Kaum ein Internet-Projekt hat im Wissenschaftsbetrieb so einen zwiespältigen Ruf wie Wikipedia. Einerseits gilt es als No-Go, die 2001 gegründete „freie Enzyklopädie“ zu zitieren. Andererseits gibt es kaum eine:n Geisteswissenschaftler:in, der/die nicht auf Wikipedia zurückgreift, und sei es nur, um die Lebensdaten einer historischen Persönlichkeit nachzuschlagen. Insgesamt sind die „Zehn Jahre Berührungsängste“, die Thomas Wozniak bereits 2012 im Verhältnis zwischen Wikipedia und den Geschichtswissenschaften diagnostiziert hat, auch neun Jahre später nicht weniger geworden. Dabei mutet es seltsam an, dass während „citizen science“ und „public history“ in aller Munde sind, und die Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ein seitens der Wissenschaftspolitik fest erwarteter Bestandteil akademischer Karrieren ist, das naheliegendste und niederschwelligste Vehikel einer solchen Popularisierung in den entsprechenden Überlegungen keine Rolle spielt.

Edit-a-thon, Universität Wien, Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Quelle: Wikipedia
Es gibt zwei Argumentationsstränge, die aus den Geisteswissenschaften heraus gegen Wikipedia ins Feld geführt werden: Der eine, gewissermaßen „konservative“, verweist auf zahlreiche Faktenfehler, die sich in die Online-Enzyklopädie eingeschlichen haben, was sie insgesamt unzuverlässig mache. Eng damit verbunden ist der Vorwurf, Wikipedia weise bei bestimmten Themen politische Schlagseiten auf. Der andere, eher aus „progressiver“ Richtung kommende Argumentationsstrang verweist auf systemische Mängel. So etwa die überwiegend weiße, männliche und technophile Zusammensetzung der Laien-Autoren, die rechtslibertären Affinitäten des Wikipedia-Gründers und Ayn-Rand-Fans Jimmy Wales, oder auch der gesamte Zuschnitt des Projekts, den etwa Philip Mirowski als Musterbeispiel einer neoliberalen Wissensökonomie sieht: Wikipedia sei eine Enteignung der Wissenschaftler:innen, deren Forschungsergebnisse von unbezahlten Laien-Autor:innen in ein Online-Projekt eingepflegt werden, von dem letztlich Tech-Giganten wie Google profitieren, indem sie automatisiert und kostenlos Wissen abgreifen und monetarisieren können.
All diese Kritikpunkte sind für sich genommen valide – manche mehr, manche weniger. Nichtsdestotrotz will ich im Folgenden dafür argumentieren, Wikipedia an ihren eigenen Ansprüchen gemessen ernstzunehmen und, mehr noch, sich als Akademiker:innen stärker in die „freie Enzyklopädie“ einzubringen.
Zunächst einmal soll es nicht darum gehen, ob Wikipedia „gut“ oder „schlecht“ ist. Als der Basler Historiker Peter Haber, einer der Pioniere der digitalen Geschichtswissenschaft, sich vor über 15 Jahren mit dem damals neuen Phänomen auseinandersetzte, machten solche Fragen noch Sinn. Heute muss man schlicht anerkennen: Wikipedia existiert und wird nicht in absehbarer Zeit verschwinden. Sie ist schon lange die erste Adresse zum schnellen Abrufen von Wissen und wird von Menschen jedes Alters und jeder Schicht frequentiert. Im Umkehrschluss heißt es: Das Einbringen der eigenen Expertise in das größte, populärste und niedrigschwelligste enzyklopädische Projekt birgt Potenziale der Wissensvermittlung, mit denen kein hochdotiertes Public-History-Projekt mithalten kann. Allerdings muss die Wissenschaft dafür über den eigenen Schatten springen.
Wirklich eine „killer app“?
Zum distanzierten Umgang der Wissenschaft mit Wikipedia trägt zuerst die (auch von den Wikipedia-Machern selbst befeuerte) Wahrnehmung des Projektes als einer digitalen Revolution sondergleichen bei. Eine von zahllosen Laien verfasste, in Echtzeit wachsende Enzyklopädie soll plötzlich das maßgebende Nachschlagewerk sein, das es sogar mit der Encyclopaedia Britannica aufnehmen kann! Man müsste allerdings fragen, ob Wikipedia innerhalb der Geschichte der Wissensakkumulation und -vermittlung wirklich dermaßen neuartig ist. Sind es gerade die an ihr gepriesenen – oder, je nach Standpunkt, skandalisierten – Eigenschaften, die einen radikalen wissensgeschichtlichen Bruch darstellen? Um hier klarer zu sehen, ist eine Historisierung der Wikipedia vonnöten – und sie wird bereits geleistet –, die nicht auf die Silicon-Valley-Rhetorik der „killer app“ und der „disruptive innovation“ hereinfällt.
Dies betrifft zunächst die Frage der Autorschaft. Dass kollaboratives Schreiben nicht neu ist, ist eine historische Binsenweisheit, die nicht näher ausgeführt werden muss. Vielen Akademiker:innen bereitet die als Absage an individuelle Autorschaft wahrgenommene Zusammenarbeit jedoch gerade Unbehagen. Es läuft allen Wissenschaftler:innen-Instinkten zuwider, Texte nicht nur namenlos zu verfassen, sondern sie auch noch von ebenso namenlosen Mitschreiber:innen umgearbeitet, gar „entstellt“ zu sehen. Doch diese sind gar nicht namenlos: die Versionsgeschichte schafft eine Transparenz der Korrektur, mitunter der Korrektur der Korrektur, der Vorschläge und Zweifel, also etwas, das im akademischen Publizieren sonst unsichtbar bleibt.
Auch das zweite Novum von Wikipedia – die Produktion von Referenzwissen durch Laien – ist auf den zweiten Blick keines. Die scharfe Abgrenzung von Expert:innen und Laien in der Wissenschaft sowie die Konzentrierung „legitimer“ wissenschaftlicher Wissensproduktion auf Universitäten und Forschungsinstitutionen ist ein relativ junges Phänomen, das sich erst im ausgehenden 19. Jahrhundert verfestigte. Auch beim Prototyp aller moderner Enzyklopädien, der Encyclopédie der französischen Aufklärung, war das Autorenprofil keineswegs auf gens de lettres beschränkt.
Eine weitere Eigenschaft von Wikipedia, die als neuartig gilt, ist ihr Hypertext-Aufbau: Jedes Lemma kann auf zahlreiche andere Lemmata verweisen, die nur einen Mausklick entfernt sind. Querverweise sind jedoch ein zentraler Bestandteil von Nachschlagwerken, spätestens seit der Encyclopédie. Bereits 1984 charakterisierte Umberto Eco eine Enzyklopädie als Labyrinth, in dem „jeder Punkt … mit jedem Punkt verbunden werden“ könne, und in dem es „weder einen Mittelpunkt noch ein Außen“ gebe. Die technische Umsetzbarkeit von Hypertext im World Wide Web perfektioniert dieses enzyklopädische Prinzip lediglich, erfindet es aber nicht neu.

Aufruf für den Art + Feminism 2016: Edit-a-thon Berlin, Quelle: phenomenelle.de
Tatsächlich neu an der Wikipedia ist die Qualitätskontrolle durch Schwarmintelligenz – die zum einen durch die soeben erwähnte technische Infrastruktur ermöglicht wird, die niedrigschwellig und sofort sichtbar Veränderungen erlaubt, zum anderen durch den Aufbau einer Nutzer:innen-Community, die groß genug ist, als dass sich für jeden Themenbereich genug Freiwillige finden, die Vandalismus und Manipulationen rechtzeitig tilgen können. Zwar können manche Hoaxes jahrelang unwidersprochen stehen bleiben, wie etwa im hochbrisanten Fall eines fiktiven, mutmaßlich von polnischen Nationalisten auf Wikipedia eingetragenen NS-Vernichtungslagers. Doch dass solche Fälle relativ selten sind und ihnen bei Aufdeckung derartige mediale Aufmerksamkeit zukommt, heißt im Umkehrschluss, dass die Kontrollmechanismen der Schwarmintelligenz bei Wikipedia im Regelfall erstaunlich gut funktionieren – was gerade in Zeiten der „fake news“ positiv überrascht.
Regelwerke und Hierarchien
Wikipedia ist kein komplett neues, „disruptives“ Phänomen. Sie orientiert sich an konventionellen enzyklopädischen Modellen, und sticht lediglich durch eine breitere Beteiligung, ein dynamisches Publikationsmodell und einen tendenziell unbegrenzt wachsenden Umfang heraus. All diese Eigenschaften sollten eigentlich Wissenschaftler:innen dazu animieren, sich mit ihren Forschungen und ihrem Wissen einzubringen. Es hält sie jedoch, neben den allgemeineren Vorbehalten, noch etwas anderes zurück: Ein Geflecht von Regelwerken und ungeschriebenen Gepflogenheiten, das sich auf den ersten Blick markant von denjenigen in der Academia unterscheidet.
Ein zentraler Pfeiler der Wikipedia ist der „Neutrale Standpunkt“, im Englischen „Neutral Point of View“ (NPOV). Gerade Geisteswissenschaftler:innen mögen einen solchen zurecht als Mythos abtun. Doch einerseits sitzt auch das Wikipedia-Regelwerk nicht der Illusion eines vollkommen „neutralen“ Standpunktes auf. Dieser wird lediglich als Idealzustand gesehen, dem man sich nähern könne, indem zu einem Sachverhalt unterschiedliche wissenschaftliche Standpunkte dargestellt werden – und zwar nicht in postfaktischer Manier alle existierenden Standpunkte ungeachtet ihrer Validität, sondern entsprechend ihrer innerfachlichen Relevanz. Dass trotzdem an diesem Idealzustand festgehalten wird, eint die Wikipedia wiederum mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft, wie Roy Rosenzweig bereits 2006 festgehalten hat: Genauso wie „Neutralität“ ein Gründungsmythos der Wikipedia sei, sei auch „Objektivität“ ein Gründungsmythos der Geschichtswissenschaft gewesen.
Ein weiterer zentraler Bestandteil des Regelwerks, der Akademiker:innen regelmäßig irritiert, ist die Richtlinie „Keine Theoriefindung“ bzw. im Englischen „No Original Research“ – beides zugegebenermaßen unglücklich gewählte Titel. Sie besagt lediglich, dass Artikel auf bereits publizierten Quellen und Forschungsliteratur zu fußen haben. Dadurch wird vor allem gänzlich unbelegten Schlussfolgerungen, die auf arkanem Wissen oder vermeintlicher Lebenserfahrung aufbauen, der Riegel vorgeschoben. Der Verzicht auf unpublizierte Quellen ist zudem etwas, was sich von den Schreibgepflogenheiten wissenschaftlicher Nachschlagewerke kaum unterscheidet: Auch in historischen Handbuch- oder Enzyklopädiebeiträgen wäre ein Rückgriff auf Archivquellen eher ungewöhnlich.

Aufruf für den Edit-a-thon „Mehr Wissenschaftlerinnen auf Wikipedia“ 2021, Quelle: www.braincity.berlin
Die wichtigsten Wikipedia-Regeln laufen also nicht notwendigerweise akademischen Gepflogenheiten zuwider. Mein Verdacht ist eher, dass die größte Zumutung der Wikipedia für etablierte Forscher:innen in der kompletten Aushebelung akademischer Hierarchien liegt, die durch die meritokratischen Hierarchien der Wikipedia-Community ersetzt werden: So wird in einer Artikeldiskussion die Stimme einer pensionierten Postbeamtin, die über Jahre hinweg Tausende „Edits“ vorgelegt hat, höchstwahrscheinlich mehr Gewicht haben als die eines Universitätsprofessors, der sich erstmals traut, einen Artikel zu seinem Forschungsfeld zu korrigieren, und sich, aus Angst vor einem vorgeblichen Reputationsverlust, womöglich nicht einmal als solcher zu erkennen gibt. Doch gerade für Akademiker:innen gibt es die Möglichkeit, ihr symbolisches Kapital aus der Wissenschaft in die Wikipedia-Community zu transferieren: Durch offenes Auftreten als Expert:innen.
Wer es aber für eine Zumutung hält, Rentner, Schülerinnen, Mechatroniker oder pensionierte Studienräte von Dingen zu überzeugen, die man selbst für längst ausdiskutierten wissenschaftlichen Konsens hält, muss sich wiederum fragen lassen, wie er oder sie es mit den in allen akademischen Projektanträgen immer wieder ertönenden Rufen nach „public history“, „citizen science“ und genereller Öffentlichkeitsarbeit hält. Sind es schöne Schlagworte, die nichts mehr gelten, sobald es darum geht, Wissen in konkrete außerakademische Bereiche zu tragen, in denen die akademischen Meriten erst einmal nichts zählen? Immerhin birgt Wikipedia, im Gegensatz zu anderen durchaus ungemütlichen Orten der digitalen Öffentlichkeit, für Akademiker:innen einen unschlagbaren Vorteil: Das meritokratische Wertungs- und Hierarchiesystem lässt nicht einfach Meinung gegen Meinung stehen, sondern gibt wissenschaftlich belegten Meinungen tendenziell Priorität.
Es gibt auch andere, aus „progressiver“ Warte vorgebrachte Gründe, die Geisteswissenschaftler:innen zögern lassen, sich in die „freie Enzyklopädie“ einzubringen: Etwa das herkömmliche System der Enzyklopädie, das keine Ambivalenzen oder alternative Wissenssysteme zulässt, oder das starre Festhalten der deutschsprachigen Wikipedia am generischen Maskulinum. „Sind wir nicht schon viel weiter?“, mögen Geisteswissenschaftler:innen fragen. „Wir“ als akademisches Milieu sind es möglicherweise, wir sind aber nur ein Teilsystem der Öffentlichkeit und nicht ihr Gravitationszentrum. Zudem ist Wikipedia nicht bloß eine öffentliche Enzyklopädie, sondern beherbergt mit den Wikipedianer:innen eine metirokratisch strukturierte digitale Subkultur, die nach eigenen Regeln und Hierarchiekriterien funktioniert. Man muss diese Regeln nicht gut finden, aber man kann sie nur verändern, indem man sich einbringt, und nicht mit dem Gestus eines besserwisserischen Außenstehenden. So kann man sich etwa denjenigen Wikipedia-Autor:innen anschließen, die für geschlechtergerechte Formulierungen Mehrheiten zu organisieren versuchen.
Für Beteiligung mit offenem Visier
Eine offene Infrastruktur, eine seit zwanzig Jahren aktive Community, eine Rezeption, die alle anderen Internet-Wissensangebote in den Wind schlägt: Die Wikipedia ist eine ideale Plattform zur Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dennoch wird die Chance, die sich damit bietet, von der Academia kaum wahrgenommen – oftmals aus Unwissen, Vorurteilen und einem Standesdünkel heraus.
Wikipedia lässt sich hervorragend in der Lehre einsetzen. Nicht nur können Schreibworkshops, in denen Studierende lernen, für Wikipedia zu schreiben, sie an außerakademische Schreibformate heranführen. Auch bietet Wikipedia ein gutes Training für den quellenkritischen Blick – etwa indem national(istisch)e Geschichtskulturen anhand der Unterschiede, mit denen ein historisches Ereignis in zwei unterschiedlichen Wikipedia-Sprachversionen verhandelt wird, herausgearbeitet werden.

Edit-a-thon in San Francisco 2012, in den Büros der Wikimedia Foundation. Quelle: Wikipedia
Am wichtigsten ist jedoch meiner Meinung nach, dass mehr Wissenschaftler:innen als Autor:innen in der Wikipedia aktiv werden, und zwar mit offenem Visier. Gleichzeitig müsste ein solches Engagement verstetigt und seitens der Wissenschaftspolitik anerkannt und honoriert werden. Könnte es nicht etwa ein Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit großer Forschungsprojekte (und ein Kriterium ihrer Evaluierung) sein, die Erkenntnisse aus dem Projekt in die Wikipedia einzubringen? Es gibt bereits Museen und Archive, die den Posten eines offiziellen „Wikipedians in Residence“ haben, dessen Aufgabe es ist, das Wissen ihrer Institutionen systematisch in die Enzyklopädie einzupflegen – und damit auch seine Institution stärker in der Öffentlichkeit zu repräsentieren.
Das Engagement in der Wikipedia ist zugegebenermaßen mühsam und streckenweise frustrierend – genauso mühsam jedoch wie jede Art von öffentlicher Wissensvermittlung. Doch eine bessere und effizientere Plattform, um dies zu tun, gibt es kaum. Eine Verweigerungshaltung gegenüber Wikipedia bei gleichzeitigem Lamentieren über Faktenfehler und starre Community-Regeln ist ähnlich effizient wie Wahlabstinenz mit dem Argument, dass Wahlen „eh nichts ändern“ würden – bloß mit dem Unterschied, dass ein guter, substanzieller, auf Forschungsergebnissen basierter Edit einen unmittelbar sicht- und fühlbaren Impact in Bezug auf den Wissensstand hat, der beispielsweise Hunderttausenden von Schüler:innen für ihre Hausaufgaben und Referate zur Verfügung steht. Wenn das keine wirkmächtige Wissensvermittlung ist, was dann?