Die spätsowjetische Sci-Fi-Komödie „Kin-dza-dza!“ ist ein Geheimtipp – und ein höchst rätselhafter Film. Ist er eine Parabel auf den Westen? Oder eine versteckte Kritik am Sowjetregime? Oder beides? Eine Wiederentdeckung lohnt sich – als dystopische Parabel auf die Gegenwart.

  • Gleb Albert

    Gleb Albert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Histo­ri­schen Seminar der Univer­sität Zürich. Aus der Historischen Kommunismusforschung kommend, arbeitet er nun als Mitglied der Forscher­gruppe «Medien und Mimesis» an einem Projekt zur Geschichte der Softwarepiraterie. Er ist Mitherausgeber des International Newsletter of Communist Studies und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart.

„Kin-dza-dza!“ war kein Kassen­schlager. Als der verstö­rende und zugleich höchst unter­halt­same zwei­tei­lige Spiel­film des sowjet­ge­or­gi­schen Regis­seurs Giorgi Danelia 1987, mitten in der Pere­stroika, in die sowje­ti­schen Kinos kam, sahen ihn gerade einmal 15 Millionen Zuschaue­rInnen – für die UdSSR nicht sonder­lich viele. Doch er avan­cierte rasch zum Kult­film und fand seinen festen Platz im post­so­wje­ti­schen kultu­rellen Gedächtnis. Der lang­an­hal­tende Erfolg des Films liegt dabei nicht nur in seinen Cyberpunk-Kulissen und kauzigen Dialogen, sondern auch in seiner Unein­deu­tig­keit begründet. Er ist nicht bloß eine Parabel auf den Zerfall der Sowjet­ge­sell­schaft, sondern ein hoch­po­li­ti­scher, philo­so­phi­scher und überaus aktu­eller Film über die Zukunfts­po­ten­tiale unserer Gegenwart. 

Vladimir und Gedevan, Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Die Ausgangs­hand­lung ist schnell erzählt: Der Bau-Polier Vladimir und der Student Gedevan treffen in Moskau auf eine abge­wetzte Gestalt, die an einer Stra­ßen­ecke steht und darauf beharrt, die Nummer des hiesigen Planeten zu erfahren, da er andern­falls nicht nach Hause weiter­reisen könne. Die abge­klärten Sowjet­bürger halten ihn für einen Irren, drücken auf einen belie­bigen Knopf des ihnen unter die Nase gehal­tenen Tele­por­ters – und finden sich flugs in einer Wüsten­land­schaft wieder. Erst nach und nach dämmert ihnen, dass es sie nicht etwa nach Zentral­asien verschlagen hat, sondern auf den Planeten Pljuk in der fernen Galaxie Kin-dza-dza. 

Vladi­mirs und Gede­vans erste Wegge­fährten in dieser neuen Welt werden die umher­zie­henden Musiker Bi und Uef, die ein baufäl­liges Flug­ge­fährt haben, das jedoch mangels inter­pla­ne­taren Treib­stoffes die Atmo­sphäre nicht verlassen kann. So sind die vier Prot­ago­nisten nun dazu verdammt, auf dem Wüsten­pla­neten namens Pljuk umher­zu­tin­geln. Die Plane­ten­be­wohner sind von Menschen optisch nicht zu unter­scheiden, auch die Sprache der Erdlinge können Bi und Uef sich dank der den Pljuk-Bewohnern eigenen tele­pa­ti­schen Fähig­keiten mühelos aneignen.   

Auf dem Planaten Pljuk. Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Diese Fähig­keiten der Pljukaner stehen im Kontrast zur ökolo­gi­schen, ökono­mi­schen und sozialen Verküm­me­rung des Planeten und seiner Bewoh­ne­rInnen. Die natür­li­chen Ressourcen sind verbraucht, die Pljukaner führen ein karges Leben und begegnen einander (nicht zuletzt aufgrund eben­jener tele­pa­thi­schen Fähig­keiten) mit äußerstem Miss­trauen. Ihre Sprache ist karg, das Voka­bular auf ein Dutzend Wörter beschränkt. Es herrscht eine bizarre Tausch­wirt­schaft, bei der Streich­hölzer die Werte­skala anführen, da man aus ihnen Treib­stoff herstellen kann. 

Die sozialen Bezie­hungen der Pljukaner sind streng hier­ar­chisch struk­tu­riert: Die Čatlane sind die Herr­scher­schicht, während die Pacaki Unbe­rühr­bare sind, die sich nur unter Vollzug bestimmter Ernied­ri­gungs­ri­tuale den Herren nähern dürfen. Das Kasten­pri­vileg mani­fes­tiert sich im Erschei­nungs­bild und erlaubt es den Čatlane etwa, Hosen von bestimmter Farbe zu tragen (übri­gens hat die „Farb­dif­fe­ren­zie­rung der Hosen“, von den Pljuk-Bewohnern stolz als zivi­li­sa­to­ri­sche Errun­gen­schaft vertei­digt, als Meta­pher für unsin­nige Hier­ar­chien in die russi­sche Alltags­sprache Einzug gehalten), doch ein sozialer Aufstieg lässt sich durch einen bloßen Hosen­wechsel nicht voll­führen: der „Visator“, ein Taschen­sensor und Pflicht­ac­ces­soire eines jeden Pljuk-Bewohners, enthüllt im Nu die „wahre“ Natur des Gegen­übers. Diese hat aller­dings, so beteuern die Pljukaner, nichts mit „biolo­gi­schen Faktoren“ zu tun. Lässt sich die Kasten­zu­ge­hö­rig­keit dann doch etwa durch Anhäu­fung von Gütern umgehen? Wie so vieles im Film, bleibt der Kern dieser sozialen Stra­ti­fi­ka­tion nicht nur den Prot­ago­nisten, sondern auch den Zuschaue­rInnen verborgen.

Eine Parabel – aber auf was? 

Es sind gerade dieses vagen, unaus­ge­spro­chenen und zuweilen absurd-komischen Facetten, die den Film so „unso­wje­tisch“ erscheinen lassen und die Zuschaue­rInnen seit der Kino­pre­miere in seinen Bann zogen. Die karge Bild­sprache und die lako­ni­schen Dialoge lassen viel Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum, und der Film entzieht sich jeder eindeu­tigen Antwort. Ist er anti­west­lich oder doch versteckt anti­so­wje­tisch? Ein Film, der in der Sowjet­union produ­ziert wurde, kommt um diese vermeint­liche Dicho­tomie kaum herum. 

Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Auf der einen Seite sind die Anspie­lungen der Pljuk-Welt auf den Westen dermaßen eindeutig, dass sie gera­dezu aufge­setzt wirken. So wird ein Ordnungs­hüter in der Pljuk-Sprache „Ecilop“ genannt – eine schlichte Rückwärts-Lesart des engli­schen „police“. Die karge Kultur der Plane­ten­be­wohner – am eindrück­lichsten vorge­führt in den dishar­mo­ni­schen Darbie­tungen der einhei­mi­schen Musiker – erin­nert an den sowje­ti­schen Diskurs vom kultu­rellen Verfall des Westens. Auch das pljuka­ni­sche Kasten­system weckt Asso­zia­tionen zur plaka­tiven sowje­ti­schen Kritik an Rassen­dis­kri­mi­nie­rung etwa in den USA.

Zugleich jedoch bietet der Film mindes­tens ebenso viele Anknüp­fungs­punkte für eine anti­so­wje­ti­sche Lesart. Auf Pljuk herrscht Mangel­wirt­schaft, der Planet ist von ökolo­gi­schen Kata­stro­phen geprägt, es gras­siert Korrup­tion, die Herr­schafts­ver­hält­nisse sind undurch­sichtig, die Bewohner vermögen an ihrer Lage nichts zu ändern und verspüren auch kein Bedürfnis danach – all das sind Motive, die den Film an kriti­sche Sicht­weisen auf die Sowjet­ge­sell­schaft sowohl im Land selbst als auch im Ausland anschluss­fähig machten. So verfes­tigte sich auch nach dem Fall der Sowjet­union eine Lesart des Films als schwarze Satire auf die spät­so­wje­ti­sche Gesellschaft.

Der Visator. Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Warum ist „Kin-dza-dza!“ jedoch nach wie vor als poli­ti­scher Film sehens­wert? Einen Hinweis darauf lieferte der Regis­seur selbst in einem Inter­view von 2012. Hinsicht­lich der vermeint­li­chen Anspie­lungen auf die Sowjet­wirk­lich­keit in seinem Werk sagte er: „Aber nein! Der Film handelt davon, wohin die Mensch­heit treibt. Deswegen gibt es natür­lich Über­ein­stim­mungen mit meinem Heimat­land. Schließ­lich lebt dort die Mensch­heit auch.“ Auch wenn man die zeit­ge­nös­si­schen und nach­träg­li­chen Deutungen beiseite lässt, offen­bart der Film seine Qualität als hoch­po­li­ti­sche Erzäh­lung über unsere Gegen­wart und ihre Konse­quenzen für eine mögliche Zukunft.  

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Eine Dystopie der Gegenwart

Eine Gesell­schaft im eigent­li­chen Sinne scheint auf dem Planeten Pljuk inexis­tent. Die Pljuka­ne­rInnen leben in kleinsten Grüpp­chen über die Wüsten­land­schaft verstreut, es scheint sie nichts mitein­ander zu verbinden als die über­le­bens­not­wen­digsten Austausch­be­zie­hungen. Das Wissen, mit dem sich Bi und Uef durch die Land­schaft navi­gieren, bezieht sich stets darauf, wo die Verhält­nisse güns­tiger sind, um dieses oder jenes Gut zu beschaffen. Außer der Stra­ti­fi­zie­rung durch das absurde Kasten­system haben die Pljuk-BewohnerInnen keinen gemein­samen Bezugs­ho­ri­zont. Sicher­lich gibt es hierbei Paral­lelen zur späten Sowjet­ge­sell­schaft. Doch während dort zumin­dest eine allum­fas­sende, wenn auch zu Lippen­be­kennt­nissen verkom­mene Ideo­logie exis­tiert hat, herrscht auf Pljuk ledig­lich der Glaube an die natur­ge­ge­bene Verteil­ord­nung der Güter – die auf undurch­sich­tige Weise mit der Kasten­zu­ge­hö­rig­keit verknüpft ist, wobei niemand weiß, wie genau dieser Konnex geartet ist. Man könnte sagen, es sind ein bis zur Unkennt­lich­keit verzerrter Glaube an die unsicht­bare Hand des Marktes und That­chers „There is no such thing as society“, die das Leben auf Pljuk strukturieren.

Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Oder der Umgang der Pljukaner mit Tech­no­lo­gien: Die dort zirku­lie­renden Gerät­schaften sprengen die Vorstel­lungs­kraft der irdi­schen Besu­cher aus den 1980er Jahren: Ultra­schall­waffen, inter­pla­ne­ta­ri­sche Navi­ga­ti­ons­ge­räte, schnur­lose Klang­körper, synthe­ti­sches Essen, myste­riöse Brenn­stoffe. Es sind jedoch keine Attri­bute einer lichten Zukunft, sondern der Abglanz einer großen Vergan­gen­heit. Die spär­li­chen Gebäude sind baufällig, die Geräte sind verrostet und notdürftig geflickt. Vor allem aber ist die Funk­ti­ons­weise der avan­cierten Tech­no­lo­gien den Nutze­rInnen nicht (mehr?) geläufig. Sie benutzen die Tech­no­lo­gien ledig­lich und beherr­schen damit vor allem sich selbst. Der Visator etwa zeigt mithilfe einer farbigen Leucht­diode den Status des Gegen­übers an. Ein offen­sicht­lich absurder Vorgang, denn wenn die Diffe­ren­zie­rung zwischen Čatlane und Pacaki nicht biolo­gisch bedingt ist – was genau will das Gerät messen, wenn es auch die Entlar­vung der Träger „falscher“ Hosen verspricht? Als Gedevan diese Bedenken ausspricht, wird er von Uef zusam­men­ge­staucht: „Bist du farben­blind oder was? Kannst du kein grünes Licht von einem oran­genen unter­scheiden?“ Der Algo­rithmus hat das letzte Wort, obwohl (oder viel­leicht gerade weil) niemand weiß, wie er funktioniert. 

Ein weiterer Aspekt sind die Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nisse, die durch die komplette Abwe­sen­heit des Poli­ti­schen charak­te­ri­siert sind. Anders als in vielen popu­lären sowje­ti­schen Para­beln auf den Kapi­ta­lismus, etwa Nikolaj Nosovs Jugend­buch „Neznajka auf dem Mond“ (1965) oder die Revo­lu­ti­ons­fabel „Cipol­lino“ (1951) des in der Sowjet­union popu­lären italie­ni­schen Autors Gianni Rodari, gibt es hier keine „Reak­tio­näre“ und kleri­kale oder faschis­ti­sche Gewalt­herr­schaft. Die Ecilopen haben zwar schnell den Finger am Abzug, sind jedoch in ihrer Mehr­heit tumbe, mitleid­erre­gende Gestalten, die sich problemlos mit einem zuge­steckten Geschenk oder einem Schluck aus der Flasche besänf­tigen lassen. 

Eben­so­wenig bedroh­lich ist der Herr­scher des Planeten, Herr Pe-Že. Er ist kein Diktator im klas­si­schen Sinne und noch nicht einmal ein explizit poli­ti­scher Akteur – sondern ein Fabri­kant, in dessen Werk­hallen (an denen die Kamera nur für wenige Sekunden vorbei­streift) die Plane­ten­be­wohner schuften, während die Erzeug­nisse in einer Art Shop­ping­mall direkt nebenan veräu­ßert werden. Auch die Ecilopen stehen im Dienst des Herr Pe-Že. Sie sind gewis­ser­maßen sein Fabrik­si­cher­heits­dienst, der seinen Zustän­dig­keits­be­reich auf den ganzen Planeten ausge­weitet hat. Die öffent­liche Sicher­heit ist auf Pljuk somit komplett priva­ti­siert – wie auch die wenigen öffent­li­chen Dienst­leis­tungen, die im Film sichtbar sind, etwa die Versor­gung mit Brenn­stoff oder Wasser.

Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Als die beiden Erdlinge, als Ecilopen getarnt, in die Privat­ge­mä­cher des Plane­ten­herr­schers vorstoßen, erwartet sie dort kein der sowje­ti­schen Kari­katur entsprun­gener Kapi­ta­list mit Schmer­bauch und Zylinder, aber auch kein faschis­to­ider Fins­ter­ling: Herr Pe-Že ist ein harm­loser alter Mann, der sich in einem Swim­ming­pool possier­li­chen Spielen mit seinem Diener hingibt. Auch hier bricht der Film mit den sowje­ti­schen Tradi­tionen perso­na­li­sierter Kapi­ta­lis­mus­kritik, mit den Angriffen auf die „Buržui“ und Kapi­ta­listen. Es geht nicht um den „bösen“ Fabri­kanten, sondern um das komplexe System der Ungleich­heit und (Selbst-)Ausbeutung.

Entspre­chend treten Vladimir und Gedevan nicht etwa als Helden auf, die die Revo­lu­tion nach Pljuk bringen. Das in der früh­so­wje­ti­schen Science-Fiction beliebte Motiv des inter­pla­ne­ta­ri­schen Rotar­misten, der die prole­ta­ri­sche Revo­lu­tion auf den Mars und in andere Ecken des Welt­alls bringt, ist endgültig passé. Pe-Že wird weder körper­lich ange­gangen noch gar gestürzt, sondern erhält den Befehl, im Pool sitzen zu bleiben, während die Erdlinge an ihm vorbei­stürmen, um ihre verhaf­teten Schick­sals­ge­nossen Bi und Uef zu befreien und zum Heimat­pla­neten zurück­zu­kehren. Diese wollen aller­dings gar nicht befreit und mitge­nommen werden: zu sehr graut es ihnen vor der Vorstel­lung, in einer Welt zu landen, in der es keine „Farb­dif­fe­ren­zie­rung der Hosen“ gibt. 

Ein zeit­loser Film

Still aus Kin-dza-dza!, Quelle: youtube.com

Ganelias „Kin-dza-dza!“ zeigt faszi­nie­rende Wüsten­land­schaften, mini­ma­lis­ti­sche Dialoge und brillant-kauzige Darstel­le­rInnen. Ohne Zweifel ist der Film ein Zeit­do­ku­ment der unter­ge­henden Sowjet­union – doch zugleich bietet er sich für Re-Aktualisierungen und neue Lesarten an, auch solche, die ihn zu einer Parabel unserer Gegen­wart und unserer mögli­cher Zukünfte werden lassen. Mit seinen Unein­deu­tig­keiten, mit seinen stel­len­weise nur ange­deu­teten Schil­de­rungen sozialer Verhält­nisse ist „Kin-dza-dza!“ auch ein Para­de­bei­spiel für die Schwie­rig­keiten, das „Poli­ti­sche“ im Film ziel­si­cher zu bestimmen, gerade auch in solchen, die in hoch­ideo­lo­gi­sierten Gesell­schaften entstehen. Zudem bleibt der Gehalt des „Poli­ti­schen“ nicht konstant, sondern kann sich je nach Rezep­ti­ons­kon­text ändern – und so kann „Kin-dza-dza“ sowohl als Parabel auf die bereits unter­ge­gan­gene Gesell­schaft gelesen werden, in der der Film entstanden ist, als auch auf die krisen­hafte Ordnung der Gegen­wart. 

„Kin-dza-dza!“ ist sowohl auf DVD erhält­lich als auch in voller Länge, mit engli­schen Unter­ti­teln, vom Mosfilm-Produktionsstudio auf YouTube bereit­ge­stellt.