Es ist manchmal gut, alte Bücher wieder zu lesen: zum Beispiel Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“, die Erinnerung des jungen Haffners an die Jahre 1914-1933. Dieses 1939 im Exil geschriebene Buch über die nazistische Heimsuchung Deutschlands bekommt gerade wieder eine unheimliche Bedeutung.

  • Franziska Schutzbach

    Franziska Schutzbach hat Soziologie, Me­dien­­wissen­schaften und Ge­schlech­ter­forschung an der Uni­versität Basel studiert. Sie lehrt und forscht am Zentrum Gender Studies der Uni Basel.
Sebastian Haffner, ca. 1939; Quelle: peter-adler.de

Sebas­tian Haffner, ca. 1939; Quelle: Bundes­ar­chiv / peter-adler.de

Sebas­tian Haffner war bei der Macht­er­grei­fung der Nazis 26 Jahre alt und studierte Jura. 1938 emigrierte er nach England. Dort schrieb er auf, was er in den Jahren vor und während der Macht­er­grei­fung erlebt und beob­achtet hatte. Es sind die Berichte eines Augen­zeugen, ohne historisch-wissenschaftlichen Anspruch, aber von einer Beob­ach­tungs­schärfe, dass manche Histo­riker später bezwei­felten, die Notizen seien tatsäch­lich in dieser Zeit und nicht erst nach dem Zweiten Welt­krieg entstanden (die Zweifel erwiesen sich als falsch).

Entgegen der Meinung, eine scharfe Sicht bedürfe einer großen zeit­li­chen Distanz, beweist Haffner, dass man auch mitten im Getümmel blinde Flecken erkennen und sich von vorherr­schenden Denk­weisen frei­ma­chen kann. Schon 1939 fragte er: Wie konnte es so weit kommen? Warum hat sich kaum jemand gegen das Einsi­ckern der Nazis und der Nazi-Ideologie gewehrt?

Die Versu­chung, rechts zu werden

Die Notizen wurden erst 2000, nach seinem Tod, veröf­fent­licht und sind breit rezi­piert worden. Haff­ners Zugang besticht durch die Verknüp­fung von poli­ti­scher Analyse und privatem Leben; unglaub­lich lebensnah berichtet er, wie der Nazismus in den Geist der Menschen, in die Bezie­hungen, in die alltäg­li­chen Abläufe und in die Fami­lien sickerte. Er schil­dert den Alltag als junger Erwach­sener, schreibt über seine erste Liebe im Tennis­club und über studen­ti­sche Faschings­bälle, die von SS-Leuten durch­sucht werden, später dann über jüdi­sche Freund_innen, die das Land verlassen, über die Bezie­hung zu seinem Vater, über Brüche mit Freunden und poli­ti­sche Diskus­sionen mit Bekannten, von denen nicht wenige zu den Nazis überliefen.

Auch seine eigene Entwick­lung und Haltung nimmt er fein und manchmal ironisch unter die Lupe; über seine zuneh­mende Angst nach dem Reichs­tags­brand zum Beispiel schreibt er: „Ich rief eine Jiu-Jitsu-Schule an und fragte nach Prospekten und Bedin­gungen. Ich hatte das Gefühl, dass eine Zeit kam, wo man Jiu-Jitsu würde können müssen (bald darauf merkte ich frei­lich, dass die Zeit, wo Jiu-Jitsu noch half, schon vorüber war, und dass man sich viel­mehr eine Art geis­tiges Jiu-Jitsu aneignen musste).“ Diese Leich­tig­keit im Schreck­li­chen neiden dem toten Autor einige, er ist damit zeit­le­bens der offi­zi­ellen Geschichts­wis­sen­schaft in die Quere gekommen. Und sie rächte sich dafür: Als Haffner in den späten acht­ziger Jahren die Ehren­dok­tor­würde erhalten sollte, verwei­gerten sich die Gelehrten der Freien Univer­sität zu Berlin.

Im Buch geht es vor allem um die (noch) nicht nazis­ti­schen, bürgerlich-städtischen, liberal gesinnten Deut­schen: Was taten sie, wie fühlten und reagierten sie, als der Einfluss der Nazis zunahm? Beson­ders anschau­lich ist Haff­ners Skiz­zie­rung der verschie­denen „Versu­chungen“, denen viele Menschen aus seinem Umfeld erlagen. Er beob­achtet drei Formen: Erstens den Rückzug ins Private, zwei­tens die Verbit­te­rung, und drit­tens: das Über­laufen. Den Rückzug ins Private beschreibt er als die größte Gefahr – und zählt sich selbst zu dieser Gattung der „Wegseher“. Noch 1933 versu­chen viele der nicht-nazistischen Deut­schen, die Macht­über­nahme der Nazis zu ignorieren:

Es ist unan­ge­nehm genug, wenn die Luft über einem Land giftig und qualmig wird. Aber diese Luft kann man bis zu einem gewissen Grad aussperren, man kann seine Fenster dicht zuma­chen, und sich in die vier Wände eines ausge­sparten Privat­le­bens zurück­ziehen. Man kann sich abkap­seln, sich Blumen ins Zimmer stellen, und sich auf der Straße Ohren und Nase zuhalten. Die Versu­chung, so zu verfahren, ist groß. Auch bei mir. – Sebas­tian Haffner, 1939

Noch sieht man Freunde, noch wird disku­tiert, noch werden Fami­li­en­ge­burts­tage gefeiert wie immer. Aber gerade dieses mecha­nisch weiter­lau­fende Leben verhin­dert – so Haffner – dass irgendwo eine kraft­volle Reak­tion gegen das Unge­heu­er­liche statt­findet. Auch Haffner will lange nicht wahr­haben, dass die Nazi-Primitivlinge wirk­lich an die Macht kamen, denn „dass sie Feinde waren – Feinde für mich und für alles, was mir teuer war – darüber täuschte ich mich keinen Augen­blick. Aber ich neigte damals noch dazu, sie nicht ernst zu nehmen – eine verbrei­tete Haltung, die ihnen viel geholfen hat und heute noch hilft.“ Dabei befeuert das Nicht-Ernstnehmen auch den Irrglauben, die Nazis durch Einbin­dung zähmen zu können.

Sich von den Nazis nicht stören lassen

Haffner und seines­glei­chen klam­mern sich lange an das normale unpo­li­ti­sche Weiter­leben, denn es gibt scheinbar keine Stelle, von wo aus er gegen die Nazis kämpfen kann, und „so wollte ich mich wenigs­tens nicht von ihnen stören lassen.“ Schon das unge­störte Weiter­funk­tio­nieren der Justiz, über­haupt alles eini­ger­maßen unge­störte Leben empfindet er wie einen Triumph. Bald wird jedoch offen­sicht­lich, dass das Privat­leben längst nicht mehr unbe­rührt ist. Immer spür­barer wird eine „neue zitte­rige Span­nung, eine neue Unver­söhn­lich­keit und hitzige Hass­be­reit­schaft, die in die poli­ti­sche Privat­dis­kus­sion drang – in Form eines stets-und-ständig-an-Politik-denken-müssen.“

Der Versuch, die Nazis zu igno­rieren, ist auch der Versuch, sich nicht durch Hass und Leiden seelisch korrum­pieren zu lassen, man will schließ­lich gutartig, anständig und nett bleiben – auch wenn das bei vielen irgend­wann zum Reali­täts­ver­lust führt. Selbst­kri­tisch beschreibt Haffner seine vornehme Weige­rung, sich auf Hass und Hetze einzu­lassen „Ich habe immer zu wissen geglaubt, dass man schon durch ein zu tiefes sich einlassen in Polemik, Streiten mit Unbe­lehr­baren, Hass auf das Häss­liche etwas in sich selber zerstört. Meine Geste der Ableh­nung ist Abwen­dung, nicht Angriff.“ Haffner ist zu diesem Zeit­punkt noch der Meinung, dass man dem Gegner zu viel Ehre erweist, wenn man ihn des Hasses würdigt. Als die stärkste persön­liche Belei­di­gung empfindet er denn auch die Tatsache, dass die Nazis ihn „täglich durch ihre Unüber­seh­bar­keit zwangen, Hass und Ekel zu empfinden“.

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Er sehnt sich nach der Möglich­keit einer „souve­ränen, unge­störten Verach­tung“, möchte – mit Stendhal gespro­chen – den Sturz in den Dreck vermeiden, sich also nicht nur von Mittä­ter­schaft frei­halten, sondern auch vom Dreck des Hasses. Hier wird Haff­ners privi­le­gierte Posi­tion deut­lich, denn nur ein Nicht-Jude, ein Nicht-Verfolgter kann ein solch vornehmes Igno­rieren, ein solches sich „unver­sehrt halten“ auch nur ansatz­weise in Erwä­gung ziehen.

Bald schon schei­tert aller­dings auch Haffner, denn mit dem Rückzug in den Elfen­bein­turm funk­tio­niert es nicht, „und ich danke Gott dafür, dass mir der Versuch rasch und gründ­lich miss­lang.“ Er kann nicht mehr leugnen, dass der Triumph des Feind­li­chen das Leben von allen Seiten über­flutet, und dass man mitunter seinen Seelen­frieden nur retten kann, indem man ihn opfert (Haffner über­wirft sich mit Freunden und Bekannten, verliert seinen Job und muss Deutsch­land bald verlassen).

Andere jedoch flüchten in die Illu­sion. Am liebsten in die Illu­sion der Über­le­gen­heit. Sie versu­chen täglich, sich und anderen zu beweisen, dass dies alles unmög­lich so weiter­gehen könne, sie posieren in einer Haltung des „amüsierten Besser­wis­sens, sie ersparten sich die Wahr­neh­mung des Teuf­li­schen“, wie Haffner schreibt, und kompen­sieren ihr ohnmäch­tiges Ausge­lie­fert­sein mit über­le­genen Prognosen, die das unver­meid­liche Ende des Nazi-Regimes voraussagen.

Das Schlimmste kommt für diese Illu­sio­nisten, als die Erfolge der Nazis, die sie immer für unmög­lich gehalten hatten, eintreffen. Zu der Einsicht, dass gerade diese Erfolge das Fürch­ter­liche sind, haben sie jedoch keine Kraft mehr. Viel­mehr inter­pre­tieren sie die Erfolge nun als Beweis, dass die Nazis wohl doch recht haben. Man hört zuneh­mend Sätze wie: „Aber die Nazis haben doch wirk­lich geschafft, was keiner geschafft hat!“ Die Illu­sio­nisten werden zu Überläufern.

Bürger­liche Untergangsgeilheit

Als eine typisch bürger­liche Versu­chung stuft Haffner die Verbit­te­rung und die Selbst­auf­gabe ein. „Wie völlig hilflos wir geistig waren, mit all unserer bürger­li­chen Bildung, vor diesem Vorgang, der in allem, was wir gelernt hatten, einfach nicht vorkam!“ Aufzu­geben, sich geschlagen zu geben erscheint deshalb als eine verlo­ckende Option, die sich bei vielen in Form eines schran­ken­losen Pessi­mismus zeigt. Man begegnet sich und der Welt mit einer „erschlafften Gleich­gül­tig­keit“, einer maso­chis­ti­schen Breit­wil­lig­keit, sich dem Teufel einfach zu über­lassen. Haffner nennt es einen „trot­zigen Selbst­mord“, der sehr hero­isch aussieht – denn „man weist jeden Trost von sich“. Gleich­zeitig über­sehen diese Leute, dass gerade in dieser Haltung der giftigste, gefähr­lichste und laster­haf­teste Trost liegt.

Das Bürgertum strotzt vor dieser perversen „Wollust der Selbst­auf­gabe“, einer „wagne­ria­ni­schen Todes- und Unter­gangs­geil­heit“, denn sie ist eine Trös­tung für Geschla­gene, die nicht die Kraft aufbringen, ihre Nieder­lage als Nieder­lage zu ertragen. Diese Leute gehen herum und „greueln“, wie Haffner schreibt:

Das Entsetz­liche ist die unent­behr­liche Grund­lage ihres Geistes geworden; das einzige, düstere Vergnügen, das ihnen geblieben ist, ist die schwel­ge­ri­sche Ausma­lung der Furcht­bar­keiten. Vielen von ihnen würde etwas fehlen, wenn sie dies nicht mehr hätten, und bei manchen hat sich die pessi­mis­ti­sche Verzweif­lung gera­dezu in eine Art Behag­lich­keit umge­setzt. – Sebas­tian Haffner, 1939

Ein schmaler Seitenweg führt auch von dieser melan­cho­li­schen Behag­lich­keit zum Nazitum: Wenn doch schon alles egal, alles verloren, alles des Teufels ist, warum dann nicht selber sich zu den Teufeln schlagen?

Am 5. März 1933 sind die Nazis noch in der Minder­heit, einige Wochen später schon haben sie die Mehr­heit, auf einmal treten Hundert­tau­sende der Partei bei, die bis dahin gegen sie gestanden hatten. Sie kommen von den Sozi­al­de­mo­kraten und Kommu­nisten, es sind die so genannten „März­ge­fal­lenen“, zum ersten Mal auch Arbeiter_innen. Die Gründe für dieses Über­laufen sind viel­fältig, Haffner beschreibt vor allem die Angst, die Angst bei den Verlie­rern zu sein. Man versucht, mit zu prügeln, um nicht zu den Geprü­gelten zu gehören. Das Ergebnis ist ein kollek­tiver Nerven­zu­sam­men­bruch, ein umfas­sendes Nach­geben und Kapi­tu­lieren mit dem Ergebnis eines geeinten, zu allem bereiten Volk.

Wer Haffner heute liest, hat unwei­ger­lich den aktu­ellen Rechts­rutsch in Europa vor Augen. Natür­lich haben wir nicht die Situa­tion von 1933. Aber nicht in dem Sinne, dass doch eigent­lich bis jetzt die demo­kra­ti­schen, verfas­sungs­recht­li­chen Grund­struk­turen und Insti­tu­tionen funk­tio­nieren, oder dass eine Mili­ta­ri­sie­rung der Gesell­schaft durch Fahnen­mär­sche und Massen­in­sze­nie­rungen heute kaum noch denkbar wäre. Sondern mehr in dem Sinne: die Situa­tion ist deshalb nicht vergleichbar, weil wir heute ganz genau wissen – noch viel genauer als damals Sebas­tian Haffnerwohin die Ausbrei­tung reak­tio­närer und rassis­ti­scher Welt­an­schau­ungen und Bewe­gungen führen können. There will be really no excuse.

Eine erste Fassung dieses Textes erschien unter dem Titel „Die Versu­chung, rechts zu werden“ am 16.3.2016 auf Fran­ziska Schutz­bachs blog „präzis und kopflos“.