Vor 20 Jahren wurde die Wikipedia ins Leben gerufen. Durch ihre offene Struktur scheint die freie Enzyklopädie eine perfekte Plattform zu sein, um neue Forschungsergebnisse zu popularisieren. Doch Geisteswissenschaftler:innen zögern, sich ins Community-Projekt einzubringen. Warum eigentlich?

  • Gleb Albert

    Gleb Albert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Histo­ri­schen Seminar der Univer­sität Zürich. Aus der Historischen Kommunismusforschung kommend, arbeitet er nun als Mitglied der Forscher­gruppe «Medien und Mimesis» an einem Projekt zur Geschichte der Softwarepiraterie. Er ist Mitherausgeber des International Newsletter of Communist Studies und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart.

Kaum ein Internet-Projekt hat im Wissen­schafts­be­trieb so einen zwie­späl­tigen Ruf wie Wiki­pedia. Einer­seits gilt es als No-Go, die 2001 gegrün­dete „freie Enzy­klo­pädie“  zu zitieren. Ande­rer­seits gibt es kaum eine:n Geisteswissenschaftler:in, der/die nicht auf Wiki­pedia zurück­greift, und sei es nur, um die Lebens­daten einer histo­ri­schen Persön­lich­keit nach­zu­schlagen. Insge­samt sind die „Zehn Jahre Berüh­rungs­ängste“, die Thomas Wozniak bereits 2012 im Verhältnis zwischen Wiki­pedia und den Geschichts­wis­sen­schaften diagnos­ti­ziert hat, auch neun Jahre später nicht weniger geworden. Dabei mutet es seltsam an, dass während „citizen science“ und „public history“ in aller Munde sind, und die Popu­la­ri­sie­rung wissen­schaft­li­cher Erkennt­nisse ein seitens der Wissen­schafts­po­litik fest erwar­teter Bestand­teil akade­mi­scher Karrieren ist, das nahe­lie­gendste und nieder­schwel­ligste Vehikel einer solchen Popu­la­ri­sie­rung in den entspre­chenden Über­le­gungen keine Rolle spielt. 

Edit-a-thon, Univer­sität Wien, Institut für Publi­zistik und Kommu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaften. Quelle: Wikipedia

Es gibt zwei Argu­men­ta­ti­ons­stränge, die aus den Geis­tes­wis­sen­schaften heraus gegen Wiki­pedia ins Feld geführt werden: Der eine, gewis­ser­maßen „konser­va­tive“, verweist auf zahl­reiche Fakten­fehler, die sich in die Online-Enzyklopädie einge­schli­chen haben, was sie insge­samt unzu­ver­lässig mache. Eng damit verbunden ist der Vorwurf, Wiki­pedia weise bei bestimmten Themen poli­ti­sche Schlag­seiten auf. Der andere, eher aus „progres­siver“ Rich­tung kommende Argu­men­ta­ti­ons­strang verweist auf syste­mi­sche Mängel. So etwa die über­wie­gend weiße, männ­liche und tech­no­phile Zusam­men­set­zung der Laien-Autoren, die rechts­li­ber­tären Affi­ni­täten des Wikipedia-Gründers und Ayn-Rand-Fans Jimmy Wales, oder auch der gesamte Zuschnitt des Projekts, den etwa Philip Mirowski als Muster­bei­spiel einer neoli­be­ralen Wissens­öko­nomie sieht: Wiki­pedia sei eine Enteig­nung der Wissenschaftler:innen, deren Forschungs­er­geb­nisse von unbe­zahlten Laien-Autor:innen in ein Online-Projekt einge­pflegt werden, von dem letzt­lich Tech-Giganten wie Google profi­tieren, indem sie auto­ma­ti­siert und kostenlos Wissen abgreifen und mone­ta­ri­sieren können.

All diese Kritik­punkte sind für sich genommen valide – manche mehr, manche weniger. Nichts­des­to­trotz will ich im Folgenden dafür argu­men­tieren, Wiki­pedia an ihren eigenen Ansprü­chen gemessen ernst­zu­nehmen und, mehr noch, sich als Akademiker:innen stärker in die „freie Enzy­klo­pädie“ einzubringen.

Zunächst einmal soll es nicht darum gehen, ob Wiki­pedia „gut“ oder „schlecht“ ist. Als der Basler Histo­riker Peter Haber, einer der Pioniere der digi­talen Geschichts­wis­sen­schaft, sich vor über 15 Jahren mit dem damals neuen Phänomen ausein­an­der­setzte, machten solche Fragen noch Sinn. Heute muss man schlicht aner­kennen: Wiki­pedia exis­tiert und wird nicht in abseh­barer Zeit verschwinden. Sie ist schon lange die erste Adresse zum schnellen Abrufen von Wissen und wird von Menschen jedes Alters und jeder Schicht frequen­tiert. Im Umkehr­schluss heißt es: Das Einbringen der eigenen Exper­tise in das größte, popu­lärste und nied­rig­schwel­ligste enzy­klo­pä­di­sche Projekt birgt Poten­ziale der Wissens­ver­mitt­lung, mit denen kein hoch­do­tiertes Public-History-Projekt mithalten kann. Aller­dings muss die Wissen­schaft dafür über den eigenen Schatten springen.

Wirk­lich eine „killer app“?

Zum distan­zierten Umgang der Wissen­schaft mit Wiki­pedia trägt zuerst die (auch von den Wikipedia-Machern selbst befeu­erte) Wahr­neh­mung des Projektes als einer digi­talen Revo­lu­tion sonder­glei­chen bei. Eine von zahl­losen Laien verfasste, in Echt­zeit wach­sende Enzy­klo­pädie soll plötz­lich das maßge­bende Nach­schla­ge­werk sein, das es sogar mit der Ency­clo­paedia Britan­nica aufnehmen kann! Man müsste aller­dings fragen, ob Wiki­pedia inner­halb der Geschichte der Wissens­ak­ku­mu­la­tion und -vermitt­lung wirk­lich dermaßen neuartig ist. Sind es gerade die an ihr geprie­senen – oder, je nach Stand­punkt, skan­da­li­sierten – Eigen­schaften, die einen radi­kalen wissens­ge­schicht­li­chen Bruch darstellen? Um hier klarer zu sehen, ist eine Histo­ri­sie­rung der Wiki­pedia vonnöten – und sie wird bereits geleistet –, die nicht auf die Silicon-Valley-Rhetorik der „killer app“ und der „disrup­tive inno­va­tion“ hereinfällt.

Dies betrifft zunächst die Frage der Autor­schaft. Dass kolla­bo­ra­tives Schreiben nicht neu ist, ist eine histo­ri­sche Binsen­weis­heit, die nicht näher ausge­führt werden muss. Vielen Akademiker:innen bereitet die als Absage an indi­vi­du­elle Autor­schaft wahr­ge­nom­mene Zusam­men­ar­beit jedoch gerade Unbe­hagen. Es läuft allen Wissenschaftler:innen-Instinkten zuwider, Texte nicht nur namenlos zu verfassen, sondern sie auch noch von ebenso namen­losen Mitschreiber:innen umge­ar­beitet, gar „entstellt“ zu sehen. Doch diese sind gar nicht namenlos: die Versi­ons­ge­schichte schafft eine Trans­pa­renz der Korrektur, mitunter der Korrektur der Korrektur, der Vorschläge und Zweifel, also etwas, das im akade­mi­schen Publi­zieren sonst unsichtbar bleibt. 

Auch das zweite Novum von Wiki­pedia – die Produk­tion von Refe­renz­wissen durch Laien – ist auf den zweiten Blick keines. Die scharfe Abgren­zung von Expert:innen und Laien in der Wissen­schaft sowie die Konzen­trie­rung „legi­timer“ wissen­schaft­li­cher Wissens­pro­duk­tion auf Univer­si­täten und Forschungs­in­sti­tu­tionen ist ein relativ junges Phänomen, das sich erst im ausge­henden 19. Jahr­hun­dert verfes­tigte. Auch beim Prototyp aller moderner Enzy­klo­pä­dien, der Ency­clo­pédie der fran­zö­si­schen Aufklä­rung, war das Autoren­profil keines­wegs auf gens de lettres beschränkt. 

Eine weitere Eigen­schaft von Wiki­pedia, die als neuartig gilt, ist ihr Hypertext-Aufbau: Jedes Lemma kann auf zahl­reiche andere Lemmata verweisen, die nur einen Maus­klick entfernt sind. Quer­ver­weise sind jedoch ein zentraler Bestand­teil von Nach­schlag­werken, spätes­tens seit der Ency­clo­pédie. Bereits 1984 charak­te­ri­sierte Umberto Eco eine Enzy­klo­pädie als Laby­rinth, in dem „jeder Punkt … mit jedem Punkt verbunden werden“ könne, und in dem es „weder einen Mittel­punkt noch ein Außen“ gebe. Die tech­ni­sche Umsetz­bar­keit von Hyper­text im World Wide Web perfek­tio­niert dieses enzy­klo­pä­di­sche Prinzip ledig­lich, erfindet es aber nicht neu.

Aufruf für den Art + Femi­nism 2016: Edit-a-thon Berlin, Quelle: phenomenelle.de

Tatsäch­lich neu an der Wiki­pedia ist die Quali­täts­kon­trolle durch Schwarm­in­tel­li­genz – die zum einen durch die soeben erwähnte tech­ni­sche Infra­struktur ermög­licht wird, die nied­rig­schwellig und sofort sichtbar Verän­de­rungen erlaubt, zum anderen durch den Aufbau einer Nutzer:innen-Community, die groß genug ist, als dass sich für jeden Themen­be­reich genug Frei­wil­lige finden, die Vanda­lismus und Mani­pu­la­tionen recht­zeitig tilgen können. Zwar können manche Hoaxes jahre­lang unwi­der­spro­chen stehen bleiben, wie etwa im hoch­bri­santen Fall eines fiktiven, mutmaß­lich von polni­schen Natio­na­listen auf Wiki­pedia einge­tra­genen NS-Vernichtungslagers. Doch dass solche Fälle relativ selten sind und ihnen bei Aufde­ckung derar­tige mediale Aufmerk­sam­keit zukommt, heißt im Umkehr­schluss, dass die Kontroll­me­cha­nismen der Schwarm­in­tel­li­genz bei Wiki­pedia im Regel­fall erstaun­lich gut funk­tio­nieren – was gerade in Zeiten der „fake news“ positiv überrascht. 

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Regel­werke und Hierarchien

Wiki­pedia ist kein komplett neues, „disrup­tives“ Phänomen. Sie orien­tiert sich an konven­tio­nellen enzy­klo­pä­di­schen Modellen, und sticht ledig­lich durch eine brei­tere Betei­li­gung, ein dyna­mi­sches Publi­ka­ti­ons­mo­dell und einen tenden­ziell unbe­grenzt wach­senden Umfang heraus. All diese Eigen­schaften sollten eigent­lich Wissenschaftler:innen dazu animieren, sich mit ihren Forschungen und ihrem Wissen einzu­bringen. Es hält sie jedoch, neben den allge­mei­neren Vorbe­halten, noch etwas anderes zurück: Ein Geflecht von Regel­werken und unge­schrie­benen Gepflo­gen­heiten, das sich auf den ersten Blick markant von denje­nigen in der Academia unterscheidet.

Ein zentraler Pfeiler der Wiki­pedia ist der „Neutrale Stand­punkt“, im Engli­schen „Neutral Point of View“ (NPOV). Gerade Geisteswissenschaftler:innen mögen einen solchen zurecht als Mythos abtun. Doch einer­seits sitzt auch das Wikipedia-Regelwerk nicht der Illu­sion eines voll­kommen „neutralen“ Stand­punktes auf. Dieser wird ledig­lich als Ideal­zu­stand gesehen, dem man sich nähern könne, indem zu einem Sach­ver­halt unter­schied­liche wissen­schaft­liche Stand­punkte darge­stellt werden – und zwar nicht in post­fak­ti­scher Manier alle exis­tie­renden Stand­punkte unge­achtet ihrer Vali­dität, sondern entspre­chend ihrer inner­fach­li­chen Rele­vanz. Dass trotzdem an diesem Ideal­zu­stand fest­ge­halten wird, eint die Wiki­pedia wiederum mit der Geschichte der Geschichts­wis­sen­schaft, wie Roy Rosen­zweig bereits 2006 fest­ge­halten hat: Genauso wie „Neutra­lität“ ein Grün­dungs­my­thos der Wiki­pedia sei, sei auch „Objek­ti­vität“ ein Grün­dungs­my­thos der Geschichts­wis­sen­schaft gewesen. 

Ein weiterer zentraler Bestand­teil des Regel­werks, der Akademiker:innen regel­mäßig irri­tiert, ist die Richt­linie „Keine Theo­rie­fin­dung“ bzw. im Engli­schen „No Original Rese­arch“ – beides zuge­ge­be­ner­maßen unglück­lich gewählte Titel. Sie besagt ledig­lich, dass Artikel auf bereits publi­zierten Quellen und Forschungs­li­te­ratur zu fußen haben. Dadurch wird vor allem gänz­lich unbe­legten Schluss­fol­ge­rungen, die auf arkanem Wissen oder vermeint­li­cher Lebens­er­fah­rung aufbauen, der Riegel vorge­schoben. Der Verzicht auf unpu­bli­zierte Quellen ist zudem etwas, was sich von den Schreib­ge­pflo­gen­heiten wissen­schaft­li­cher Nach­schla­ge­werke kaum unter­scheidet: Auch in histo­ri­schen Handbuch- oder Enzy­klo­pä­die­bei­trägen wäre ein Rück­griff auf Archiv­quellen eher ungewöhnlich. 

Aufruf für den Edit-a-thon „Mehr Wissen­schaft­le­rinnen auf Wiki­pedia“ 2021, Quelle: www.braincity.berlin

Die wich­tigsten Wikipedia-Regeln laufen also nicht notwen­di­ger­weise akade­mi­schen Gepflo­gen­heiten zuwider. Mein Verdacht ist eher, dass die größte Zumu­tung der Wiki­pedia für etablierte Forscher:innen in der kompletten Aushe­be­lung akade­mi­scher Hier­ar­chien liegt, die durch die meri­to­kra­ti­schen Hier­ar­chien der Wikipedia-Community ersetzt werden: So wird in einer Arti­kel­dis­kus­sion die Stimme einer pensio­nierten Post­be­amtin, die über Jahre hinweg Tausende „Edits“ vorge­legt hat, höchst­wahr­schein­lich mehr Gewicht haben als die eines Univer­si­täts­pro­fes­sors, der sich erst­mals traut, einen Artikel zu seinem Forschungs­feld zu korri­gieren, und sich, aus Angst vor einem vorgeb­li­chen Repu­ta­ti­ons­ver­lust, womög­lich nicht einmal als solcher zu erkennen gibt. Doch gerade für Akademiker:innen gibt es die Möglich­keit, ihr symbo­li­sches Kapital aus der Wissen­schaft in die Wikipedia-Community zu trans­fe­rieren: Durch offenes Auftreten als Expert:innen.

Wer es aber für eine Zumu­tung hält, Rentner, Schü­le­rinnen, Mecha­tro­niker oder pensio­nierte Studi­en­räte von Dingen zu über­zeugen, die man selbst für längst ausdis­ku­tierten wissen­schaft­li­chen Konsens hält, muss sich wiederum fragen lassen, wie er oder sie es mit den in allen akade­mi­schen Projekt­an­trägen immer wieder ertö­nenden Rufen nach „public history“, „citizen science“ und gene­reller Öffent­lich­keits­ar­beit hält. Sind es schöne Schlag­worte, die nichts mehr gelten, sobald es darum geht, Wissen in konkrete außer­aka­de­mi­sche Bereiche zu tragen, in denen die akade­mi­schen Meriten erst einmal nichts zählen? Immerhin birgt Wiki­pedia, im Gegen­satz zu anderen durchaus unge­müt­li­chen Orten der digi­talen Öffent­lich­keit, für Akademiker:innen einen unschlag­baren Vorteil: Das meri­to­kra­ti­sche Wertungs- und Hier­ar­chie­system lässt nicht einfach Meinung gegen Meinung stehen, sondern gibt wissen­schaft­lich belegten Meinungen tenden­ziell Priorität. 

Es gibt auch andere, aus „progres­siver“ Warte vorge­brachte Gründe, die Geisteswissenschaftler:innen zögern lassen, sich in die „freie Enzy­klo­pädie“ einzu­bringen: Etwa das herkömm­liche System der Enzy­klo­pädie, das keine Ambi­va­lenzen oder alter­na­tive Wissens­sys­teme zulässt, oder das starre Fest­halten der deutsch­spra­chigen Wiki­pedia am gene­ri­schen Masku­linum. „Sind wir nicht schon viel weiter?“, mögen Geisteswissenschaftler:innen fragen. „Wir“ als akade­mi­sches Milieu sind es mögli­cher­weise, wir sind aber nur ein Teil­system der Öffent­lich­keit und nicht ihr Gravi­ta­ti­ons­zen­trum. Zudem ist Wiki­pedia nicht bloß eine öffent­liche Enzy­klo­pädie, sondern beher­bergt mit den Wikipedianer:innen eine meti­ro­kra­tisch struk­tu­rierte digi­tale Subkultur, die nach eigenen Regeln und Hier­ar­chie­kri­te­rien funk­tio­niert. Man muss diese Regeln nicht gut finden, aber man kann sie nur verän­dern, indem man sich einbringt, und nicht mit dem Gestus eines besser­wis­se­ri­schen Außen­ste­henden. So kann man sich etwa denje­nigen Wikipedia-Autor:innen anschließen, die für geschlech­ter­ge­rechte Formu­lie­rungen Mehr­heiten zu orga­ni­sieren versu­chen.

Für Betei­li­gung mit offenem Visier

Eine offene Infra­struktur, eine seit zwanzig Jahren aktive Commu­nity, eine Rezep­tion, die alle anderen Internet-Wissensangebote in den Wind schlägt: Die Wiki­pedia ist eine ideale Platt­form zur Popu­la­ri­sie­rung wissen­schaft­li­cher Erkennt­nisse. Dennoch wird die Chance, die sich damit bietet, von der Academia kaum wahr­ge­nommen – oftmals aus Unwissen, Vorur­teilen und einem Stan­des­dünkel heraus.

Wiki­pedia lässt sich hervor­ra­gend in der Lehre einsetzen. Nicht nur können Schreib­work­shops, in denen Studie­rende lernen, für Wiki­pedia zu schreiben, sie an außer­aka­de­mi­sche Schreib­for­mate heran­führen. Auch bietet Wiki­pedia ein gutes Trai­ning für den quel­len­kri­ti­schen Blick – etwa indem national(istisch)e Geschichts­kul­turen anhand der Unter­schiede, mit denen ein histo­ri­sches Ereignis in zwei unter­schied­li­chen Wikipedia-Sprachversionen verhan­delt wird, heraus­ge­ar­beitet werden.

Edit-a-thon in San Fran­cisco 2012, in den Büros der Wiki­media Foun­da­tion. Quelle: Wikipedia

Am wich­tigsten ist jedoch meiner Meinung nach, dass mehr Wissenschaftler:innen als Autor:innen in der Wiki­pedia aktiv werden, und zwar mit offenem Visier. Gleich­zeitig müsste ein solches Enga­ge­ment verste­tigt und seitens der Wissen­schafts­po­litik aner­kannt und hono­riert werden. Könnte es nicht etwa ein Bestand­teil der Öffent­lich­keits­ar­beit großer Forschungs­pro­jekte (und ein Krite­rium ihrer Evalu­ie­rung) sein, die Erkennt­nisse aus dem Projekt in die Wiki­pedia einzu­bringen? Es gibt bereits Museen und Archive, die den Posten eines offi­zi­ellen „Wiki­pe­dians in Resi­dence“ haben, dessen Aufgabe es ist, das Wissen ihrer Insti­tu­tionen syste­ma­tisch in die Enzy­klo­pädie einzu­pflegen – und damit auch seine Insti­tu­tion stärker in der Öffent­lich­keit zu repräsentieren. 

Das Enga­ge­ment in der Wiki­pedia ist zuge­ge­be­ner­maßen mühsam und stre­cken­weise frus­trie­rend – genauso mühsam jedoch wie jede Art von öffent­li­cher Wissens­ver­mitt­lung. Doch eine bessere und effi­zi­en­tere Platt­form, um dies zu tun, gibt es kaum. Eine Verwei­ge­rungs­hal­tung gegen­über Wiki­pedia bei gleich­zei­tigem Lamen­tieren über Fakten­fehler und starre Community-Regeln ist ähnlich effi­zient wie Wahl­abs­ti­nenz mit dem Argu­ment, dass Wahlen „eh nichts ändern“ würden – bloß mit dem Unter­schied, dass ein guter, substan­zi­eller, auf Forschungs­er­geb­nissen basierter Edit einen unmit­telbar sicht- und fühl­baren Impact in Bezug auf den Wissens­stand hat, der beispiels­weise Hundert­tau­senden von Schüler:innen für ihre Haus­auf­gaben und Refe­rate zur Verfü­gung steht. Wenn das keine wirk­mäch­tige Wissens­ver­mitt­lung ist, was dann?