
Édouard Louis hat ein neues Buch geschrieben, wobei es so neu nicht ist. In Frankreich erschien es schon 2021 unter dem schlichten, starken Titel: Changer: méthode (Methode: Verändern). Im Herbst veröffentlicht der Aufbau-Verlag eine deutschsprachige Übersetzung mit dem etwas abgeschwächten Titel Anleitung ein anderer zu werden.
Zur Verkörperung von Ungleichheit
Bislang hat Édouard Louis in der Tradition der autofiktionalen Gesellschaftsanalyse von Annie Ernaux vor allem über seine Kindheit geschrieben, angefangen 2014 in seinem Debütroman Das Ende von Eddy. Vom Aufwachsen in verarmten Verhältnissen in der kargen Industrielandschaft des französischen Nordens, während durch den Familienfernseher allabendlich die bunte Popwelt der 1990er Jahre ins Wohnzimmer wabert. In einer Umwelt voll verhärteter Männlichkeitsideale, an denen er scheitert, weshalb er der quälenden Aufmerksamkeit der anderen ausgesetzt ist, verhöhnt wegen zu femininer Gesten, bedrängt von den Schimpfrufen, er sei schwul, ein Wort, das ihn beständig begleitet, sich als Stigma an ihn haftet und seinen Körper belegt. Sein sexuelles Anderssein versperrte den für ihn vorgezeichneten Weg, welcher der Weg seines Großvaters, seines Vaters, seines Bruders war: in die Fabrik, in die Welt der Kumpel und des maskulinen Gebarens beim gemeinsamen Pastistrinken. Es ist dieses von außen zugeschriebene Anderssein, das ihn zum Aufbruch aus der Enge der Kleinstadt zwingt, hinein in eine haltlose Flucht. Und so hat Édouard Louis vom Bruch mit seiner Familie geschrieben, ebenso wie von den Bemühungen, sich Jahre später seiner Mutter und schließlich auch seinem Vater anzunähern. Er hat ihre Geschichten geschildert und über seine Rolle als Verfasser dieser Geschichten reflektiert.

Cover der französischen Ausgabe von Seuil (2021)
In literarischer Weiterführung von Pierre Bourdieus Habitustheorie seziert Edouard Louis’ Literatur, wie Körper ungleich gemacht werden. Besonders eindrücklich geschieht dies im 2018 erschienenen Roman Wer hat meinen Vater umgebracht? Sein Vater, erst Fabrikarbeiter, dann Straßenkehrer, gefangen auf einem Weg, der nie einen Ausweg kannte, versperrt von einer sozialen Ordnung, welche prekäre Menschen an den ihnen zugewiesenen Plätzen belässt: „Nach einiger Zeit hast du eine andere Anstellung in einer anderen Stadt antreten müssen, für siebenhundert Euro im Monat musstest du dich jeden Tag bücken, um den Abfall der anderen aufzusammeln, musstest buckeln trotz deiner ruinierten Wirbelsäule. Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen.“
Selten wurde so prägnant geschildert, was Ungleichheit mit Körpern macht, wie Wirtschaftsmaßnahmen unmittelbar auf sie einwirken, sie verwerten und verelenden. Ungleichheit äußert sich körperlich, darauf wies schon Pierre Bourdieu hin, als er schrieb, dass Herrschaft stets verkörpert werde. Ungleichheit schreibt sich in Körpern fort, sie drückt sich in Distinktionsdynamiken aus, die von oben nach unten verlaufen. Sie äußert sich in dem gebildeten Geschmack, der alles Populäre als vulgär verachtet: in der exquisiten Wein- und Speisewahl, dem ausgesuchten Kulturgenuss, der angemessenen, eleganten Kleidung, den wohlgewählten Worten. Zwischen diesen Welten – der Arbeiterklasse im provinziellen Norden und der Kulturelite im kosmopolitischen Paris – bewegt sich Édouard Louis’ Schreiben in gejagtem Grenzgang.
Ein Bildungsroman – gegen den Strich gelesen
In Changer: méthode beschreibt Édouard Louis seinen Bildungsaufstieg vom queeren Kleinstadtkind zum weltweit berühmten Schriftsteller. Es ist eine Geschichte, die von der Gewalt der Gegendressur erzählt. Den Begriff der Gegendressur brachte Bourdieu in seinem Spätwerk ein, um aufzuzeigen, dass man gegen die eingeschriebenen habituellen Muster aufbegehren und antrainieren kann, durch Bewusstwerdung und eben durch das Einüben anderer Bewegungsabläufe, ein konkret körperliches Gegenlernen, eine Gegen-Habitualisierung. Was bei Bourdieu einen kollektiven Akt bildet, beschreibt Louis als Geschichte der Brüche, angetrieben von einem unbedingten Begehren nach Transformation, das ihn immer wieder aus der Bande reißt, die ihn mit Weggefährt*innen verbindet.
Da ist die Freundschaft mit Elena, die er im Gymnasium kennenlernt. Die er bis zur Perfektion zu imitieren versucht. Deren bildungsbürgerliche Familie ihn aufnimmt und begleitet, als er in zwanghafter Manier einen anderen Habitus einübt. Denn schnell spürt er bei den Abendessen im Kreis von Elenas Familie die unsichtbaren und doch so deutlichen Grenzen der Distinktion. Er erlebt sie als Makel an sich selbst, in seiner Aussprache, seinem Aussehen, seinem Auftreten, Makel, die er unerbittlich auslöschen muss. Mein Körper erzählte eine andere Geschichte als diejenige, die ich durch meinen Willen formen wollte. Um seine Geschichte zu verändern, muss er seinen Körper verändern.
Somit beginnt sein Projekt des rasanten, radikalen Selbstwandels. Eine Arbeit, die komplette Körperkontrolle abverlangt. Fortan muss er in jeder Sekunde darauf achten, seinen habituellen Hintergrund zu verbergen. Kein Wort, das über seine Lippen kommt, darf den Dialekt des Nordens durchklingen lassen. Sein Name, seine Kleidung, sein Haarschnitt, selbst sein Lachen, alles muss anders werden. Eine Übung, die ihm insofern leichtfällt, als ihm in seiner Kindheit seiner Gesten und Bewegungen stets bewusst gemacht wurden, die den anderen als zu feminin erschienen und als zu exaltiert kommentiert wurden. Schon damals war er bemüht, sich seinem Umfeld bestmöglich anzupassen. Seine Fähigkeiten zur Verstellung, die er sich als Junge aneignen musste – mit tieferer Stimme sprechen, vorgeben, sich für Mädchen zu interessieren – kommt ihm im neuen Umfeld zupass. Zum einen sticht er am Schultheater als talentierter Schauspieler hervor, zum anderen hilft es ihm, seine habituellen Muster umzuschreiben. Angetrieben von dem Begehren nach Veränderung, das seins und doch nicht seins ist, weil keine Wahl bleibt, führt seine Reise nach Amiens. Er studiert dort Geschichte, entdeckt das universitäre Umfeld und bleibt eng mit Elena befreundet, die ihn eines Tages behutsam beiseite nimmt, um ihm die bürgerlichen Manieren des Essens beizubringen, die korrekte Handhabung des Bestecks, die richtige Haltung des Körpers. Er nimmt ihre Anleitungen eifrig auf und imitiert sorgsam die Gesten der anderen bei den folgenden Abendessen: Sie dachten, ich würde das Gleiche machen wie sie, doch in Wirklichkeit arbeitete ich als ich aß, ich übte einen neuen Körper ein.
Einen anderen Habitus, einen anderen Körper einüben
Doch der Abstand zu seiner Familie ist in Amiens nicht groß genug, es zieht ihn nach Paris, an die École Normale Supérieure, eine der Eliteschulen in Frankreich. In seiner Rastlosigkeit, dem stillen Zwang nach schnellstmöglicher, größtmöglicher Veränderung, muss er aus Amiens aufbrechen und sich von Elena verabschieden. Und er kommt in Paris an, in die freundschaftliche und intellektuelle Nähe von Didier Eribon. Besessen vom Bestreben, ebenfalls ein erfolgreicher Autor zu werden, stürzt sich Édouard Louis ins Lesen, ortlos, koordinatenlos, ohne Vorwissen, blindlings alle Bücher verschlingend. In der Hast, den Vorsprung einzuholen, der uneinholbar erscheint: der Vorsprung, den seine Mitstudierenden so selbstverständlich mit sich tragen, die in Akademikerfamilien aufgewachsen sind, umgeben von Bildung und Büchern, beschert mit dem Wissen, sich im Universitären zurechtzufinden, beschenkt mit dem Selbstbewusstsein, dort einen berechtigten Platz zu besitzen.
Die Transformation gelingt. Der körperliche Wandel schreitet voran. Einer seiner wohlhabenden Liebhaber in der Pariser Oberschicht bezahlt ihm den Zahnarzt. Und Édouard Louis, der inzwischen in seiner Rolle brilliert und seiner bourgeoisen Umwelt weismachen kann, er sei einer von ihnen, gerät in Panik. Denn die Zähne, die schiefstehenden, kariösen, ungepflegten Zähne sind der untrügliche Beweis seiner Herkunft, den er nicht einfach auslöschen oder durch antrainierten Jargon kaschieren kann.

Ankündigung der deutschen Übersetzung im Aufbau-Verlag.
Seine Gegendressur richtet sich an den schwulen Männern seines neuen Milieus aus, gepflegt, gebildet, gediegen. Sein soziales Begehren, schreibt er, vermischte sich mit seinem sexuellen Begehren. Er begehrt diejenigen, denen er gleichen will. In diesem Begehren nach Imitation sucht er sich wohlbetuchte Bettgefährten, die ebenjenen Erfolg verkörpern, den er selbst erringen will. Die Liebhaber, die ihn unterstützen, die ihn umsorgen und die er doch verlassen muss, in der endlosen Flucht zu einem neuen Selbst. Ein Selbst, das ihm einen Platz in der Welt sichern soll, in einer Welt, die für ihn nie vorgesehen war. Wenn ich es an die École Normale Supérieure schaffe, dann bin ich gerettet, wenn ich ein Buch schreibe, dann bin ich gerettet – diese Sehnsucht danach, eines Tages vor der Armut gerettet zu sein, gestaltet sich als Streben, das ihn ständig aus den Bezügen reißt, die er sich gebaut hat. Ein Begehren, das ihn ins Schreiben bringt.
Doch damit der Sturz ins Schreiben gelingen kann, bedarf es eines weiteren Bruchs: Plötzlich ist da der Ekel, den er verspürt, als ihn ein Liebhaber ermahnt, ja keinen Wein auf die mit Eisbärfell ummantelte Couch zu verschütten. Der Abscheu, der in ihm aufkommt, als bei einem eleganten Abendessen der Gastgeber eine Bedienstete in arroganter Rede über ihren Kopf hinweg abtadelt. Womöglich ist es dieser Abstand, der sich in Brüchen zu seinen bourgeoisen Begleitern auftut, der das Schreiben erst ermöglicht.
Und er schafft den Absprung, und zwar ausgerechnet durch die Rückkehr zu seiner Vergangenheit, im Aufschreiben seiner Geschichte, die sich mit all den anderen Geschichten verflechtet, die von Armut und Ungleichheit erzählen. Doch es ist keine Aufstiegsgeschichte, die aufscheint, kein anrührender Bildungsroman eines Außenseiters, der sich mit Ehrgeiz zum Erfolg hochkämpft. Stattdessen ist es die Geschichte einer gewaltvollen Gegendressur. Eine Gewalt, die sich gegen andere richtet, gegen seine Familie, die er verleugnet und denen er, bei seinen seltenen Besuchen, in großspurigen Gesten seinen sozialen Abstand vorführt, etwa wenn er sich demonstrativ lesend auf die Wohnzimmercouch legt, um sein neues Dasein als Student vorzuführen, oder sich an den kleinen Grammatikfehlern des familiären Dialekts stört. Eine Gewalt, die sich gegen ihn selbst richtet, ihn rastlos und ruhelos macht, die ihn zwingt, die Nähe, die er findet, ein ums andere Mal zu verlassen.
Das Begehren nach Transformation
In den Fluchtlinien, die er zieht, macht Édouard Louis die Grenzen der Disktinktion spürbar, die Gesellschaften durchziehen, feinstofflich bis in die kleinen Gesten der Abgrenzung hinein. Seine Literatur legt offen, wie sich Ungleichheit körperlich äußert, in all den sichtbaren und unsichtbaren Hürden und Hindernissen, die Menschen dazu zwingen, sich in ungleichen Gesellschaftsverhältnissen einzurichten. Zudem zeigt er auf, wie Ausgrenzungen aufgrund von rassistischen und vergeschlechtlichen Normen mit ökonomischer Prekarisierung zusammenspielen. Seine literarische Gesellschaftsanalyse verdeutlicht, dass Ausbeutung stets differentiell verfährt, sie baut darauf auf, Menschen in höherem Maße auszubeuten, die als ‚anders‘ markiert sind, als rassifizierte Andere, als sexuelle Andere, aber auch als Andere, weil sie arm und prekär sind. Sein Schreiben macht sichtbar, wie Menschen entlang dieser Differenzeinschreibungen gegeneinander ausgespielt werden, so das die geteilte Ausbeutung ausgeblendet wird.
Dennoch führt seine autofiktionale Erzählung ein Dilemma vor Augen. Denn während Édouard Louis es geschafft hat, seine Geschichte zu schreiben, bleiben die anderen Geschichten unerzählt: die Beschreibungen der vergeblichen Bemühungen, sich durch Bildung einen anderen sozialen Platz zu sichern als denjenigen, der einem in der Geburtslotterie zugewiesen wurde. Ungehört bleiben die Stimmen all derer, die es eben nicht geschafft haben, nicht aus Gründen des individuellen Scheiterns, sondern wegen übermächtiger Strukturen. Diejenigen, die gegen alle Widrigkeiten an die Universität konnten, aber ihr Studium abbrechen mussten, um ihr Auskommen zu sichern. Denen der Raum zum Schreiben verschlossen bleibt, weil es Zeit und Geld erfordert.
Vielleicht mögen diese unerzählten Geschichten keine Buchform annehmen, doch sie zeigen sich in anderen Ausdrucksformen. Aktuell kursiert unter #Ichbinarmutsbetroffen ein Bündel an Erzählungen, was Armut mit Menschen macht: Scham, Ausgrenzung, Gesundheitsprobleme. Ähnlich wie bei der Bewegung der Gelbwesten protestierten in den USA Menschen im Poor People’s March. Vielleicht vermögen diese Protestformen andere Formen der Gegendressur hervorzubringen, die sich solidairisch und kollektiv gestalten, als affektive Gegen-Habitualisierungen. Denn diese Begegnungen und Erzählungen machen eines klar: Es geht hier weder um Almosen noch um Mitleidsgesten. Es braucht nicht weniger als den radikalen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, der bei den ungleichmachenden Eigentumsverhältnissen ansetzt. In ihnen äußert sich ein Begehren nach Transformation, das einzelne Bildungsgeschichten übersteigt und nach einer neuen, anderen Welt verlangt.