Die Erfindung alternativer Vergangenheiten im Kino ist mehr als ein spekulatives Spiel. Bei Quentin Tarantino drückt sich darin ein Aufbegehren gegen die Vergangenheit aus; seine Spielart der Nostalgie ist als politische Intervention zu verstehen.

  • Nina Kreibig

    Nina Kreibig ist Historikerin und seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsthemen sind u.a.: Europäische Sepulkralforschung, Raumtheorien und Geschichte der Emotionen. Aktuell arbeitet sie zum Wittelsbacher Ausgleichsfonds in der Weimarer Republik.

Ein Raunen geht durch den Kino­saal in Berlin. Dann, in der Schluss­szene von Inglou­rious Basterds, hält es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen. Es wird gejohlt, geklatscht, die Zuschauer:innen springen auf. Das, was alle in dem Augen­blick zu verspüren scheinen, als auf der Lein­wand Adolf Hitler und sein Stab in einem Pariser Kino durch die Hand einer jüdi­schen Frau groß­for­matig in die Luft gesprengt werden, kann mit zwei Gefühlen zusam­men­ge­fasst werden: Erleich­te­rung und Genug­tuung. Das Publikum feiert ein Filmende frene­tisch, das eine Geschichte darstellt, wie sie wohl für viele der Anwe­senden hätte geschehen sollen. Es ist ein kontra­fak­ti­sches Szenario, denn alle Zuschau­enden wissen um den tatsäch­li­chen Verlauf der Vergan­gen­heit und gerade deshalb ist die Erleich­te­rung über das alter­na­tive Ende mit Händen zu greifen. 

So, wie sie histo­risch nicht gewesen ist, aber nach der Lesart Quentin Taran­tinos gege­be­nen­falls hätte sein sollen, wird die Vergan­gen­heit in Filmen des US-amerikanischen Regis­seurs spätes­tens seit 2009 für die Lauf­zeit von einigen Stunden zu einer alter­na­tiven Wirk­lich­keit. 2009 kam Inglou­rious Basterds in die Kinos; ein Film, in dem das Nazi­re­gime von seinen Opfern in die Knie gezwungen wird, 2012 folgte Django Unchained, in dem sich ein befreiter Sklave in den Südstaaten gegen sadis­ti­sche Skla­ven­halter erhebt und obsiegt. 2019 dann Once Upon A Time in Holly­wood. Auch hier wird eine imagi­näre Geschichte illus­triert, in der die hoch­schwan­gere Schau­spie­lerin Sharon Tate und ihre Haus­gäste 1969 eben nicht von Mitglie­dern der Manson Family ermordet werden.

Wider­stand gegen die Geschichte

Mit diesen Film­erzäh­lungen begehrt Taran­tino gegen histo­ri­sche Ereig­nisse und Prozesse auf, die als überaus beschä­mend und erschre­ckend ins kollek­tive Gedächtnis einge­brannt sind. 

Wenn Taran­tino alter­na­tive Lesarten der Ereig­nisse darstellt, geht es nicht um ein Verges­sen­ma­chen dessen, was tatsäch­lich geschehen ist, sondern womög­lich um eine tief­sit­zende Empö­rung vor der Geschichte selbst. Das hier ange­nom­mene Empfinden basiert auf dem Umstand, dass nichts an dem einmal einge­tre­tenen Reali­täts­ge­halt geän­dert werden kann und gerade deswegen Wider­stand geleistet werden muss. Damit gehen Taran­tinos filmi­sche Beiträge über die Über­le­gungen hinaus, die im Rahmen einer kontra­fak­ti­schen Geschichts­er­zäh­lung in Kreisen heutiger Geschichts­wis­sen­schaften in zumeist nüch­terner Form Denk­spiele anstellen, die ein „Was wäre wenn…?“ durchexerzieren.

So liefert der Althis­to­riker Alex­ander Demandt in Unge­sche­hene Geschichte rational argu­men­tie­rend diverse Begrün­dungen dafür, weshalb derar­tige alter­na­tive Plan­spiele einen Anspruch auf eine Beschäf­ti­gung mit ihnen genießen sollten. Zusätz­li­cher Erkennt­nis­ge­winn wird aus der Perspek­tive der Historiker:innen als entschei­dendes Element eines Nach­den­kens über fiktive Geschichte ange­führt. Gern wird in diesem Kontext auch eine gene­relle und inhä­rente Verbun­den­heit der Geschichts­wis­sen­schaften mit speku­la­tivem Denken postu­liert. Dass sich Geschichts­be­züge und lite­ra­ri­sche Darstel­lungen einer alter­na­tiven Historie schneiden können, wird dann deut­lich, wenn der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Chris­toph Rodiek auf die 1836 entstan­dene Uchronie Napo­léon et la conquête du monde von Louis Geoffroy verweist, in der der fran­zö­si­sche Herr­scher seinen Russ­land­feldzug sieg­reich abschließt, um anschlie­ßend seine Macht weiter auszu­bauen. Kontra­fak­ti­sche Geschichte, dies wird hier klar, ist kein Produkt des 20. oder 21. Jahrhunderts.

Quentin Taran­tino, Django Unchained, Quelle: simifilm.ch

Taran­tino erzählt in verschie­denen Filmen Geschichten, die auf histo­ri­schen Fakten beruhen und eine heilende Funk­tion erkennen lassen. Indem er Hitler und seinen Stab durch die Hand einer jüdi­schen Frau töten lässt, indem er Sharon Tate und ihre Freund:innen die Mord­nacht in Holly­wood über­leben lässt, indem – hier ein fiktives Schicksal – der Sklave Django einen Skla­ven­halter samt seinem Anwesen dem Erdboden gleich­macht, schil­dert Taran­tino Hand­lungen, die so nicht statt­ge­funden haben, nach der sich der Regis­seur und das Publikum womög­lich aber sehnen, wie man an den zahl­rei­chen emoti­ons­ge­la­denen und affir­ma­tiven Reak­tionen in den Kino­sälen nach­ver­folgen kann. 

Taran­tinos Filme kommen damit dem Wunsch nach einer Wieder­gut­ma­chung gesche­henen Unrechts nach, wie es die Rechts­wis­sen­schaft­lerin Sophie Schön­berger in ihrem 2021 erschienen Essay Was soll zurück? Die Resti­tu­tion von Kultur­gü­tern im Zeit­alter der Nost­algie mit dem Begriff der „repa­ra­tiven Nost­algie“ beschreibt. Diese Form der Nost­algie entzieht sich nicht der schmerz­li­chen Erkenntnis von Gescheh­nissen der Vergan­gen­heit, wie es andere Ansätze nost­al­gi­schen Erin­nerns – genannt sei die reflek­tive oder restau­ra­tive Nost­algie nach Lesart der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin Svet­lana Boym – inten­dieren, sondern bemüht sich um eine Ausein­an­der­set­zung mit dem, was als histo­ri­sches Unrecht wahr­ge­nommen wird, indem eine Kompen­sa­tion ange­strebt wird. Auch deshalb, weil man, wie Schön­berger betont, die „eigene Vergan­gen­heit nicht einfach aushalten will“. Das, was aus mora­li­scher Perspek­tive nicht hätte sein sollen, das, was sich als scham­be­haf­tete Fakti­zität – Skla­verei, mehr­fa­cher Mord oder Natio­nal­so­zia­lismus – darstellt, soll auch für die Gegen­wart verän­dert werden, indem der Versuch eines Ausgleichs ange­strebt wird. Indem Schön­berger darauf rekur­riert, dass das Konzept der repa­ra­tiven Nost­algie eben nicht darin besteht, eine Vergan­gen­heit aufleben zu lassen, die das reali­sieren soll, was sich die Nach­welt unter ihr vorstellt und somit durchaus auch einen nega­tiven Gehalt aufzu­weisen vermag, grenzt sie diese Heran­ge­hens­weise von anderen kontra­fak­ti­schen Erzäh­lungen gerade auch in den Geschichts­wis­sen­schaften oder in lite­ra­ri­schen Texten eines Robert Harris oder Philip K. Dick ab, in deren Szena­rien bisweilen der Natio­nal­so­zia­lismus über die rest­liche Welt obsiegt.  

Bemü­hungen um Heilung

Bei Taran­tino sitzt die Geschichte selbst auf der Ankla­ge­bank. Es ist die Forde­rung nach Gerech­tig­keit, die eine Rache explizit einschließt, die die nunmehr stummen Opfer der Vergan­gen­heit spre­chen lässt, indem die Handelnden aufbe­gehren. Wenn der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Georg Witte die Möglich­keit der Rache an den Unter­drü­ckern und einer „Erleuch­tung“ im Sinne einer beru­hi­genden Vorstel­lung alter­na­tiver Geschichts­ver­läufe bei Inglou­rious Basterds erkennt, so trifft diese Inter­pre­ta­tion das Anliegen einer Wieder­gut­ma­chung bei Taran­tino nur bedingt. Dieser bietet nicht nur eine imagi­näre Option von Geschichte an, sondern bemüht sich mit den Mitteln des Kinos um Heilung dort, wo im Grunde keine Entlas­tung denkbar ist. Hier zeigt sich die fleisch­ge­wor­dene Macht der Traum­fa­brik Holly­wood, auf die Affekte der Zuschauer:innen einzu­wirken respek­tive diese hervorzurufen. 

Quentin Taran­tino, Inglo­rious Basterds, Quelle: simfilm.ch

Dass sich Taran­tino über diesen emotio­nalen Gehalt seiner Dreh­bü­cher durchaus bewusst ist, verdeut­licht ein Inter­view von 2013, das der Stern-Reporter Martin Schwi­ckert aufge­zeichnet hat. Hier bekennt sich der Regis­seur zur „Katharsis“, die „[f]iktionale Geschichte inner­halb eines histo­ri­schen Rahmens“ auslösen kann und die die histo­ri­sche Wirk­lich­keit zu über­steigen vermag. Den „Opfern der Geschichte“ kann so eine „Illu­sion von Rache und Genug­tuung“ gegeben werden. Es sind aber eben nicht nur die ausge­wie­senen Opfer, die eine solche Illu­sion dankbar annehmen, sondern im Fall von Taran­tinos persön­li­cher Abrech­nung mit dem NS-Regime gerade auch die „Deut­schen der letzten drei Gene­ra­tionen“. Damit ist recht anschau­lich die über­schwäng­liche Reak­tion gerade auch des deut­schen Publi­kums auf Filme wie Inglou­rious Basterds zusam­men­ge­fasst. 

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Den Finger bewusst in die Wunde legen

Es ist eine tatsäch­liche Möglich­keit des Handelns, die hier offe­riert wird. Dabei geht es nicht um ein Aushan­deln der ratio­nalen Fakti­zität, sondern darum, dem eigenen Wunsch nach Gerech­tig­keit Ausdruck zu verleihen. Bei Taran­tino findet sich somit eine Abrech­nung mit histo­ri­scher Realität. Der Regis­seur lässt die Zuschau­enden nie vergessen, wie sich die Wirk­lich­keit abge­spielt hat, sondern legt den Finger bewusst in die Wunde, auch dies ein Merkmal der repa­ra­tiven Nost­algie, die nicht wegschauen will, sondern um ihren Impetus zu folgen und das gesche­hene Unrecht wieder­gut­zu­ma­chen, erst einmal ganz genau hinsehen musss. Aber das Hinsehen findet sein emotio­nales Ventil in der filmi­schen Umschrei­bung von histo­ri­schen Ereignissen. 

Taran­tino lässt seine ganz persön­liche neue Geschichte auf der Lein­wand entstehen, eine Vergan­gen­heit, von der manche von uns wünschen, dass sie so oder ähnlich geschehen wäre. Seine Filme sind damit auch ein Aufbe­gehren gegen das epiku­rei­sche Todes­ver­ständnis, das wieder­holt zur Akzep­tanz des Todes aufruft, zur Mäßi­gung der Gefühle gegen­über dem Unaus­weich­li­chen und zu einer fata­lis­ti­schen Selbst­be­trach­tung, die an Verach­tung grenzen kann. Die Empö­rung gegen­über der Geschichte geschieht wohl­wis­send mit der Erkenntnis, dass nichts geän­dert werden kann, dass der Wider­stand nur unsere Energie und Kraft­re­serven angreift, und gerade darin findet es seine Berech­ti­gung. Es ist das Verständnis dessen, was Elias Canetti in seiner über Jahr­zehnte schrei­bend geführten Ausein­an­der­set­zung mit dem Tod antrieb. Auch er leis­tete mit Das Buch gegen den Tod Wider­stand gegen das, was war und das, was sein wird und folgt dabei einer Empfin­dung von Unge­rech­tig­keit über die bloße Exis­tenz des Todes, die jeden einzelnen Menschen bedroht. Der Umstand des Sterben-Müssens und die empfun­dene Unge­rech­tig­keit in der Geschichte lösen Empö­rung aus, für die Taran­tino in Kino­filmen eine Form für die Verwei­ge­rungs­hal­tung findet, die dem Publikum in den Kino­sälen für eine kurze Zeit den inneren emotio­nalen Knoten löst, den die Erkenntnis um die Vergan­gen­heit fest­ge­zogen hat. Das „Was-wäre-wenn…?“ wird hier glei­cher­maßen zum Schlachtruf wie auch zum dank­baren Moment der inneren Ruhe.

Die Wirk­kraft der Kunst­gat­tung Film auf poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Fragen ist kein neues Phänomen. Auch fiktive Geschichten wurden bereits viel­fach belle­tris­tisch fanta­siert und für die Lein­wand adap­tiert. Taran­tino indes begnügt sich nicht mit einer distan­zierten Erzäh­lung alter­na­tiver Ereig­nis­ver­läufe. Seine Werke sind klare poli­ti­sche und zugleich höchst persön­liche Stel­lung­nahmen zu histo­ri­schen Ereig­nissen einer Vergan­gen­heit, die er ablehnt. In ihrer Form eines kontra­fak­ti­schen Versuchs der Wieder­gut­ma­chung sind seine Filme zugleich Ausdruck aktu­eller gesell­schaft­li­cher Aushand­lungen unserer Gegen­wart, in der die Resti­tu­ti­ons­mög­lich­keiten von NS-Raubgut oder von musealen Expo­naten aus kolo­nialen Kontexten nicht länger nur disku­tiert, sondern auch reali­siert werden. In dem einen wie dem anderen Fall soll es nicht länger darum gehen, tatenlos auf gesche­henes Unrecht zurück­zu­bli­cken, sondern eine aktive Haltung einzu­nehmen und zu handeln.