Immer wieder fordern Politiker verpflichtende Schulbesuche in KZ-Gedenkstätten. Dahinter verbirgt sich eine unrealistische Erwartungshaltung an die Möglichkeiten der historisch-politischen Bildung in diesen Einrichtungen. Doch antirassistische Bildungsarbeit ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft.

  • Kai Stoltmann

    Kai Stoltmann hat an der Universität Kiel im Schnittbereich von Germanistik und Politikwissenschaften promoviert. Aktuell arbeitet er als Berater bei zebra - Zentrum für Betroffene rechter Angriffe, im VBRG - Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist er Vorstandsmitglied. Zudem ist er als freier Autor tätig.

Nicht nur für viele Schüler gehört ein Besuch in der Gedenk­stätte zum festen Bestand­teil des Geschichts­un­ter­richts, auch Vertreter von Parteien sind immer wieder in Gedenk­stätten zu Gast: Am 10. Juli 2018 besich­tigte eine Besu­cher­gruppe von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel die KZ-Gedenkstätte Sach­sen­hausen in Bran­den­burg. Laut der Stif­tung Bran­den­bur­gi­sche Gedenk­stätten zwei­felten bei dieser Führung mehrere Teil­nehmer der Gruppe die Exis­tenz von deut­schen Gaskam­mern an. Ein 69-Jähriger Teil­nehmer soll geäu­ßert haben, dass es Gaskam­mern während des Zweiten Welt­kriegs nur in den USA gegeben habe. Der Vorfall reiht sich ein in ähnliche Nach­richten aus dem Umfeld der AfD, wie die „Denkmal der Schande“-Rede des Thüringer Frak­ti­ons­vor­sit­zenden Björn Höcke oder Äuße­rungen des nieder­säch­si­schen Bundes­tags­ab­ge­ord­neten Wilhelm von Gott­berg, der den Holo­caust als „Mythos“ und „wirk­sames Instru­ment zur Krimi­na­li­sie­rung der Deut­schen und ihrer Geschichte“ bezeichnet hat.

Mit unter­schied­li­chen Maßnahmen wollen die Erin­ne­rungs­orte verhin­dern, dass sich Situa­tionen wie in der KZ-Gedenkstätte Sach­sen­hausen fort­setzen. Viele von ihnen verdanken ihre Entste­hung enga­gierten Histo­ri­kern sowie Verfolg­ten­ver­bänden und Inter­na­tio­nalen Lager­ko­mi­tees, die über­wie­gend aus Über­le­benden und ehemals Inhaf­tierten bestanden. Ohne deren lang­jäh­riges, gemein­sames Enga­ge­ment wäre die Gedenk­stät­ten­land­schaft in ihrer heutigen Form nicht denkbar. Neben der scho­nungs­losen Aufklä­rung über die Verbre­chen der Natio­nal­so­zia­listen zeigen die Einrich­tungen auch eine klare Haltung gegen jene Parteien, die Rassismus und Anti­se­mi­tismus weiterhin beför­dern. Die Vermitt­lung eines diffe­ren­zierten Geschichts­bildes wird von Vertre­tern demo­kra­ti­scher Parteien jedoch immer wieder mit Demo­kra­tie­för­de­rung verwechselt.

Buchen­wald ist kein Demokratieseminar

KZ-Gedenkstätte Sach­sen­hausen; Quelle: n-tv.de

KZ-Gedenkstätten spielen eine zentrale Rolle bei der Ausein­an­der­set­zung mit der deut­schen Geschichte. An zahl­rei­chen Erin­ne­rungs­orten werden die Folgen des Natio­nal­so­zia­lismus doku­men­tiert, aufge­ar­beitet und der Öffent­lich­keit zur Verfü­gung gestellt. Jedes Jahr besich­tigen mehr als 2,5 Millionen Menschen die bekann­teren deut­schen KZ-Gedenkstätten in Buchen­wald, Ravens­brück, Dachau, Neuen­gamme, Sach­sen­hausen, Bergen-Belsen und Flos­sen­bürg. Zum Vergleich: Das Schloss Neuschwan­stein, die belieb­teste Touris­ten­at­trak­tion Deutsch­lands, verzeichnet pro Jahr rund 1,4 Millionen Gäste.

Neben der Aufklä­rung über die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verbre­chen wird von den Gedenk­stätten häufig auch gefor­dert, dass sie anti­de­mo­kra­ti­schen, rassis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Einstel­lungen vorbeugen sollen. Von der Konfron­ta­tion junger Menschen mit den Verbre­chen des Natio­nal­so­zia­lismus erwarten sich insbe­son­dere die Poli­tiker demo­kra­ti­scher Parteien eine präven­tive Wirkung. So betonte die rheinland-pfälzische Bildungs­mi­nis­terin Stefanie Hubig (SPD), es komme ange­sichts der Bedro­hungen der Demo­kratie durch Natio­na­lismus und Popu­lismus entschei­dend darauf an, den Schü­le­rinnen und Schü­lern die Erin­ne­rung an die Verbre­chen der Nazi-Diktatur, das Lernen und Leben von Demo­kratie sowie das euro­päi­sche Mitein­ander nahe­zu­bringen. Die CDU-Chefin Anne­gret Kramp-Karrenbauer oder die Berliner Staats­se­kre­tärin Sawsan Chebli (SPD) hatten in der Vergan­gen­heit verlangt, den Besuch in einer Gedenk­stätte verpflich­tend im Lehr­plan zu veran­kern. Die miss­glückte Inter­view­aus­sage des Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragten der Bundes­re­gie­rung Felix Klein, der „Besuch in einem Konzen­tra­ti­ons­lager“ (statt in einer Gedenk­stätte) solle „für Schüler verpflich­tend“ sein, fügt sich hier ein. Auch hinter ihr steht die gut gemeinte, aber naive Idee, dass Menschen durch den Besuch eines Erin­ne­rungs­ortes inner­halb von wenigen Stunden eine kriti­sche Haltung zu Rassismus, Anti­se­mi­tismus und rechter Gewalt entwi­ckeln könnten.

Erlebnis vs. Bildung

KZ-Gedenkstätte Flos­sen­bürg; Quelle: sfz-sulzbach-rosenberg.de

Wie verbreitet diese Erwar­tungs­hal­tung ist, wurde am Umgang der Medien mit den Rappern Kollegah und Farid Bang deut­lich, denen 2018 wegen der Text­zeilen „Mein Körper defi­nierter als von Auschwitz-Insassen“ und „Mache mal wieder ‘nen Holo­caust“ Anti­se­mi­tismus vorge­worfen wurde. Auf Anre­gung von Marius Müller Western­hagen besuchten die zwei Musiker die KZ-Gedenkstätte in Ausch­witz, in der Öffent­lich­keit gaben sie sich danach geläu­tert. „Wenn du mit eigenen Augen gesehen siehst, wie dort Menschen vergast wurden, vergisst du das nie“, begrün­dete Kollegah seine Entschei­dung, in Zukunft „vorsich­tiger und respekt­voller“ auftreten zu wollen. Mit dem Besuch in Ausch­witz war für die meisten Medien das Thema erle­digt. Auf einem Musik­portal heißt es zu Protesten, die seine Konzerte bis heute begleiten: „Dabei hat Kollegah durchaus aus seinen Fehlern gelernt und seine Meinung in Bezug auf seine frag­wür­digen Zeilen nach seinem Besuch im Konzen­tra­ti­ons­lager Ausch­witz offenbar geän­dert.“ Dabei scheint es mit der Conten­ance des Rappers schon wieder vorbei zu sein. Auf seinem jüngsten Album hält er sich mit anti­se­mi­ti­schen, nicht jedoch mit sexis­ti­schen und homof­eind­li­chen Aussagen zurück.

Der Wunsch nach einer festen Veran­ke­rung der Schul­be­suche in Gedenk­stätten zeugt von Hilf­lo­sig­keit im Umgang mit zwei gesell­schafts­po­li­ti­schen Entwick­lungen, die mitein­ander in Zusam­men­hang stehen: Zum einen handelt es sich dabei um den Aufstieg der AfD, die bei den Land­tags­wahlen in Bran­den­burg, Sachsen und Thüringen im vergan­genen Jahr jeweils auf den zweiten Platz gekommen ist. Zum anderen um die massive Zunahme von rechter und rassis­ti­scher Gewalt. Vergan­genes Jahr wurden alleine in den ostdeut­schen Bundes­län­dern und Berlin täglich drei rechte, rassis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Gewalt­taten gezählt. Die Betrof­fenen? Menschen, die nicht in ein rechtes Welt­bild passen – wie Migranten und Geflüch­tete, Juden, Sinti und Roma, LGBTI*Q, Menschen mit Behin­de­rung oder poli­ti­sche Gegner. Schon seit Jahren betonen jüdi­sche Orga­ni­sa­tionen, Muslime und Vertreter der Sinti und Roma, dass sie sich in Deutsch­land nicht sicher fühlen. Sie fordern nicht nur mehr Schutz von den Behörden und eine aktive Soli­da­ri­sie­rung seitens der Mehr­heits­ge­sell­schaft, sondern auch ein stär­keres Bewusst­sein für die histo­ri­sche Dimen­sion von Ausgren­zung und Gewalt gegen Minderheiten.

Auswir­kungen auf die poli­ti­sche Einstellung

KZ-Gedenkstätte Dachau; Quelle: kgu.schule.ulm.de

Kann die Erin­ne­rung an den Natio­nal­so­zia­lismus durch Gedenk­stät­ten­be­suche hieran etwas ändern? Die Auswir­kungen von Erin­ne­rungs­orten auf die Besu­cher wurden in den vergan­genen Jahr­zehnten immer wieder durch die Gedenk­stätten selbst evalu­iert oder im Rahmen von wissen­schaft­li­cher Beglei­tung der pädago­gi­schen Arbeit erforscht. Einen aktu­ellen Eindruck kann der „Multi­di­men­sio­nale Erin­ne­rungs­mo­nitor“ verschaffen, der von der Stif­tung Erin­ne­rung Verant­wor­tung Zukunft in Auftrag gegeben wurde. In dieser reprä­sen­ta­tiven Umfrage wurden Deut­sche gefragt, wie sie mit dem Thema Natio­nal­so­zia­lismus in Berüh­rung gekommen sind. Der Besuch einer Gedenk­stätte kommt dabei auf den vierten Platz – nach Doku­men­tar­filmen, Spiel­filmen und der Infor­ma­tion durch Texte und Videos im Internet. Die Teil­nehmer der Studie haben zu 85,9 % ange­geben, dass sie der Besuch in einer Gedenk­stätte emotional berührt habe. Weiteren 67 % wurde dort neues Fakten­wissen vermit­telt. Von der Hälfte der Befragten wurde ange­geben, dass sie sich nach dem Besuch inten­siver mit aktu­ellen gesell­schaft­li­chen Themen beschäf­tigen wolle. Die Mehr­heit der Befragten will offen­sicht­lich keinen Schluss­strich, sondern eine konti­nu­ier­liche Ausein­an­der­set­zung mit Entste­hung und Geschichte des Nationalsozialismus.

Trotzdem sollte man die Arbeit der Gedenk­stätten nicht mit falschen Erwar­tungen über­frachten, weil die Besu­cher die dort präsen­tierten Infor­ma­tionen häufig nach ihrer ideo­lo­gi­schen Prägung und nach mitge­brachten Inter­pre­ta­ti­ons­mus­tern deuten. Die Aussichten, durch einen Besuch poli­ti­sche Einstel­lung zu verän­dern, ist deshalb gering. Bereits 2008 wurden Schüler zu ihrer Selbst­wahr­neh­mung nach einer Besich­ti­gung der KZ-Gedenkstätten in Buchen­wald und Moringen befragt. Die Aussage „Nach dem Besuch der Gedenk­stätte bin ich mehr gegen Neonazis als vorher“ hat dabei keine nennens­werte Zustim­mung erhalten. In einer anderen Befra­gung wird deut­lich, dass falsche Deutungs­an­sätze, die den Natio­nal­so­zia­lismus auf Hitler oder eine kleine Elite redu­zieren, auch nach dem Besuch einer Gedenk­stätte weit verbreitet sind. Durch wissen­schaft­liche Studien wird somit jene Beob­ach­tung bestä­tigt, die Gedenk­stät­ten­päd­agogen in ihrer tägli­chen Arbeit machen: ein Groß­teil der Besu­cher mit anti­de­mo­kra­ti­schen oder menschen­feind­li­chen Einstel­lungen wird seine Haltung durch die Besich­ti­gung eines Erin­ne­rungs­ortes nicht in mess­barer Weise ändern. So sind auch die Geschichts­re­vi­sio­nisten der AfD durch ihren Besuch in Sach­sen­hausen offen­sicht­lich nicht von ihrer ideo­lo­gi­schen Wahr­neh­mung der Vergan­gen­heit abge­kommen und auch ein über­zeugter Anti­semit wird durch einen Besuch in Buchen­wald seine juden­feind­li­chen Über­zeu­gungen wohl kaum ablegen.

Wie geht Demo­kra­tie­bil­dung – nicht

KZ-Gedenkstätte Ester­wegen; Quelle: gymnasium-papenburg.de

Die Vermitt­lung von Infor­ma­tionen über den Natio­nal­so­zia­lismus hat demnach ganz offen­sicht­lich nicht jenen Effekt, den sich viele Menschen von historisch-politischer Bildung erhoffen. Doch detail­liertes Fakten­wissen über den Natio­nal­so­zia­lismus ist keine Voraus­set­zung, um sich heute gegen rechte Gewalt und ihre ideo­lo­gi­schen Befür­worter zu posi­tio­nieren. Auch ohne Kenntnis von der Aktion Rein­hardt enga­gieren sich viele Menschen seit Jahren für Geflüch­tete oder gegen rechte Hetze. Gleich­zeitig ist die gewünschte Ausein­an­der­set­zung mit grup­pen­be­zo­gener Menschen­feind­lich­keit jedoch nicht auf die symbo­li­sche Bedeu­tung von histo­ri­schen Orten ange­wiesen. Problemlos fügt sich Demo­kra­tie­bil­dung längst in das Programm von vielen Kultur- und Bildungs­ein­rich­tungen ein.

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Auch die Ausein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lismus bleibt zukünftig eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Aufgabe, weshalb eine aktive Beschäf­ti­gung mit der deut­schen Geschichte von den Gedenk­stätten gemeinsam mit anderen gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tionen getragen werden sollte. In Stadt­mu­seen und Jugend­clubs kann aus abstrakten Forde­rungen wie „Nie wieder“ oder „Lernen aus der Vergan­gen­heit“ eine leben­dige Gedenk­kultur werden. Glaub­würdig ist dieses Vorgehen jedoch nur, wenn die Erin­ne­rung an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus eine Posi­tio­nie­rung gegen aktu­elle Formen von Ausgren­zung und Gewalt zulässt.

Gelebtes Gedenken

KZ-Gedenkstätte Buchen­wald; Quelle: wochen-bote.de

Beispiel Pinne­berg, eine Stadt mit 43.000 Einwoh­nern in der Metro­pol­re­gion Hamburg. Im dortigen Jugend­zen­trum, dem Geschwister-Scholl-Haus, hatte in den vergan­genen Monaten eine Jugend­gruppe zum Antifa-Café einge­laden. Bei Info­abenden wurde von wech­selnden Refe­renten über die Seenot­ret­tung im Mittel­meer oder die Arbeit einer Bera­tungs­stelle für Opfer von rechter und rassis­ti­scher Gewalt berichtet. Auch ein Abend mit einer Holocaust-Überlebenden war geplant, bis die partei­lose Bürger­meis­terin der Klein­stadt Anstoß am Namen des Antifa-Cafés fand und der Veran­stal­tungs­reihe ein Haus­verbot erteilte. Die Erin­ne­rung an die Mitglieder der „Weißen Rose“ wird so zu einer reinen Kulisse. Dabei sind es genau solche Räume, in denen das Gedenken an die Opfer des Natio­na­lismus nicht nur an der Wand geschrieben, sondern gelebt werden müsste. Immerhin hatte die AfD in den letzten Jahren wieder­holt versucht, den Mord an Sophie Scholl für ihre Zwecke zu instru­men­ta­li­sieren und mit der Behaup­tung „Sophie Scholl würde AfD wählen“ für eine rechte Politik zu werben.

Um derlei Umdeu­tungs­ver­suche zu verhin­dern, haben die Erin­ne­rungs­orte bereits 2018 im Rahmen der Bundes­weiten Gedenk­stät­ten­kon­fe­renz mit einer gemein­samen Reso­lu­tion Haltung bezogen. Sie warnen darin unter anderem vor einem Erstarken rechts­po­pu­lis­ti­scher und autoritär-nationalistischer Bewe­gungen, einer Zunahme von Rassismus und Anti­se­mi­tismus sowie vor Angriffen auf Grund- und Menschen­rechte. Von Akteuren in Politik und Gesell­schaft fordern sie, das „Wissen um die histo­ri­schen Erfah­rungen mit ausgren­zenden Gesell­schaften wie dem Natio­nal­so­zia­lismus für die Gegen­wart zu bewahren“. Völlig zu Recht haben die Gedenk­stätten mit dieser Posi­tion deut­lich gemacht, wo sie poli­tisch stehen. Für die Aufklä­rung über aktu­elle Formen von Rassismus und Anti­se­mi­tismus sind sie jedoch nicht verantwortlich.