In Ausnahmesituationen treten die Konturen sozialer Ordnung deutlich hervor. Das gilt auch für die Corona-Pandemie, die viele vermeintliche Gewissheiten ins Wanken gebracht hat. Dazu zählt besonders die seit den 1990er Jahren etablierte Annahme, dass Globalisierung stetig weiter zunehmen werde. Denn die Ausbreitung des Virus hat einerseits die enge Vernetzung der Welt deutlich vor Augen geführt, andererseits aber auch globale Lieferketten abreißen lassen, die nun plötzlich sehr verletzlich wirken. Bei lebenswichtigen Gütern wie Schutzmasken sind deshalb Forderungen nach aktiver Entflechtung laut geworden. Während viele Beobachter:innen eine Transformation der Globalisierung zu beobachten meinen, deren Schwerpunkte sich vom Güterhandel in den Bereich der Dienstleistungen und Digitalisierung verlagern, haben andere bereits das Ende der Globalisierung ausgerufen, die das Jahr 2020 zu einer „epochalen Zäsur“ mache.
Besonders verunsichert hat viele Beobachter:innen jedoch die neue „Wucht des Nationalen“. Nachdem Nationalismus und Nationalstaat im Zuge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund zu treten schienen, schlägt nun das Pendel wieder in die andere Richtung aus: Exportkontrollen für medizinische Güter oder die Schließung von Grenzen haben deutlich gemacht, wie stark Nationalstaaten in die Mobilität von Gütern und Menschen eingreifen können. Die Impfstoffbeschaffung folgt selbst innerhalb der EU dem Modus nationaler Konkurrenz, was Warnungen vor einem neuen „Impfnationalismus“ ausgelöst hat. An Protesten gegen staatliche Maßnahmen sind nationalistische Gruppen stark beteiligt, während Umfragen ergeben, dass die Auswirkungen der Globalisierung seit der Pandemie negativer beurteilt werden.
Doch läutet die Corona-Pandemie damit das Ende der Globalisierung ein? Diese Frage ist falsch gestellt, geht sie doch von der Globalisierung als einem zusammenhängenden Prozess mit relativ klarem Anfang und Ende aus, den es so nicht gibt. Eine historische Perspektive zeigt hingegen erstens, dass sich schon seit dem 19. Jahrhundert verschiedene Phasen zunehmender und abnehmender Verflechtung beobachten lassen. Zweitens handelt es sich bei der „Globalisierung“ um einen künstlichen Sammelbegriff, der teils widersprüchliche Phänomene zusammenfasst. Dadurch wurden drittens in den 1990er Jahren Annahmen über deren weitere Entwicklung geprägt, die dann nicht eintraten, was wiederum dazu führte, dass schon mehrfach das Ende der Globalisierung ausgerufen wurde. Zu den gegenläufigen Entwicklungen scheint die anhaltende Bedeutung von Nationalismus und Nationalstaaten zu gehören, die jedoch viertens mit Globalisierung nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem engen Wechselverhältnis stehen, das in der Corona-Krise besonders eindrücklich zutage tritt.
Die Geschichte der Globalisierung
Historiker:innen betonen heute, dass sich Handelsbeziehungen oder Wanderungsbewegungen über große Entfernungen, die wir heute unter dem Begriff der Globalisierung zusammenfassen, schon viel früher beobachten lassen, als lange Zeit angenommen wurde. Dazu zählen mit dem Handel über die Seidenstraße, aber auch der kolonialen Expansion Europas seit dem 16. Jahrhundert so vielfältige Phänomene in unterschiedlichen Weltregionen, dass sich über die Definition und den Beginn von Globalisierung noch lange diskutieren lässt. Solche Verbindungen konnten jedoch auch wieder abreißen. Globalisierung verlief nie linear, sondern in Wellen.
Das zeigt sich auch während der letzten beiden Jahrhunderte: So erhielt die globale Interaktion um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung einen entscheidenden Schub und wurde gleichzeitig stärker auf Europa ausgerichtet. Schon Karl Marx und Friedrich Engels beobachteten 1848, die Bourgeoisie jage auf der Suche nach Absatzmärkten „über die ganze Erdkugel“. In den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten Welthandel und Migrationsbewegungen so stark zugenommen, dass in dieser Zeit eine erste Hochphase der Globalisierung angesetzt wird. Mit dem Krieg rissen jedoch zahlreiche Verbindungen ab, spätestens mit der Weltwirtschaftskrise 1929 begann eine Phase der Deglobalisierung.
Aktiv gefördert von den Institutionen des „Bretton-Woods-Systems“ und dem GATT nahm der Welthandel ab den 1950er Jahren wieder stärker zu, in dem nun die Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle spielten. Der Beginn der heutigen, zweiten Hochphase der Globalisierung lässt sich dann in den 1970er Jahren ansetzen, als das Ende fester Wechselkurse, technologische Innovationen und politische Deregulierung dazu führten, dass neue Formen des „digitalen Finanzmarktkapitalismus“ an Bedeutung gewannen. Durch die Integration der Volksrepublik China und der postsozialistischen Staaten in die Weltwirtschaft und durch die Einführung des Internet hat die Globalisierung ihren Charakter seitdem schon mehrfach verändert.
Das Zeitalter der Globalisierung ab den 1990er Jahren?
Diese Perspektive auf die Geschichte der Globalisierung hat sich jedoch erst in den letzten beiden Jahrzehnten durchgesetzt. Anfang der 1990er Jahre hatten viele Zeitgenoss:innen noch einen ganz anderen Eindruck: Für sie war mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus ein neues Zeitalter angebrochen, in dem sich Güter, Kapital und Menschen immer grenzenloser bewegen könnten und dessen zentrales Merkmal damit die enorme Dynamik der „Globalisierung“ sei ‒ ein Prozess, der gerade erst begonnen habe. Der Begriff verbreitete sich schnell, gerade weil er einerseits präzise genug war, um eine zusammenhängende Debatte über die Veränderungen der Gegenwart zu ermöglichen, gleichzeitig jedoch unspezifisch genug, um von Welthandel und Finanztransaktionen über Migration bis zu Alltagskultur eine Vielzahl von Themen und Entwicklungen als Bestandteile dieses übergreifenden Prozesses fassen zu können.
Das Schlagwort der „Globalisierung“ bildete solche Entwicklungen jedoch nicht neutral ab, sondern gab als Sammelbegriff Deutungen vor und schürte die Erwartung einer umfassenden Entwicklung in Richtung von immer mehr Globalität. Während er sich höchst unterschiedlich auslegen lässt, ist bis heute seine 1983 vom Harvard-Ökonomen Theodore Levitt geprägte Bedeutung zentral: Die „Globalisierung von Märkten“ mache die Welt zum grenzenlosen Tätigkeitsfeld globaler Konzerne. Damit, so eine zentrale These der 1990er Jahre, stehe der „Abschied vom Nationalstaat“ bevor, der ökonomische Zusammenhänge immer weniger steuern könne und gleichzeitig Souveränität an supranationale Organisationen verliere. Er werde auch deshalb immer weniger gebraucht, weil der zunehmend „kosmopolitische Lebensstil“ vieler Menschen Nationalismus immer schwächer werden lasse. Nach einer einflussreichen Lesart wurde Globalisierung jetzt zu einem nahezu von selbst verlaufenden Prozess, den man kaum beeinflussen, sondern an den man sich nur anpassen könne.
Das Ende der Globalisierung?
Nicht erst mit der Corona-Krise hat sich seitdem jedoch gezeigt, dass solche Prognosen der 1990er Jahre falsch oder zumindest stark überzogen waren. Während es anfangs so schien, als handele es sich bei der Globalisierung um einen nahezu unaufhaltsamen Prozess, führte besonders die Weltfinanzkrise 2007/08 die Krisenanfälligkeit der globalen Finanzwirtschaft deutlich vor Augen. Seitdem wurde immer wieder festgestellt, die Globalisierung habe an Dynamik verloren und befinde sich in einer Krise. Gleichzeitig machten die Rettung von Großbanken mit Steuergeldern und Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur deutlich, dass Staaten weiterhin über beträchtliche Möglichkeiten verfügten, in wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge zu intervenieren und dass ihr Eingreifen obendrein für die Stabilität der globalen Wirtschaft zentral war.
Auch die anfangs noch überwiegend optimistisch erwarteten sozialen Auswirkungen der Globalisierung wurden immer kritischer gesehen. Waren es zunächst vor allem Linke, die gegen die Folgen einer „neoliberalen Ideologie“ von Deregulierung und Privatisierung angingen, sind besonders seit 2015/2016 rechte Globalisierungskritiker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Folge der europäischen Migrationskrise, das britische Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten schockierten viele Beobachter:innen, die darin eine „Rückkehr“ des Nationalismus, einer bereits „totgeglaubten Ideologie“ erblickten. Diese Entwicklung kam auch deshalb für viele so überraschend, weil die Zunahme weltweiter Verflechtung nicht wie erwartet zum Verschwinden des Nationalismus geführt hat, sondern einen regelrechten „Aufstand gegen die Globalisierung“ ausgelöst hat. In Europa und Nordamerika wird dieser laut Soziolog:innen vor allem von Angehörigen der „alten Mittelklasse“ und einer nicht-migrantischen „neuen Unterklasse“ getragen. Sie bekämen negative Folgen der Globalisierung besonders stark zu spüren, was unter anderem wirtschaftliche Ängste vor Arbeitsplatzverlust und kulturelle Ressentiments gegen Migration schüre. Zu ihren gemeinsamen Feindbildern gehörten deshalb „globalistische Eliten“ und eine urbane, kosmopolitische „neue Mittelklasse“.
Wachsende Unterstützung für nationalistische und protektionistische Positionen in Nordamerika und Europa, aber auch in Ländern wie Indien oder Russland, die Politik Donald Trumps, der gegen Einwanderung, gegen Freihandel und gegen eine „Ideologie des Globalismus“ wetterte, sowie eine weiter nachlassende Dynamik des Welthandels haben schon vor der Corona-Pandemie in den letzten Jahren immer wieder Anlass dazu gegeben, die Globalisierung für „tot“ zu erklären.
Corona und Globalisierung
Die Corona-Pandemie hat somit in den hier betrachteten Bereichen keine plötzlichen Umbrüche ausgelöst, sondern bereits längerfristig angelegte Entwicklungen in Politik und Wirtschaft verstärkt, beschleunigt und vor allem deutlich sichtbar werden lassen: Der Welthandel wächst schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr mit der gleichen Dynamik wie in den 1990er Jahren. Schon im Zuge der Finanzkrise war deutlich geworden, dass Nationalstaaten nicht nur weiterhin einflussreich sind, sondern auch zentrale Aufgaben erfüllen, die ihnen bislang niemand abnehmen kann. Die These von ihrem Ende war damit zu voreilig.
Auch der Nationalismus war nie wirklich verschwunden, wurde seit den 1990er Jahren jedoch oft für ein politisches Auslaufmodell gehalten. Dass sich in der Corona-Krise rechte Gruppen und Positionen mit Protesten verbinden, die Einschränkungen individueller Freiheit ablehnen oder die Gefährlichkeit des Virus anzweifeln, lässt seine vermeintliche „Rückkehr“ nun umso bedrohlicher erscheinen. Mit der wieder deutlich erkennbaren Bedeutung von Nationalismus und Nationalstaat ist jedoch nicht das Ende der Globalisierung gekommen. Denn anders als häufig angenommen, sind Nation und Globalisierung keine Gegensätze und gehören auch nicht in unterschiedliche Epochen. Vielmehr entstanden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert als Reaktion auf wachsende Verflechtungen in dieser Zeit, während Globalisierung auch heute auf Voraussetzungen beruht, die von Nationalstaaten garantiert werden.
Obwohl die Corona-Pandemie in vielen Bereichen tiefgreifende Veränderungen auslöst, wird auch sie nicht zum Ende der Globalisierung führen. Bedenkt man, welch vielfältige Phänomene mit unterschiedlichen Dynamiken und Reichweiten unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, kann es kaum überraschen, dass immer wieder ihr Ende ausgerufen wird, wenn sich ein Aspekt davon verändert. Am Ende steht aber meist die Feststellung, dass sich die Globalisierung immer wieder verändert.
Wie weiter?
Anstatt diese Transformation mit anderen Sammelbegriffen wie der „Digitalisierung“ der „Globalisierung“ zu beschreiben, bietet die Corona-Krise einen guten Anlass, um etablierte Annahmen kritisch zu hinterfragen. Dazu gehört ganz zentral das Bild von der Globalisierung als einheitlichem, linearem Prozess. Globalhistoriker wie Jürgen Osterhammel schlagen deshalb vor, Globalisierungen in den Plural zu setzen.
Noch besser wäre es, die einzelnen Aspekte wieder aus dem Sammelbegriff herauslösen und getrennt zu betrachten. Dann fällt nicht nur auf, dass etwa bei Migrationsfragen, Güterhandel, Finanzmärkten oder im Tourismus höchst unterschiedliche Logiken und Interessen am Werk sind, sondern auch, dass es sich bei Globalisierung um keinen „natürlichen“ Prozess, sondern um die Folge vieler menschlicher Entscheidungen handelt. Eine solche Sicht auf Globalisierung ist sicher mühsamer und macht zugespitzte, medientaugliche Prognosen schwieriger. Sie erlaubt es aber auch, gegen Positionen zu argumentieren, die „die Globalisierung“ als Sündenbock für alle möglichen Problemlagen nutzen wollen.