Bei der preisgekrönten Insektopädie des Anthropologen und Lateinamerikaexperten Hugh Raffles, der sein Doktorat an der Yale School of Forestry and Environmental Studies abschloss, handelt es sich um ein leicht verrücktes Buch, organisiert in 26 Lemmata von A bis Z, deren einzige Systematik es ist, jedem Buchstaben des Alphabets einen Eintrag zuzuordnen, der wiederum in unterschiedlich viele und unterschiedlich lange Unterkapitel eingeteilt ist. Unter den einzelnen Stichwörtern – von Aether über Fieber/Traum, Juden, Kafka, Lesen bis hin zu Tanzfliegen, Visionen und Yajima-san oder die Sehnsucht und Zen und die Kunst des Ssss… – finden sich Essays und Meditationen, historische Skizzen und entomologische Referate, Beobachtungen und Reflexionen zum Verhältnis Mensch und Insekt und umgekehrt. Geschrieben mit großer Liebe zum Detail – und zu allem möglichen Anderen –, in einer wunderbar ernsthaft-verspielten Sprache und mit umfassender Sachkenntnis verfasst, könnte das Buch selbst Aufnahme in eine Enzyklopädie naturwissenschaftlicher Hochkomik (im Sinne der Neuen Frankfurter Schule) finden. Dort würde es dann neben Charles Darwins verliebten Vögeln („bis der chinesische Gänserich eine der gemeinen Gänse verführte“), der konzentriert lauernden Zecke von Jakob Johann von Uexküll („nicht Maschine, sondern Maschinist“) und natürlich Brehms Thierleben stehen (als „gut gelaunt und urteilsfroh“ bezeichnete Ulrich Greiner den großen Zoologen einmal sehr zu Recht.
Der Eintrag A wie Aether ist Beispiel für einen der historischen Exkurse. Seit den 1930er Jahren versuchten Forscher mit Flugzeugen, unter ihnen Perry A. Glick vom amerikanischen Büro für Entomologie und Pflanzenquarantäne, das Geheimnis der Migration von Insekten zu erforschen, insbesondere um der Baumwollkapselmotte und anderen Motten beizukommen, „die sich durch die natürlichen Ressourcen der Nation hindurchfraßen“ (S. 9). Sie flogen immer höher und fanden immer mehr Insekten. In einer Luftsäule über eineinhalb Quadratmetern Land in Louisiana in einer Höhe zwischen fünfzehn Metern und mehr als vier Kilometern befanden sich je nach Jahreszeit zwischen 25 und 36 Millionen Insekten, unsichtbar für das menschliche Auge.
Halt. Wenn Sie drinnen sind, gehen Sie ans Fenster. Öffnen Sie das Fenster und wenden Sie Ihr Gesicht zum Himmel. All dieser leere Raum, die tiefe Ausdehnung des Äthers, der Himmel hoch über Ihnen. Der Himmel ist voller Insekten, und alle sind sie irgendwohin unterwegs. Jeden Tag, über uns und um uns herum, die kollektive Reise von Milliarden von Lebewesen. (S. 15/16)
Beschäftigt man sich länger mit Entomologie, dann fällt auf, dass Insektenforscher eine ganz eigenartige Mischung aus einer fast schon geheimbündlerischen Faszination und Kennerschaft, echter Sympathie und gnadenlosem Zugriff auf die einzelne Kreatur zeigen. Die Forscher schneiden und betäuben, verpflanzen und lähmen, töten und erwecken zum Leben. Dabei halten sie immer wieder verzückt inne und wenden sich zärtlich, geradezu mütterlich dem hilflosen Exponat unter dem Mikroskop zu. Sehr schön lässt sich dies in den Filmen des Schweizer Insektenforschers Urs Wyss betrachten (Insekten – Unbekannte Welten 1-3), der vergnügt in die Kamera von der Persönlichkeit der Insekten erzählt, während seine Hände weiterhin damit beschäftigt sind, ein Kälteexperiment durchzuführen.

Hugh Raffles, Insektopädie, Buchcover; Quelle: www.matthes-seitz-berlin.de
Hugh Raffles bezeichnet Insekten denn auch als Outlaws, und zwar in zweierlei Hinsicht: Sie halten sich nicht an menschliche Gesetze bzw. gelten diese nicht in ihren Parallelwelten, und sie fallen aus dem menschlichen Recht, das sie nicht als Tiere begreift. Sie können beispielsweise so viele Fliegen und Mücken töten, wie Sie möchten und Schmetterlingen die Flügel ausreißen, wenn Ihnen danach ist. Schon bei der kleinsten Maus hört der Spaß allerdings auf (nachzulesen im Kapitel über Crush-Videos). Es fällt schwer, sich Insekten als Tiere zu denken. Sie besitzen ein Exoskelett, kriechen und wimmeln, haben sechs Beine, Auswüchse am Kopf und merkwürdige Augen, aber es gibt schließlich sehr viele, sehr merkwürdige Tiere, die uns doch irgendwie nahekommen. Insekten besitzen allerdings keine Mimik, „no mobile faces“, wie Hugh Raffles sagt. Und mehr noch, sie zeigen keinerlei besonderes Interesse an uns. Keine Furcht, keine Zuneigung, keine Neugierde. Vielleicht liegt darin eine tiefe Kränkung. Und sie haben etwas Unheimliches an sich. Während ihre Panzer und Hüllen sie solide nach außen abschirmen, sind sie im Inneren merkwürdig fluid und verwandeln ihre Gestalt und Lebensweise während der Metamorphose vollständig. Ein ganz anderes Verhältnis allerdings besteht in Japan oder China zu Insekten und reicht von einer mehr als tausend Jahre alten Kultur der Haltung von Grillen als „emotional companions“ zum Kampf und zur Freude an ihrem Gesang bis hin zu den Mangas und Anime, in denen liebenswürdige Hybride aus Menschen und Insekten oder überirdische Insekten auftauchen.
Warum sollte man sich überhaupt für Insekten interessieren? Hier wäre kurz und bündig mit Raffles zu antworten: „We all condition each other’s lives.“ In erschreckender Weise zeigt sich dies im Abschnitt zu Cornelia Hesse-Honeggers Arbeit. Die Zürcher Künstlerin und naturwissenschaftliche Zeichnerin konnte nachweisen, dass selbst schwache Strahlungen in der Nähe von Atomkraftwerken zu grotesken Deformationen bei den von ihr geliebten Blattwanzen führen (auch hier wieder die seltsame Kombination: unter dem Mikroskop eine Wanze, spricht sie vom „Gefühl“ der „Wanzen für bestimmte Situationen“ und ihren „individuellen Unterschieden“).
Das Buch wurde von Judith Schalansky gestaltet, einer Autorin und Buchmacherin, die acht Bände der Reihe Naturkunden im Verlag Matthes & Seitz verantwortet (der Band Raben von Cord Riechelmann ist auch ganz unbedingt zu empfehlen). Der Umschlag aus grünem und blauem Leinen mit eingewobenen Insekten irisiert lila und erinnert an den Panzer eines Käfers. Das Heupferdgrün des Seitenschnitts wird bei den Kapitelzahlen und Überschriften wieder aufgenommen. Und es dient der farblichen Verfremdung der zahlreichen Illustrationen. Es gibt einen kleinen feinen Fußnotenapparat, aber leider keinen Index – wobei sich die Frage stellt, nach welcher Systematik dieser wohl sinnvoll angelegt sein könnte. Dann doch lieber das Buch wieder und wieder zur Hand nehmen und darin blättern und sich über Zufallsfunde freuen… Warum allerdings die Auswahlbibliografie der amerikanischen Originalausgabe von 2010 (Random House) fehlt, bleibt ein Rätsel.