Im März 2011 löste das Tōhoku-Erdbeben – eigentlich ein Seebeben – einen Tsunami aus; bei den Katastrophen starben 16.000 Menschen unmittelbar. Es folgte eine Überflutung der Reaktoren von Fukushima Dai’ichi, die Notstromversorgung fiel aus und damit auch die Kühlung. Nachdem Explosionen das Kraftwerk erschüttert hatten, kam es in den Blöcken 1, 2 und 3 zur Kernschmelze. Die Regierung ordnete die Evakuierung aller Bewohnerinnen und Bewohner in einem Radius von zehn Kilometern an, am 20. März wurde der Radius dann auf 20 Kilometer erweitert und etwa 160.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Bis zur definitiven Erklärung des Sperrgebietes am 22. April hatten sie Zeit, persönliche Gegenstände aus ihrem Zuhause zu holen. Auch ausserhalb der Evakuierungszone mass Greenpeace extrem hohe Strahlenwerte. Kurz nach der Katastrophe kamen die Informationen zum grössten Teil von der Betreibergesellschaft Tokyo Electric Power Company (TEPCO), zu deren Krisenstab auch Regierungsvertreter gehörten, während die japanische Atomaufsichtsbehörde (NISA) keine eigenen Messungen durchführte. Der Boden wurde einige Zentimeter abgetragen und luftdicht in Plastiksäcken verpackt. 29 Millionen Kubikmeter verstrahlte Erde in 80.000 Mülldeponien – ein gigantisches Atommülllager.
Die Schriftstellerin Yū Miri sendet von einer Radiostation in Minamisoma aus – ursprünglich temporär eingerichtet, um die Bevölkerung mit aktuellen Nachrichten nach der dreifachen Katastrophe zu versorgen – jede Woche ihre Gespräche mit Betroffenen. Nachdem sie bereits unmittelbar nach der Katastrophe auf Twitter dezidiert Kritik an der TEPCO und der japanischen Regierung geübt hatte, erhielt sie rassistische Hate-Mails, die sich auf ihre koreanische Herkunft bezogen. Hau doch ab, dorthin, wo Du hergekommen bist, ist auch in Japan eine geläufige rassistische Redefigur des Nationalismus, die besonders in Internetforen Verbreitung findet. In ihren Radio-Gesprächen erfuhr Miri Yū viel über das unmittelbare Leid ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, aber auch über den langsamen Strukturwandel der Region und die langfristigen Auswirkungen der Katastrophen. Trotz massiver Proteste in den Großstädten, und obwohl sich 70% der japanischen Bevölkerung in Umfragen – jedoch nicht unbedingt in Wahlen – gegen Atomkraft aussprechen, will die Regierung keinen Ausstieg aus der Kernenergie – letztes Jahr durften zwei Reaktoren nach einem Beschluss des Obersten Gerichts in Osaka wieder hochgefahren werden und immer wieder wird kolportiert, neue Anlagen seien in Planung. (Red.)
Kristina Iwata-Weickgenannt: Miri Yū, Sie sind bereits sechs Wochen nach der Reaktorkatastrophe in die Evakuierungszone um das havarierte AKW gereist und haben Fukushima auch danach regelmässig besucht. Warum war es Ihnen so wichtig, die 20km-Zone vor der Absperrung zu sehen?

Die Schriftstellerin Miri Yū wurde 1968 als Tochter südkoreanischer Einwanderer in der Nähe von Tokyo geboren, spricht und schreibt jedoch ausschliesslich Japanisch. Aufgewachsen in einer bildungsfernen, sozial marginalisierten und von Gewalt geprägten Familie begann Yū mit sechzehn Jahren eine Schauspielausbildung. Nur zwei Jahre später debütierte sie als Theaterautorin. Seit Mitte der 1990er Jahre schreibt sie Romane und wurde bereits nach kurzer Zeit mit den wichtigsten japanischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr ebenfalls preisgekrönter Roman Gold Rush liegt seit 2010 in deutscher Übersetzung vor. Einen Monat nach der Reaktorkatastrophe am 11. März 2011 in Nordostjapan besuchte Yū Fukushima, und hat sich seither mit zahlreichen Reisen mit der Situation vor Ort vertraut gemacht. Ihre Berichte fokussieren jenseits von einer direkter politischen Stossrichtung auf die Stimmen der dort lebenden Menschen, ihre Geschichten und ihr Leben mit der Katastrophe. Im April 2015 zog sie mit ihrer Familie nach Minamisoma, einer direkt an der Evakuierungszone um das havarierte Kraftwerk gelegenen Kleinstadt. Mit der Autorin sprach die Japanologin Kristina Iwata-Weickgenannt, die an der Universität Nagoya lehrt und sich seit vielen Jahren mit dem Werk von Yū Miri beschäftigt.
(Daniela Tan)
Miri Yū: Ich war am Tag vor der Abriegelung dort. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass die Zone so schnell wieder zugänglich würde [Anm. d. Übers.: seit 1.4.2012 wurde die Zugangsbeschränkung schrittweise aufgehoben]. Ich war überzeugt, dass die Sperrung dreißig, vierzig Jahre dauern würde, deswegen habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, als der Sperrbeschluss bekannt gegeben wurde.
Was haben Sie von dem Besuch erwartet?
Nun, dazu muss ich etwas ausholen. Wie Sie wissen, gibt es an der Küste von Fukushima zwei Atomkraftwerke mit insgesamt 10 Reaktoren. Darüber hinaus gibt es im Landesinneren drei sehr grosse Wasserkraftwerke; die Stromgewinnung ist also der wichtigste Wirtschaftszweig der Präfektur. Auch wenn Atom- und Wasserkraftwerke technisch gesehen zweierlei sind, gleichen sie sich doch in struktureller Hinsicht, denn der in Fukushima produzierte Strom wird nicht lokal verbraucht, sondern dient zu hundert Prozent der Energieversorgung des Großraums Tokyo. Die Menschen in Fukushima kaufen den Strom für den eigenen Verbrauch von einem anderen Energieerzeuger. Fukushima muss insofern als eine Art innere Kolonie bezeichnet werden, als Stromerzeugungskolonie.
Nun fühlte ich mich aber nicht nur als Verbraucherin von der Katastrophe betroffen, sondern ich habe auch familiäre Verbindungen nach Fukushima. Meine Mutter verbrachte ihre Jugend in der Nähe der Staudämme und hat mich später oft dorthin mitgenommen. Am Rand des Stausees erzählte sie mir jedes Mal von dem Ort, der dort versunken lag. Da drüben standen Häuser, hier vorne eine Schule, dazwischen schlängelte sich ein Fluss, da hinten war ein Tempel und ein Hügel mit einem grossen Kirschbaum… Dabei vergass sie nie, mich zu ermahnen, nicht zu sehr ins Wasser zu starren, denn sonst würde ich gewiss von der Traurigkeit der Leute erfasst, deren Heimat dort untergegangen war. Den versunkenen Ort kann man nicht mehr besuchen, aber die Zone um das havarierte AKW wollte ich vor der Sperrung unbedingt mit eigenen Augen sehen.
Es blieb nicht bei dem einen Besuch. Seit Februar 2012 bis zur Schliessung des Senders im März 2018 unterhalten Sie in Minamisoma ehrenamtlich eine wöchentliche Radiosendung, in der Sie Ihre Gesprächspartner zu ihren Katastrophenerfahrungen interviewen. Bis heute hatten Sie fast über 500 Gäste in ihrer halbstündigen Sendung – haben Sie sich diesmal doch von der Traurigkeit einfangen lassen?
Eine Art Gefäss für den Schmerz
Yū: Die Sendung heißt „Yū Miri: 2 plus 1“ und wird von einer temporären Radiostation gesendet, die errichtet wurde, um unmittelbar nach der Katastrophe praktische Informationen etwa zur Verteilung von Hilfsgütern usw. zur Verfügung zu stellen. Wenn die Katastrophensituation als beendet erklärt wird, wird der Sender geschlossen, aber derzeit können allein in Fukushima noch 47.046 Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren. Ich lade jedes Mal zwei Gäste ein, die miteinander befreundet oder verwandt sind, das reduziert die Nervosität. Ich mache keine Themenvorgaben, aber in Minamisoma gibt es niemanden, der nicht von der Reaktorkatastrophe und dem Tsunami betroffen wäre, deswegen geht es meistens doch darum.
Ich werde oft gefragt, was ich mit dieser Sendung eigentlich bezwecke. Die Leute vor Ort leben in einer unglaublich schwierigen Situation und natürlich kann ich ihnen keine Antwort auf ihre Sorgen und Nöte geben. Was ich aber kann, ist ihnen das Gefühl zu geben, dass ihnen jemand zuhört. Zuhören klingt zunächst vielleicht sehr passiv, aber man spricht ja auch davon, jemandem sein Ohr zu leihen, und tatsächlich verstehe ich das Zuhören als etwas Aktives. Jemandem zuzuhören bedeutet für mich, einen Raum zu eröffnen, wo man Trauer und Schmerz zulassen kann. Wenn man solche Gefühle nur für sich behält und kein Ventil dafür findet, richten sie großen Schaden an. Die Radiosendung dient meinem Verständnis nach also dazu, dem Schmerz eine Stimme zu geben, ihn zu verbalisieren und ein wenig zu veräussern. Mich selbst sehe ich dabei als eine Art Gefäss, das den Schmerz und die Trauer auffängt.
Sie sind keine ausgebildete Psychotherapeutin, wie halten Sie das angesichts der hohen Zahl von Gesprächspartnern aus? Läuft das Gefäss nicht irgendwann über?
Ja, das ist nicht ganz einfach. Aber ehrlich gesagt besteht für mich kein sehr grosser Unterschied zwischen dem Zuhören und meinem eigenen Schreiben. Ich habe mit achtzehn Jahren begonnen, Theaterstücke aufzuführen und habe später ins Romanfach gewechselt. Die Literatur war für mich immer ein Ort, an dem ich meine eigene Traurigkeit und meine Seelenqualen ausdrücken konnte. Meine Schreibmotivation lag von Anfang an im Schmerz begründet.
Sie verfolgen mit der Sendung also eher einen therapeutischen Ansatz als einen journalistischen?
Auf jeden Fall. Ich versuche, mich deutlich von der Herangehensweise der japanischen Massenmedien abzusetzen. Nach der Katastrophe sind Journalisten in die betroffenen Gebiete geströmt, um Interviews zu führen, aber sehr häufig ging es nur darum, sich die eigene Sicht der Dinge bestätigen zu lassen. Ich habe in Fukushima viele Menschen getroffen, deren Interviewaussagen von Reportern verdreht wurden und die das offensichtliche Desinteresse daran, was die Menschen vor Ort wirklich denken, als demütigend empfunden haben. Ich bemühe mich daher, meine Gesprächspartner nicht als Repräsentanten einer bestimmten Gruppe – wie „Katastrophenopfer“ oder „Einwohner von Fukushima“ – zu sehen. Eine solche Kategorisierung macht die Leute und ihr Schicksal austauschbar, deswegen bemühe ich mich, sie als Individuen anzusprechen. Deswegen lasse ich auch meine Gesprächspartner entscheiden, wo wir die Aufnahme machen. Einmal habe ich eine Familie begleitet, als sie für einige Stunden in ihr Haus in der Sperrzone zurückkehren durften, und wir haben das Gespräch dann nach der Rückkehr aufgenommen, nachdem wir die Schutzkleidung wieder ausgezogen hatten.
Perspektivenwechsel

Fukushima, März 2011: Quelle: nbcnews.com
Minamisoma hat nach der Reaktorkatastrophe einen Großteil seiner Einwohner verloren. Inzwischen sind viele zurückgekehrt, doch Sie waren wahrscheinlich die Einzige, die aus der Hauptstadtregion dorthin gezogen ist. Welche Gründe hatten Sie für den Umzug?
Nun, einerseits gab es praktische Gründe. Minamisoma ist seit dem Reaktorunglück verkehrstechnisch schwer zu erreichen, so dass mich die An- bzw. Abreise jedes Mal fünf, sechs Stunden kostete. Es war einfach wahnsinnig zeit- und kostenintensiv, ständig hin und her zu fahren. Aber wichtiger war eigentlich, dass mir irgendwann klar wurde, dass die Sorgen und Nöte der Menschen in ihrem Alltag liegen, und dass ich sie nur würde verstehen können, wenn ich den mit ihnen teilte. Tatsächlich bereitet nicht nur die Radioaktivität Probleme, sondern z.B. auch die veränderte Sozialstruktur des Ortes. Vor 2011 hatte Minamisoma etwa 72.000 Einwohner, derzeit sind es um die 50.000. Dazu kommen aber etwa 10.000 Arbeiter, die entweder mit Stabilisierungsmassnahmen am AKW, der Dekontamination von Wohngebieten oder dem Bau des Tsunamischutzwalls beschäftigt sind. Allerdings zieht es die gut ausgebildeten Arbeitskräfte aus ganz Japan derzeit in den Großraum Tokyo, wo der Zuschlag für die Olympischen Spiele 2020 einen Bauboom sondergleichen ausgelöst hat. Rekrutiert wird daher in ausgesprochen sozial schwachen Gegenden wie dem Nishinari-Bezirk in Osaka, in dem sehr viele Obdachlose leben, die im großen Stil angeheuert und nach Fukushima gebracht wurden. Diese Menschen haben weder einen festen Wohnort noch eine Kranken- und Sozialversicherung, so dass ihre Identität oft gar nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, was besonders bei Todesfällen problematisch ist. Minamisomas Sozialstruktur hat sich radikal verändert, auch die Kriminalitätsrate ist stark angestiegen. Natürlich sind nicht alle Arbeiter kriminell, aber insbesondere bei Sexualverbrechen ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Das hat dazu geführt, dass die Einwohner den Arbeitern äußerst misstrauisch gegenüber stehen. Es ist sehr schwierig, solche Dinge mitzubekommen, wenn man nur zu Besuch da ist.
Sie wollten also die Perspektive wechseln, weg vom Hauptstadtdiskurs, hin zu den Betroffenen vor Ort?
Ja. Meiner Meinung nach geht diese Katastrophe alle Japaner an, insbesondere die Stromkunden im Grossraum Tokyo, aber das Bewusstsein der eigenen Verwicklung nimmt mit der geographischen Entfernung stark ab. Mir ging es darum, mich mit den Menschen vor Ort solidarisch zu zeigen und ihren Schmerz zu teilen, soweit mir das möglich ist.
Sie müssen allerdings zugeben, dass insbesondere ihr Umzug nach Minamisoma und die Tatsache, dass Sie ihren Sohn mitgenommen haben, auch ganz anders verstanden werden kann. Aus einem früheren Gespräch weiß ich, dass Sie direkt nach der Katastrophe große Anstrengungen unternommen haben, sichere Nahrungsmittel für ihn zu beschaffen, aber zugleich haben Sie auf Ihrem Blog bereits 2011 Fotos von Lebensmitteln aus Fukushima gepostet, die Freunde Ihnen geschickt haben. Auch das kann sehr leicht als Verharmlosung der Strahlengefahr interpretiert werden.
Das stimmt, besonders aus der Anti-Atombewegung sind mir massiv Vorwürfe gemacht worden, wobei allerdings oft Fakten verdreht oder ignoriert wurden. Als ich beispielsweise auf meinem Blog von einer Erkältung berichtet habe, wurde im Netz daraus eine Strahlenkrankheit gemacht. Ich versuche, mich der Situation ideologiefrei zu nähern und Entscheidungen gut informiert auf Faktenbasis zu treffen. Gefahreneinschätzung ist individuell verschieden, aber ich halte die Strahlung in meinem Haus für niedrig genug. Lebensmittel aus Fukushima werden streng kontrolliert und sehr häufig sind die Cäsiumwerte unter der Nachweisgrenze. Pilze, Flussfische oder Zitrusfrüchte sind weiterhin belastet, aber das wissen die Leute. Überhaupt werden in den Supermärkten nur wenige lokal angebaute Produkte verkauft. Ich sehe meinen Umzug ganz sicher nicht als Teil staatlicher Sicherheitspropaganda – tatsächlich habe ich die Atompolitik der Regierung wiederholt als unethisch kritisiert. Es heißt immer wieder, ohne Atomstrom käme die japanische Wirtschaft nicht wieder auf die Beine, aber man darf das physische und psychische Wohlergehen der Menschen nicht gegen die Wirtschaft ausspielen. Dabei verlieren immer die Menschen.