
Die deutsche Gesellschaft ist vielfältig und post-migrantisch. Ein Viertel der Menschen in Deutschland hat eine eigene oder familiäre Einwanderungsgeschichte, wobei die größte „Minderheit“ unter ihnen die etwa drei Millionen türkischen Staatsangehörigen und Türkeistämmigen mit deutschem Pass stellen. Ihre Einwanderungsgeschichte fußt in den meisten Fällen auf einer schlichten bilateralen Verbalnote: dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961. Entsprechend feierlich wurde dem Jahrestag dieses Abkommens im vergangenen Jahr gedacht. Das Ausmaß der Aufmerksamkeit, das dem 30. Oktober bereits im Sommer 2021 zuteilwurde, war dabei auch im Vergleich zum 50. Jubiläum im Jahr 2011 außerordentlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlieh Ende August 2021 ausgewählten „Gastarbeitern“ der ersten Generation stellvertretend den Integrationspreis „Talisman“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trat im September und Oktober gleich drei Mal prominent und mit viel beachteten Reden vor Zugewanderten und deren Nachkommen auf. Hinzu kamen zahllose Beiträge, Portraits und Veranstaltungen zu diesem Gedenktag, den ganz unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen organisierten. 2011 hingegen hatten Kanzlerin Merkel und der damalige Bundespräsident Christian Wulff das Anwerbejubiläum mit formellen Staatsbesuchen des damaligen türkischen Präsidenten Abdullah Gül und des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan weitaus staatstragender begangen.

Bundespräsident Steinmeier besucht eine Ausstellung zum deutsch-türkischen Leben im Ruhrgebiet; Quelle: bundespraesident.de
Diese Veränderung ist Ausdruck der intensiven Diskussionen um Migration und Flucht, insbesondere aber auch um die Rolle des Islam in Deutschland und Europa der jüngeren Vergangenheit, und repräsentiert so einen neuen Stand in der deutschen Migrationsdebatte. Vor geladenen Gästen mit Einwanderungsgeschichte sagte etwa Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue, nicht sie seien „‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“. Damit kennzeichnete er nicht nur Migration als historischen Normalfall der bundesrepublikanischen Geschichte. Er bemühte sich auch um eine deutliche Abgrenzung vom Postulat der Kohl-Regierung, die noch in den 1990er Jahren die gesellschaftliche Bedeutung von Migration mit dem Diktum heruntergespielt hatte, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Die Geschichte des Anwerbeabkommens hinter den Jubiläumsveranstaltungen
Die politische Akzentverschiebung von der bilateralen, staatstragenden Repräsentanz hin zur gesellschaftlichen Bedeutung des Anwerbeabkommens ist eine wichtige und überfällige Intervention. Allerdings tritt dabei dessen konkrete Geschichte hinter einem aktuellen gesellschaftspolitischen Statement zurück, das sich für das Anwerbeabkommen vor allem als symbolische Projektionsfläche interessiert. Historisch lagen dem Zustandekommen des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens hingegen mehrere, miteinander verwobene Dimensionen zugrunde, die gleichfalls in der Erinnerung an die transnationale Arbeitsmigration erinnert werden und in Jubiläumsfeierlichkeiten Berücksichtigung finden sollten.

Gastarbeiter mit dem türkischen Arbeitsminister Ali Naili Erdem in Deutschland, 1966; Quelle: bpb.de
Selbstverständlich definierten innen- und wirtschaftspolitische Absichten der beteiligten Staaten die Bemühungen um ein Anwerbeabkommen entscheidend. Es war die Türkei, die auf eine entsprechende Übereinkunft mit der Bundesrepublik drängte. Nach dem Militärputsch vom Mai 1960 verfolgte die neue türkische Regierung damit gleich mehrere Ziele: kurzfristig eine Entlastung des Arbeitsmarkts; mittelfristig erwartete Devisenzahlungen; langfristig den Transfer von Know-How für die eigene industrielle Entwicklung durch die aus dem Industriestandort Deutschland zurückkehrenden Arbeitskräfte. Das „Wirtschaftswunderland“ Bundesrepublik hingegen benötigte nach den Anwerbeabkommen mit Italien (1955) sowie mit Spanien und Griechenland (beide 1960) weiterhin Arbeitskräfte, um den Boom mit der faktischen Vollbeschäftigung vereinbaren zu können.
Wenn es in der Vergangenheit um die „deutsche“ Erinnerung an die Arbeitsmigration ging, stand dieser selbstreferenzielle Aspekt meist im Zentrum – davon zeugt nicht zuletzt die Langlebigkeit des (wohlgemerkt aus der Schweiz importierten) Ausspruchs von Max Frisch aus dem Jahr 1965, man habe Arbeitskräfte gerufen, doch es seien Menschen gekommen. Dem Anwerbeabkommen und den Ausmaßen der türkischen „Gastarbeit“ liegen jedoch zwei weitere Faktoren zugrunde, die entsprechend Einzug in die kollektive Wahrnehmung finden sollten.
Ein bilaterales Abkommen im globalen Kontext
Das Anwerbeabkommen war auch das Ergebnis außenpolitischer Interessen und ambivalenter Entwicklungen beider Staaten. Die türkische Regierung bemühte sich nach dem Militärputsch von 1960 – deutlich später als andere „Entsendeländer“ – um Anwerbeabkommen mit westeuropäischen Staaten. Nach dem Abkommen mit der Bundesrepublik schloss die Türkei weitere Übereinkünfte mit Österreich, den Niederlanden und Belgien (alle 1964), Frankreich (1965) sowie Schweden (1967).

Der deutsche und der türkische Aussenminister, 1964; Quelle: bundesarchiv.de
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und das Auswärtige Amt zeigten sich – einer Empfehlung des eigenen Konsulats in Istanbul zum Trotz – zunächst wenig empfänglich für die Avancen der Türkei. Die Zurückhaltung war kein Novum: Bereits im Zuge des (ebenfalls vom Partnerland Italien und nicht von der Bundesrepublik forcierten) deutsch-italienischen Vertrags hatten zahlreiche weitere Länder Interesse an ähnlichen Abkommen geäußert, die die Bundesregierung trotz des Arbeitskräftemangels allesamt ablehnte. Erst 1960 gelang es zunächst Spanien und dann Griechenland, weitere Abkommen mit der Bundesrepublik zu schließen. Aus außenpolitischen Gründen verfolgte die Bundesrepublik ursprünglich den Plan, entsprechende Vertragsschlüsse ausschließlich mit (süd-)europäischen Ländern zu treffen. Das bundesdeutsche Zögern lag deshalb auch darin begründet, einen Präzedenzfall für die ebenfalls interessierten zahlreichen außereuropäischen Länder durch das zu großen Teilen auf dem asiatischen Kontinent liegenden türkischen Staatsgebiets vermeiden zu wollen. Dabei war die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg als NATO-Partner eng an Europa und den Westen herangerückt. Sie war – gemeinsam mit Griechenland – im Februar 1952 das erste Neumitglied seit der Gründung der Organisation gewesen und galt als geostrategisch wichtiger „Wachtposten des Westens“ an der südöstlichen Grenze zum Gebiet des Warschauer Pakts. Die türkische Regierung spielte beim Gesuch um ein Anwerbeabkommen gegenüber der Bundesrepublik, seit 1955 selbst Teil der NATO, auch ihren Status als Bündnispartnerin aus: Gerade in Anbetracht des deutsch-griechischen Anwerbeabkommens werde die Türkei eine Absage als eine „Zurücksetzung“ hinter den NATO-Partner Griechenland deuten, wie türkische Regierungsgesandte Ende 1960 in Bad Godesberg betonten.
Gleichzeitig war die Türkei für die Bundesrepublik ein wichtiger handels- und außenpolitischer Partner. Nach dem Ende des Nationalsozialismus hatte sie kaum über diplomatische Kontakte verfügt und bemühte sich um eine Wiederaufnahme der historisch verbrieften deutsch-türkischen Beziehungen. 1954 hatte Bundeskanzler Adenauer Ankara besucht und wenige Monate später den türkischen Ministerpräsidenten Menderes in Bonn empfangen. Nach Griechenland 1956 galt auch der zweite Staatsbesuch von Bundespräsident Heuss 1957 nicht etwa den Westalliierten, sondern der Türkei. Schon bei diesem Besuch hatte Heuss der Türkei eine Ausbildungsmaßnahme in der Bundesrepublik angeboten. Dieser Einladung folgend kamen 1958 rund 150 türkische Jugendliche in die Kölner Ford-Werke, wo sie als sogenannte „Heuss-Türken“ in vielen Fällen dauerhaft Beschäftigung fanden – ein Vorläufer der staatlichen Arbeitskräftevermittlung aus der Türkei.
Arbeitsmigration als individuelles Empowerment
Darüber hinaus verliehen erst die individuellen Ziele der Einwanderungswilligen dem bilateralen Abkommen seine Bedeutung. Obwohl der Aspekt der biografischen Perspektive auch von der historischen Forschung lange stiefmütterlich behandelt wurde und erst in jüngsten Forschungsergebnissen zum Tragen kommt, ist er keinesfalls zu unterschätzen. Denn die Nachhaltigkeit des Anwerbeabkommens – im Sinne einer langfristigen Einwanderung – fußt überhaupt erst auf der Bereitschaft von einer nennenswerten Zahl an Menschen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und ihr Leben (zumindest vorübergehend) ausgerechnet in Deutschland fortführen zu wollen. Abzulesen ist dies an vielen, gleichzeitig aber wenig bekannten individuellen Einwanderungsversuchen aus der Türkei seit Mitte der 1950er Jahre. Die Ausweitung dieses Phänomens veranlasste das bundesdeutsche Generalkonsulat in Istanbul, dem Auswärtigen Amt im Sommer 1960 vorzuschlagen, den Wanderungsdruck durch ein Anwerbeabkommen mit der Türkei in kontrollierbare Strukturen zu überführen. Bei den individuellen Ambitionen, ins ferne Deutschland zu gehen, ist das erst 15 Jahre zurückliegende Ende des Nationalsozialismus nicht zu unterschätzen.

Türkische Gastarbeiterinnen in einem Wohnheim; Quelle: br.de
Auch der Inanspruchnahme des späteren Anwerbeabkommens liegt ein persönliches Empowerment zugrunde: zum „Gastarbeiter“ zu werden und so den Weg in die Bundesrepublik zu suchen. Dieser individuellen Motivation verdankt das „Projekt“ Arbeitsmigration überhaupt erst die gerufenen „Arbeitskräfte“. Die gegenwärtige Erinnerungspolitik mit dem von Steinmeier beschworenen Shift zu einem „Deutschland mit Migrationshintergrund“ hat sich dieser biografischen Perspektive angenähert. Doch den damit verbundenen Gedanken von aktiver Teilhabe und begrüßenswerter Diversität sahen Publizist*innen in kritischen Zwischenrufen gerade nicht erfüllt: Der Autor und Campaigner İmran Ayata beklagte in einem Gastbeitrag für die FAZ, dass die „erste Generation“ weiterhin als bei Feierlichkeiten zu beklatschende Stichwortgeber*innen dienten, statt der Gesellschaft als Vorreiter*innen progressiver Lebensformen zu gelten. Ekrem Şenol, Gründer des MiGAZIN, rief dazu auf, die klaffende Lücke zwischen den politischen Postulaten und dem tatsächlichen Umgang mit den „Gastarbeitern“ und deren Nachkommen in der Bundesrepublik bis zum 70. Jubiläum des Anwerbeabkommens zu überdenken.
Geschichte erinnern. Komplexität als Auftrag
Im deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 fanden ganz unterschiedliche Interessen, Motive und Entwicklungen zusammen. Entsprechend sollte dieses historische Ereignis auch in der öffentlichen und kollektiven Erinnerung in seiner Komplexität Beachtung finden. Dann wäre das Anwerbeabkommen nicht nur mit dem deutschen Blick ins Innere zu erinnern (und zu feiern), sondern auch als biografische Wegmarke und außenpolitisches Ereignis. Nicht zuletzt die drei einfachen Seiten Papier des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens trugen maßgeblich zur transnationalen Geschichte der Bundesrepublik bei und sind auch mit Blick auf ihre Globalisierung zu begreifen.
Die Integration dieser Geschichte der türkischen Arbeitsmigration in das öffentliche Gedächtnis ist auch deshalb von großer Bedeutung, da die außenpolitischen Umstände während der letztjährigen Feierlichkeiten nahezu exklusiv vom rechten Rand (verfälschend) aufgegriffen und als Grundlage für rassistische Positionen umgedeutet wurden. Auf Twitter und Youtube hielten migrationskritische Nutzer*innen den wohlwollenden Beiträgen zur diversen deutschen Gesellschaft eine verkürzte Darstellung der außenpolitischen Entstehungsgeschichte des Anwerbeabkommens entgegen: Ihre krude Argumentation behauptet ohne Grundlage historischer Fakten, die US-amerikanische Besatzungsmacht habe der Bundesrepublik einen Befehl zum Anwerbeabkommen gegeben, um den türkischen NATO-Partner zu stärken. Die letztlich dauerhafte Einwanderung aus der Türkei sei damit, so das Folgeargument dieser Verschwörungstheorie, gegen den ausdrücklichen Willen der Bundesregierung, des Parlaments und der Bevölkerung geschehen.
Politik und die Öffentlichkeit sollten das eigene Erinnern an die Arbeitsmigration künftig auch auf die individuellen und globalen Dimensionen von Mobilität und Migration in der deutschen Nachkriegsgeschichte ausweiten. Begreift die Erinnerungspolitik die deutsch-türkische Einwanderung zeitnah in ihren komplexen Entstehungszusammenhängen, nutzt das dem Diskurs in gleich doppelter Hinsicht: Die türkeistämmigen Pionier*innen erhalten einen ihnen zustehenden aktiven und gleichberechtigten Platz in der kollektiven Erinnerung, während die außenpolitische Dimension des Anwerbeabkommens zugleich nicht der rassistischen Umdeutung von rechts überlassen bliebe.