszeit keineswegs fremd war, findet in einem politischen Umfeld des nahezu totalen Desinteresses für chancenlos gehaltene und gemachte Mitmenschen günstige Bedingungen vor.
Mit etwas Abstand frage ich mich, ob der Rassismus meiner Mutter (der Tochter eines Immigranten!) und ihre ungehemmte Verachtung für eingewanderte Arbeiter (insbesondere ‚Araber‘) nicht Mittel waren und bis heute sind, um sich gegenüber noch ärmeren und ohnmächtigeren Menschen in Überlegenheit zu wiegen. Sie gehörte von jeher einer sozialen Gruppe an, die permanent mit ihrer eigenen Unterlegenheit konfrontiert war. Vielleicht erfuhr sie in der Abwertung der anderen eine Aufwertung ihres Selbstbilds, vielleicht sah sie darin einen Weg, die eigene Existenz zu verteidigen.
Eribons Vorwurf an die Linke: Sie interessiere sich schlicht nicht mehr – nicht einmal mehr zum Schein, wie die rechtsnationalen Parteien – für ihre möglichen Wähler, sondern allenfalls noch für sich selbst. Etwas abstrakter formuliert, geht es Eribon um die Frage, wie politische Repräsentation und Partizipation denn überhaupt vonstattengehen soll:
Wir stehen damit vor der Frage, wer das Recht hat, das Wort zu ergreifen, und wer auf welche Weise an welchen politischen Entscheidungsprozessen teilnimmt – und zwar nicht nur am Erarbeiten von Lösungen, sondern bereits an der kollektiven Diskussion darüber, welche Themen überhaupt legitim und wichtig sind und daher in Angriff genommen werden sollten.
Die auch von Eribon nicht gelöste Frage lautet, wie es möglich ist, eine politische Interessenvertretung zu ermöglichen, die auch nur einigermaßen diesen Namen verdient. Die Rolle der Medien in diesem Zusammenhang wird von Eribon leider kaum analysiert. Dabei ist es doch offenkundig, dass die Medien – ebenso wie die Bildungsinstitutionen – im Prozess der Einsichtsgewinnung in die eigenen Interessen eine zentrale Rolle spielen – oder spielen sollten. Das Feld der Medien – und erst Recht der Bildung – darf daher nicht jenen überlassen werden, die nur ihre eigenen (vornehmlich finanziellen) Interessen im Blick haben.