Susan Sontag (1933–2004) bleibt als Essayistin, Schriftstellerin und Kritikerin nach wie vor zu entdecken. Was ihre Analysen zur Kultur und Politik auch heute noch so lesenswert macht, ist ihr rückhaltloses Bekenntnis zur Gegenwart – zu ihrer Gegenwart: Je direkter sie sich ihrer Gegenwart zuwendet, desto weniger fern erscheint diese aus heutiger Sicht. Der Wille und das Vermögen, die Gegenwart und die Geschichte dieser Gegenwart nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern sich als Teil von ihr zu begreifen, ist kennzeichnend für Sontags Schreiben. Schreiben als Zeitgenossenschaft: das ist das Programm. Sontag folgte dem Anspruch, die Gegenwart durch teilhabende Analyse erkennbar zu machen – auch für künftige Leserinnen und Leser.

Susan Sontag, Tagebücher 1964–1980, Buchcover; Quelle: hanser-literaturverlage.de
In ihren Tagebüchern wird dieser Anspruch am deutlichsten fassbar: Für Sontag gibt es keine Ästhetik, die nicht mit einer bestimmten Ethik verknüpft wäre – und umgekehrt gibt es kein soziales und kein individuelles Leben, das nicht auf Kommunikation und also auf Darstellung und in diesem Sinne auf Ästhetik angewiesen wäre. Die Frage ist nur, auf welche? Welche Form soll das Leben gewinnen, das man führt?
Sontags Tagebücher kreisen unablässig um diese Fragen – und weil sie das so beharrlich, so schonungslos und so detailreich tun, erfährt man in den einzelnen Einträgen nie nur etwas über die Zeit, von der sie berichten, sondern immer auch etwas über die Form und Haltung, mit der Sontag sich selbst im Medium des Schreibens als ‚gegenwärtig‘ zu begreifen versucht: fragend, wahrnehmend, urteilend.
Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr verfasste Sontag Tagebucheinträge. 2008 brachte ihr Sohn David Rieff eine Auswahl der Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1947–1963 (Reborn) heraus. 2012 folgte ein Band mit einer Auswahl der Aufzeichnungen von 1964–1980 (As Consciousness is Harnessed to Flesh). Beide Bände erschienen kurz danach auch in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag.
Als Ferienlektüre empfehlen wir den Band mit den Aufzeichnungen von 1964–1980. Er wurde von Kathrin Razum hervorragend ins Deutsche übersetzt und erhielt den (gegenüber dem englischen Original neuen) Titel Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Der Titel ist ein Zitat aus dem Eintrag vom 20. November 1965. Er verdeutlicht das Verfahren, das Sontag ihren Aufzeichnungen als Orientierung zugrunde legt. Das Schreiben erweist sich in diesen Aufzeichnungen als eine Form des Denkens. Am selben Tag notiert Sontag:
Dass ich denke, wirklich denke, kommt nur in zwei Situationen vor:
an der Schreibmaschine oder wenn ich in meinen Notizheften schreibe (Monolog)
wenn ich mich mit jemandem unterhalte (Dialog).
Allerdings handelt es sich auch bei der ersten Situation nicht bloß um einen Monolog, sondern, indem das Schreiben zum Denken anhält und vice versa, um einen wechselseitigen Prozess. Es ist dieser Prozess, der die Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen so aufschlussreich macht. Es geht darin nie alleine darum, etwas Gegenwärtiges festzuhalten, sondern darum, das Beschriebene auf seine Grundlagen und möglichen Wirkungen hin zu analysieren: die Geschlechterverhältnisse, das Verhältnis von Ästhetik und Ethik, Sexualität und Macht, Moral und Politik, der Vietnamkrieg. Die Pointe: Nichts wird als alternativlos beschrieben. Oftmals nehmen die Beobachtungen ihren Anlass in ganz persönlichen Erlebnissen, in Zitaten aus Gesprächen, Erinnerungen, Reaktionen. Dazwischen stehen Lektüreprotokolle, Listen mit gesehenen Filmen, Skizzen für mögliche Buch- oder Filmprojekte.
Das Tagebuch ist ein Laboratorium für Gedanken, die noch nicht ausgereift sein müssen, aber weiterverfolgt werden können und sollen. In den besten Momenten überträgt sich das auf die Lektüre. Am ehesten geschieht dies, wenn Sontag selbst in ihren Eintragungen, die sich oftmals um persönliche Unzulänglichkeiten, Verstrickungen und Krisen drehen, nicht versinkt, sondern zu knappen und klaren Formulierungen gelangt, an die man dankbar anknüpfen kann. So wie hier (31. Juli 1973):
Das Problem, richtig erfasst = die Lösung.
Oder hier:
Intellektuelle(r) zu sein heißt, dem grundlegenden Wert der Pluralität sowie dem Recht auf […] kritische Opposition innerhalb der Gesellschaft […] anzuhängen.
Die drei Übel – Misogynie (Sexismus), Antisemitismus und Antiintellektualismus – die ich bekämpfe.
Wenn ich für irgendetwas bin, dann ist es – schlicht und einfach – die Dezentralisierung der Macht.
Sätze also, die sitzen. Und an die Adresse der Kunstliebhaber, Kritiker und Wissenschaftler:
Man hört oft, etwas sei ‚langweilig‘ – als wäre das die maßgebliche Instanz, und Kunstwerke hätten kein Recht, uns zu langweilen.
Kunst hervorheben als Instrument der Analyse (und nicht des Ausdrucks, der Aussage etc.).