Mit der Corona-Pandemie scheint der Nationalismus zurückgekehrt und das „Ende der Globalisierung“ gekommen. Nation und Globalisierung sind jedoch kein Widerspruch, sondern stehen in einem engen Wechselverhältnis.

  • Martin Deuerlein

    Martin Deuerlein ist Akademischer Rat a. Z. am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. 2020 erschien seine Studie zu globalem Denken und internationaler Politik in den 1970er Jahren, dem „Zeitalter der Interdependenz“.

In Ausnah­me­si­tua­tionen treten die Konturen sozialer Ordnung deut­lich hervor. Das gilt auch für die Corona-Pandemie, die viele vermeint­liche Gewiss­heiten ins Wanken gebracht hat. Dazu zählt beson­ders die seit den 1990er Jahren etablierte Annahme, dass Globa­li­sie­rung stetig weiter zunehmen werde. Denn die Ausbrei­tung des Virus hat einer­seits die enge Vernet­zung der Welt deut­lich vor Augen geführt, ande­rer­seits aber auch globale Liefer­ketten abreißen lassen, die nun plötz­lich sehr verletz­lich wirken. Bei lebens­wich­tigen Gütern wie Schutz­masken sind deshalb Forde­rungen nach aktiver Entflech­tung laut geworden. Während viele Beobachter:innen eine Trans­for­ma­tion der Globa­li­sie­rung zu beob­achten meinen, deren Schwer­punkte sich vom Güter­handel in den Bereich der Dienst­leis­tungen und Digi­ta­li­sie­rung verla­gern, haben andere bereits das Ende der Globa­li­sie­rung ausge­rufen, die das Jahr 2020 zu einer „epochalen Zäsur“ mache.

Beson­ders verun­si­chert hat viele Beobachter:innen jedoch die neue „Wucht des Natio­nalen“. Nachdem Natio­na­lismus und Natio­nal­staat im Zuge der Globa­li­sie­rung in den letzten Jahr­zehnten immer mehr in den Hinter­grund zu treten schienen, schlägt nun das Pendel wieder in die andere Rich­tung aus: Export­kon­trollen für medi­zi­ni­sche Güter oder die Schlie­ßung von Grenzen haben deut­lich gemacht, wie stark Natio­nal­staaten in die Mobi­lität von Gütern und Menschen eingreifen können. Die Impf­stoff­be­schaf­fung folgt selbst inner­halb der EU dem Modus natio­naler Konkur­renz, was Warnungen vor einem neuen „Impf­na­tio­na­lismus“ ausge­löst hat. An Protesten gegen staat­liche Maßnahmen sind natio­na­lis­ti­sche Gruppen stark betei­ligt, während Umfragen ergeben, dass die Auswir­kungen der Globa­li­sie­rung seit der Pandemie nega­tiver beur­teilt werden.

Doch läutet die Corona-Pandemie damit das Ende der Globa­li­sie­rung ein? Diese Frage ist falsch gestellt, geht sie doch von der Globa­li­sie­rung als einem zusam­men­hän­genden Prozess mit relativ klarem Anfang und Ende aus, den es so nicht gibt. Eine histo­ri­sche Perspek­tive zeigt hingegen erstens, dass sich schon seit dem 19. Jahr­hun­dert verschie­dene Phasen zuneh­mender und abneh­mender Verflech­tung beob­achten lassen. Zwei­tens handelt es sich bei der „Globa­li­sie­rung“ um einen künst­li­chen Sammel­be­griff, der teils wider­sprüch­liche Phäno­mene zusam­men­fasst. Dadurch wurden drit­tens in den 1990er Jahren Annahmen über deren weitere Entwick­lung geprägt, die dann nicht eintraten, was wiederum dazu führte, dass schon mehr­fach das Ende der Globa­li­sie­rung ausge­rufen wurde. Zu den gegen­läu­figen Entwick­lungen scheint die anhal­tende Bedeu­tung von Natio­na­lismus und Natio­nal­staaten zu gehören, die jedoch vier­tens mit Globa­li­sie­rung nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem engen Wech­sel­ver­hältnis stehen, das in der Corona-Krise beson­ders eindrück­lich zutage tritt.

Die Geschichte der Globalisierung

Historiker:innen betonen heute, dass sich Handels­be­zie­hungen oder Wande­rungs­be­we­gungen über große Entfer­nungen, die wir heute unter dem Begriff der Globa­li­sie­rung zusam­men­fassen, schon viel früher beob­achten lassen, als  lange Zeit ange­nommen wurde. Dazu zählen mit dem Handel über die Seiden­straße, aber auch der kolo­nialen Expan­sion Europas seit dem 16. Jahr­hun­dert so viel­fäl­tige Phäno­mene in unter­schied­li­chen Welt­re­gionen, dass sich über die Defi­ni­tion und den Beginn von Globa­li­sie­rung noch lange disku­tieren lässt. Solche Verbin­dungen konnten jedoch auch wieder abreißen. Globa­li­sie­rung verlief nie linear, sondern in Wellen.

Das zeigt sich auch während der letzten beiden Jahr­hun­derte: So erhielt die globale Inter­ak­tion um die Mitte des 19. Jahr­hun­derts mit der Indus­tria­li­sie­rung einen entschei­denden Schub und wurde gleich­zeitig stärker auf Europa ausge­richtet. Schon Karl Marx und Fried­rich Engels beob­ach­teten 1848, die Bour­geoisie jage auf der Suche nach Absatz­märkten „über die ganze Erdkugel“. In den beiden Jahr­zehnten vor dem Ersten Welt­krieg hatten Welt­handel und Migra­ti­ons­be­we­gungen so stark zuge­nommen, dass in dieser Zeit eine erste Hoch­phase der Globa­li­sie­rung ange­setzt wird. Mit dem Krieg rissen jedoch zahl­reiche Verbin­dungen ab, spätes­tens mit der Welt­wirt­schafts­krise 1929 begann eine Phase der Deglobalisierung.

Aktiv geför­dert von den Insti­tu­tionen des „Bretton-Woods-Systems“ und dem GATT nahm der Welt­handel ab den 1950er Jahren wieder stärker zu, in dem nun die Verei­nigten Staaten eine zentrale Rolle spielten. Der Beginn der heutigen, zweiten Hoch­phase der Globa­li­sie­rung lässt sich dann in den 1970er Jahren ansetzen, als das Ende fester Wech­sel­kurse, tech­no­lo­gi­sche Inno­va­tionen und poli­ti­sche Dere­gu­lie­rung dazu führten, dass neue Formen des „digi­talen Finanz­markt­ka­pi­ta­lismus“ an Bedeu­tung gewannen. Durch die Inte­gra­tion der Volks­re­pu­blik China und der post­so­zia­lis­ti­schen Staaten in die Welt­wirt­schaft und durch die Einfüh­rung des Internet hat die Globa­li­sie­rung ihren Charakter seitdem schon mehr­fach verändert.

Das Zeit­alter der Globa­li­sie­rung ab den 1990er Jahren?

Diese Perspek­tive auf die Geschichte der Globa­li­sie­rung hat sich jedoch erst in den letzten beiden Jahr­zehnten durch­ge­setzt. Anfang der 1990er Jahre hatten viele Zeitgenoss:innen noch einen ganz anderen Eindruck: Für sie war mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusam­men­bruch des Staats­so­zia­lismus ein neues Zeit­alter ange­bro­chen, in dem sich Güter, Kapital und Menschen immer gren­zen­loser bewegen könnten und dessen zentrales Merkmal damit die enorme Dynamik der „Globa­li­sie­rung“ sei ‒ ein Prozess, der gerade erst begonnen habe. Der Begriff verbrei­tete sich schnell, gerade weil er einer­seits präzise genug war, um eine zusam­men­hän­gende Debatte über die Verän­de­rungen der Gegen­wart zu ermög­li­chen, gleich­zeitig jedoch unspe­zi­fisch genug, um von Welt­handel und Finanz­trans­ak­tionen über Migra­tion bis zu Alltags­kultur eine Viel­zahl von Themen und Entwick­lungen als Bestand­teile dieses über­grei­fenden Prozesses fassen zu können.

Das Schlag­wort der „Globa­li­sie­rung“ bildete solche Entwick­lungen jedoch nicht neutral ab, sondern gab als Sammel­be­griff Deutungen vor und schürte die Erwar­tung einer umfas­senden Entwick­lung in Rich­tung von immer mehr Globa­lität. Während er sich höchst unter­schied­lich auslegen lässt, ist bis heute seine 1983 vom Harvard-Ökonomen Theo­dore Levitt geprägte Bedeu­tung zentral: Die „Globa­li­sie­rung von Märkten“ mache die Welt zum gren­zen­losen Tätig­keits­feld globaler Konzerne. Damit, so eine zentrale These der 1990er Jahre, stehe der „Abschied vom Natio­nal­staat“ bevor, der ökono­mi­sche Zusam­men­hänge immer weniger steuern könne und gleich­zeitig Souve­rä­nität an supra­na­tio­nale Orga­ni­sa­tionen verliere. Er werde auch deshalb immer weniger gebraucht, weil der zuneh­mend „kosmo­po­li­ti­sche Lebens­stil“ vieler Menschen Natio­na­lismus immer schwä­cher werden lasse. Nach einer einfluss­rei­chen Lesart wurde Globa­li­sie­rung jetzt zu einem nahezu von selbst verlau­fenden Prozess, den man kaum beein­flussen, sondern an den man sich nur anpassen könne.

Das Ende der Globalisierung?

Nicht erst mit der Corona-Krise hat sich seitdem jedoch gezeigt, dass solche Prognosen der 1990er Jahre falsch oder zumin­dest stark über­zogen waren. Während es anfangs so schien, als handele es sich bei der Globa­li­sie­rung um einen nahezu unauf­halt­samen Prozess, führte beson­ders die Welt­fi­nanz­krise 2007/08 die Krisen­an­fäl­lig­keit der globalen Finanz­wirt­schaft deut­lich vor Augen. Seitdem wurde immer wieder fest­ge­stellt, die Globa­li­sie­rung habe an Dynamik verloren und befinde sich in einer Krise. Gleich­zeitig machten die Rettung von Groß­banken mit Steu­er­gel­dern und Maßnahmen zur Ankur­be­lung der Konjunktur deut­lich, dass Staaten weiterhin über beträcht­liche Möglich­keiten verfügten, in wirt­schaft­liche und soziale Zusam­men­hänge zu inter­ve­nieren und dass ihr Eingreifen oben­drein für die Stabi­lität der globalen Wirt­schaft zentral war.

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Auch die anfangs noch über­wie­gend opti­mis­tisch erwar­teten sozialen Auswir­kungen der Globa­li­sie­rung wurden immer kriti­scher gesehen. Waren es zunächst vor allem Linke, die gegen die Folgen einer „neoli­be­ralen Ideo­logie“ von Dere­gu­lie­rung und Priva­ti­sie­rung angingen, sind beson­ders seit 2015/2016 rechte Globa­li­sie­rungs­kri­tiker ins Zentrum der Aufmerk­sam­keit gerückt. Der Aufstieg rechts­po­pu­lis­ti­scher Parteien in Folge der euro­päi­schen Migra­ti­ons­krise, das briti­sche Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten scho­ckierten viele Beobachter:innen, die darin eine „Rück­kehr“ des Natio­na­lismus, einer bereits „totge­glaubten Ideo­logie“ erblickten. Diese Entwick­lung kam auch deshalb für viele so über­ra­schend, weil die Zunahme welt­weiter Verflech­tung nicht wie erwartet zum Verschwinden des Natio­na­lismus geführt hat, sondern einen regel­rechten „Aufstand gegen die Globa­li­sie­rung“ ausge­löst hat. In Europa und Nord­ame­rika wird dieser laut Soziolog:innen vor allem von Ange­hö­rigen der „alten Mittel­klasse“ und einer nicht-migrantischen „neuen Unter­klasse“ getragen. Sie bekämen nega­tive Folgen der Globa­li­sie­rung beson­ders stark zu spüren, was unter anderem wirt­schaft­liche Ängste vor Arbeits­platz­ver­lust und kultu­relle Ressen­ti­ments gegen Migra­tion schüre. Zu ihren gemein­samen Feind­bil­dern gehörten deshalb „globa­lis­ti­sche Eliten“ und eine urbane, kosmo­po­li­ti­sche „neue Mittel­klasse“.

Wach­sende Unter­stüt­zung für natio­na­lis­ti­sche und protek­tio­nis­ti­sche Posi­tionen in Nord­ame­rika und Europa, aber auch in Ländern wie Indien oder Russ­land, die Politik Donald Trumps, der gegen Einwan­de­rung, gegen Frei­handel und gegen eine „Ideo­logie des Globa­lismus“ wetterte, sowie eine weiter nach­las­sende Dynamik des Welt­han­dels haben schon vor der Corona-Pandemie in den letzten Jahren immer wieder Anlass dazu gegeben, die Globa­li­sie­rung für „tot“ zu erklären.

Corona und Globalisierung

Die Corona-Pandemie hat somit in den hier betrach­teten Berei­chen keine plötz­li­chen Umbrüche ausge­löst, sondern bereits länger­fristig ange­legte Entwick­lungen in Politik und Wirt­schaft verstärkt, beschleu­nigt und vor allem deut­lich sichtbar werden lassen: Der Welt­handel wächst schon seit über einem Jahr­zehnt nicht mehr mit der glei­chen Dynamik wie in den 1990er Jahren. Schon im Zuge der Finanz­krise war deut­lich geworden, dass Natio­nal­staaten nicht nur weiterhin einfluss­reich sind, sondern auch zentrale Aufgaben erfüllen, die ihnen bislang niemand abnehmen kann. Die These von ihrem Ende war damit zu voreilig.

Auch der Natio­na­lismus war nie wirk­lich verschwunden, wurde seit den 1990er Jahren jedoch oft für ein poli­ti­sches Auslauf­mo­dell gehalten. Dass sich in der Corona-Krise rechte Gruppen und Posi­tionen mit Protesten verbinden, die Einschrän­kungen indi­vi­du­eller Frei­heit ablehnen oder die Gefähr­lich­keit des Virus anzwei­feln, lässt seine vermeint­liche „Rück­kehr“ nun umso bedroh­li­cher erscheinen. Mit der wieder deut­lich erkenn­baren Bedeu­tung von Natio­na­lismus und Natio­nal­staat ist jedoch nicht das Ende der Globa­li­sie­rung gekommen. Denn anders als häufig ange­nommen, sind Nation und Globa­li­sie­rung keine Gegen­sätze und gehören auch nicht in unter­schied­liche Epochen. Viel­mehr entstanden Natio­nal­staaten im 19. Jahr­hun­dert als Reak­tion auf wach­sende Verflech­tungen in dieser Zeit, während Globa­li­sie­rung auch heute auf Voraus­set­zungen beruht, die von Natio­nal­staaten garan­tiert werden.

Obwohl die Corona-Pandemie in vielen Berei­chen tief­grei­fende Verän­de­rungen auslöst, wird auch sie nicht zum Ende der Globa­li­sie­rung führen. Bedenkt man, welch viel­fäl­tige Phäno­mene mit unter­schied­li­chen Dyna­miken und Reich­weiten unter diesem Sammel­be­griff zusam­men­ge­fasst werden, kann es kaum über­ra­schen, dass immer wieder ihr Ende ausge­rufen wird, wenn sich ein Aspekt davon verän­dert. Am Ende steht aber meist die Fest­stel­lung, dass sich die Globa­li­sie­rung immer wieder verändert.

Wie weiter?

Anstatt diese Trans­for­ma­tion mit anderen Sammel­be­griffen wie der „Digi­ta­li­sie­rung“ der „Globa­li­sie­rung“ zu beschreiben, bietet die Corona-Krise einen guten Anlass, um etablierte Annahmen kritisch zu hinter­fragen. Dazu gehört ganz zentral das Bild von der Globa­li­sie­rung als einheit­li­chem, linearem Prozess. Global­his­to­riker wie Jürgen Oster­hammel schlagen deshalb vor, Globa­li­sie­rungen in den Plural zu setzen.

Noch besser wäre es, die einzelnen Aspekte wieder aus dem Sammel­be­griff heraus­lösen und getrennt zu betrachten. Dann fällt nicht nur auf, dass etwa bei Migra­ti­ons­fragen, Güter­handel, Finanz­märkten oder im Tourismus höchst unter­schied­liche Logiken und Inter­essen am Werk sind, sondern auch, dass es sich bei Globa­li­sie­rung um keinen „natür­li­chen“ Prozess, sondern um die Folge vieler mensch­li­cher Entschei­dungen handelt. Eine solche Sicht auf Globa­li­sie­rung ist sicher mühsamer und macht zuge­spitzte, medi­en­taug­liche Prognosen schwie­riger. Sie erlaubt es aber auch, gegen Posi­tionen zu argu­men­tieren, die „die Globa­li­sie­rung“ als Sünden­bock für alle mögli­chen Problem­lagen nutzen wollen.