Ein Raunen geht durch den Kinosaal in Berlin. Dann, in der Schlussszene von Inglourious Basterds, hält es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen. Es wird gejohlt, geklatscht, die Zuschauer:innen springen auf. Das, was alle in dem Augenblick zu verspüren scheinen, als auf der Leinwand Adolf Hitler und sein Stab in einem Pariser Kino durch die Hand einer jüdischen Frau großformatig in die Luft gesprengt werden, kann mit zwei Gefühlen zusammengefasst werden: Erleichterung und Genugtuung. Das Publikum feiert ein Filmende frenetisch, das eine Geschichte darstellt, wie sie wohl für viele der Anwesenden hätte geschehen sollen. Es ist ein kontrafaktisches Szenario, denn alle Zuschauenden wissen um den tatsächlichen Verlauf der Vergangenheit und gerade deshalb ist die Erleichterung über das alternative Ende mit Händen zu greifen.
So, wie sie historisch nicht gewesen ist, aber nach der Lesart Quentin Tarantinos gegebenenfalls hätte sein sollen, wird die Vergangenheit in Filmen des US-amerikanischen Regisseurs spätestens seit 2009 für die Laufzeit von einigen Stunden zu einer alternativen Wirklichkeit. 2009 kam Inglourious Basterds in die Kinos; ein Film, in dem das Naziregime von seinen Opfern in die Knie gezwungen wird, 2012 folgte Django Unchained, in dem sich ein befreiter Sklave in den Südstaaten gegen sadistische Sklavenhalter erhebt und obsiegt. 2019 dann Once Upon A Time in Hollywood. Auch hier wird eine imaginäre Geschichte illustriert, in der die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate und ihre Hausgäste 1969 eben nicht von Mitgliedern der Manson Family ermordet werden.
Widerstand gegen die Geschichte
Mit diesen Filmerzählungen begehrt Tarantino gegen historische Ereignisse und Prozesse auf, die als überaus beschämend und erschreckend ins kollektive Gedächtnis eingebrannt sind.
Wenn Tarantino alternative Lesarten der Ereignisse darstellt, geht es nicht um ein Vergessenmachen dessen, was tatsächlich geschehen ist, sondern womöglich um eine tiefsitzende Empörung vor der Geschichte selbst. Das hier angenommene Empfinden basiert auf dem Umstand, dass nichts an dem einmal eingetretenen Realitätsgehalt geändert werden kann und gerade deswegen Widerstand geleistet werden muss. Damit gehen Tarantinos filmische Beiträge über die Überlegungen hinaus, die im Rahmen einer kontrafaktischen Geschichtserzählung in Kreisen heutiger Geschichtswissenschaften in zumeist nüchterner Form Denkspiele anstellen, die ein „Was wäre wenn…?“ durchexerzieren.
So liefert der Althistoriker Alexander Demandt in Ungeschehene Geschichte rational argumentierend diverse Begründungen dafür, weshalb derartige alternative Planspiele einen Anspruch auf eine Beschäftigung mit ihnen genießen sollten. Zusätzlicher Erkenntnisgewinn wird aus der Perspektive der Historiker:innen als entscheidendes Element eines Nachdenkens über fiktive Geschichte angeführt. Gern wird in diesem Kontext auch eine generelle und inhärente Verbundenheit der Geschichtswissenschaften mit spekulativem Denken postuliert. Dass sich Geschichtsbezüge und literarische Darstellungen einer alternativen Historie schneiden können, wird dann deutlich, wenn der Literaturwissenschaftler Christoph Rodiek auf die 1836 entstandene Uchronie Napoléon et la conquête du monde von Louis Geoffroy verweist, in der der französische Herrscher seinen Russlandfeldzug siegreich abschließt, um anschließend seine Macht weiter auszubauen. Kontrafaktische Geschichte, dies wird hier klar, ist kein Produkt des 20. oder 21. Jahrhunderts.

Quentin Tarantino, Django Unchained, Quelle: simifilm.ch
Tarantino erzählt in verschiedenen Filmen Geschichten, die auf historischen Fakten beruhen und eine heilende Funktion erkennen lassen. Indem er Hitler und seinen Stab durch die Hand einer jüdischen Frau töten lässt, indem er Sharon Tate und ihre Freund:innen die Mordnacht in Hollywood überleben lässt, indem – hier ein fiktives Schicksal – der Sklave Django einen Sklavenhalter samt seinem Anwesen dem Erdboden gleichmacht, schildert Tarantino Handlungen, die so nicht stattgefunden haben, nach der sich der Regisseur und das Publikum womöglich aber sehnen, wie man an den zahlreichen emotionsgeladenen und affirmativen Reaktionen in den Kinosälen nachverfolgen kann.
Tarantinos Filme kommen damit dem Wunsch nach einer Wiedergutmachung geschehenen Unrechts nach, wie es die Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger in ihrem 2021 erschienen Essay Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie mit dem Begriff der „reparativen Nostalgie“ beschreibt. Diese Form der Nostalgie entzieht sich nicht der schmerzlichen Erkenntnis von Geschehnissen der Vergangenheit, wie es andere Ansätze nostalgischen Erinnerns – genannt sei die reflektive oder restaurative Nostalgie nach Lesart der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym – intendieren, sondern bemüht sich um eine Auseinandersetzung mit dem, was als historisches Unrecht wahrgenommen wird, indem eine Kompensation angestrebt wird. Auch deshalb, weil man, wie Schönberger betont, die „eigene Vergangenheit nicht einfach aushalten will“. Das, was aus moralischer Perspektive nicht hätte sein sollen, das, was sich als schambehaftete Faktizität – Sklaverei, mehrfacher Mord oder Nationalsozialismus – darstellt, soll auch für die Gegenwart verändert werden, indem der Versuch eines Ausgleichs angestrebt wird. Indem Schönberger darauf rekurriert, dass das Konzept der reparativen Nostalgie eben nicht darin besteht, eine Vergangenheit aufleben zu lassen, die das realisieren soll, was sich die Nachwelt unter ihr vorstellt und somit durchaus auch einen negativen Gehalt aufzuweisen vermag, grenzt sie diese Herangehensweise von anderen kontrafaktischen Erzählungen gerade auch in den Geschichtswissenschaften oder in literarischen Texten eines Robert Harris oder Philip K. Dick ab, in deren Szenarien bisweilen der Nationalsozialismus über die restliche Welt obsiegt.
Bemühungen um Heilung
Bei Tarantino sitzt die Geschichte selbst auf der Anklagebank. Es ist die Forderung nach Gerechtigkeit, die eine Rache explizit einschließt, die die nunmehr stummen Opfer der Vergangenheit sprechen lässt, indem die Handelnden aufbegehren. Wenn der Literaturwissenschaftler Georg Witte die Möglichkeit der Rache an den Unterdrückern und einer „Erleuchtung“ im Sinne einer beruhigenden Vorstellung alternativer Geschichtsverläufe bei Inglourious Basterds erkennt, so trifft diese Interpretation das Anliegen einer Wiedergutmachung bei Tarantino nur bedingt. Dieser bietet nicht nur eine imaginäre Option von Geschichte an, sondern bemüht sich mit den Mitteln des Kinos um Heilung dort, wo im Grunde keine Entlastung denkbar ist. Hier zeigt sich die fleischgewordene Macht der Traumfabrik Hollywood, auf die Affekte der Zuschauer:innen einzuwirken respektive diese hervorzurufen.

Quentin Tarantino, Inglorious Basterds, Quelle: simfilm.ch
Dass sich Tarantino über diesen emotionalen Gehalt seiner Drehbücher durchaus bewusst ist, verdeutlicht ein Interview von 2013, das der Stern-Reporter Martin Schwickert aufgezeichnet hat. Hier bekennt sich der Regisseur zur „Katharsis“, die „[f]iktionale Geschichte innerhalb eines historischen Rahmens“ auslösen kann und die die historische Wirklichkeit zu übersteigen vermag. Den „Opfern der Geschichte“ kann so eine „Illusion von Rache und Genugtuung“ gegeben werden. Es sind aber eben nicht nur die ausgewiesenen Opfer, die eine solche Illusion dankbar annehmen, sondern im Fall von Tarantinos persönlicher Abrechnung mit dem NS-Regime gerade auch die „Deutschen der letzten drei Generationen“. Damit ist recht anschaulich die überschwängliche Reaktion gerade auch des deutschen Publikums auf Filme wie Inglourious Basterds zusammengefasst.
Den Finger bewusst in die Wunde legen
Es ist eine tatsächliche Möglichkeit des Handelns, die hier offeriert wird. Dabei geht es nicht um ein Aushandeln der rationalen Faktizität, sondern darum, dem eigenen Wunsch nach Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen. Bei Tarantino findet sich somit eine Abrechnung mit historischer Realität. Der Regisseur lässt die Zuschauenden nie vergessen, wie sich die Wirklichkeit abgespielt hat, sondern legt den Finger bewusst in die Wunde, auch dies ein Merkmal der reparativen Nostalgie, die nicht wegschauen will, sondern um ihren Impetus zu folgen und das geschehene Unrecht wiedergutzumachen, erst einmal ganz genau hinsehen musss. Aber das Hinsehen findet sein emotionales Ventil in der filmischen Umschreibung von historischen Ereignissen.
Tarantino lässt seine ganz persönliche neue Geschichte auf der Leinwand entstehen, eine Vergangenheit, von der manche von uns wünschen, dass sie so oder ähnlich geschehen wäre. Seine Filme sind damit auch ein Aufbegehren gegen das epikureische Todesverständnis, das wiederholt zur Akzeptanz des Todes aufruft, zur Mäßigung der Gefühle gegenüber dem Unausweichlichen und zu einer fatalistischen Selbstbetrachtung, die an Verachtung grenzen kann. Die Empörung gegenüber der Geschichte geschieht wohlwissend mit der Erkenntnis, dass nichts geändert werden kann, dass der Widerstand nur unsere Energie und Kraftreserven angreift, und gerade darin findet es seine Berechtigung. Es ist das Verständnis dessen, was Elias Canetti in seiner über Jahrzehnte schreibend geführten Auseinandersetzung mit dem Tod antrieb. Auch er leistete mit Das Buch gegen den Tod Widerstand gegen das, was war und das, was sein wird und folgt dabei einer Empfindung von Ungerechtigkeit über die bloße Existenz des Todes, die jeden einzelnen Menschen bedroht. Der Umstand des Sterben-Müssens und die empfundene Ungerechtigkeit in der Geschichte lösen Empörung aus, für die Tarantino in Kinofilmen eine Form für die Verweigerungshaltung findet, die dem Publikum in den Kinosälen für eine kurze Zeit den inneren emotionalen Knoten löst, den die Erkenntnis um die Vergangenheit festgezogen hat. Das „Was-wäre-wenn…?“ wird hier gleichermaßen zum Schlachtruf wie auch zum dankbaren Moment der inneren Ruhe.
Die Wirkkraft der Kunstgattung Film auf politische und gesellschaftliche Fragen ist kein neues Phänomen. Auch fiktive Geschichten wurden bereits vielfach belletristisch fantasiert und für die Leinwand adaptiert. Tarantino indes begnügt sich nicht mit einer distanzierten Erzählung alternativer Ereignisverläufe. Seine Werke sind klare politische und zugleich höchst persönliche Stellungnahmen zu historischen Ereignissen einer Vergangenheit, die er ablehnt. In ihrer Form eines kontrafaktischen Versuchs der Wiedergutmachung sind seine Filme zugleich Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Aushandlungen unserer Gegenwart, in der die Restitutionsmöglichkeiten von NS-Raubgut oder von musealen Exponaten aus kolonialen Kontexten nicht länger nur diskutiert, sondern auch realisiert werden. In dem einen wie dem anderen Fall soll es nicht länger darum gehen, tatenlos auf geschehenes Unrecht zurückzublicken, sondern eine aktive Haltung einzunehmen und zu handeln.