Wenn man wissen will, was passiert, wenn rechte Parteien agieren und nicht mehr bloss reden, dann muss man nach Ungarn gucken. Dort wird nicht nur gegen imaginäre Fremde gehetzt, sondern auch gegen reale regierungskritische Intellektuelle offen vorgegangen.

  • Katalin Krasznahorkai

    Katalin Krasznahorkai ist Kunsthistorikerin und Kuratorin, sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich.

Obwohl es in Ungarn keine Migra­tion gibt (1.54% Ausländer 2017), konnte Viktor Orbán mit dem Thema Migra­tion einen Erdrutsch­sieg für seine Partei Fidesz einfahren. Doch nun sieht er sich nach neuen Feinden um (hält aber das Thema Migra­tion eben­falls warm). Wenn man die poli­ti­schen State­ments und Aktionen der Regie­rungs­partei in den letzten Wochen anschaut, dann wird klar, wer sich offenbar beson­ders gut als nächster Feind eignet: Intel­lek­tu­elle, Künstler und Akade­miker, die sich nicht regie­rungs­kon­form äußern. Aktu­elles Beispiel: Als Staats­se­kretär für Kultur wurde der Direktor des Hauptstadt-Zirkus, der Zauberer, Magier und Illu­sio­nist Péter Fekete ernannt… Die Fidesz-nahe Tages­zei­tung Magyar Idök schwärmte schon vor dem Bekannt­werden dieser Neube­set­zung von Feketes Erfolgen auf dem Gebiet der Kultur. Ungarn sei, so hiess es etwa, im Bereich Zirkus­kunst führend und „eine Welt­macht in Inno­va­tion“.  

Der Kultur­staats­mi­nister Péter Fekete auf der Zirkus­bühne, Foto: Marjai János/MTI, Quelle: magyarnarancs.hu

Beson­ders magisch ist die Inno­va­ti­ons­kunst der unga­ri­schen Regie­rung, wenn es darum geht, hohe Posten (auch) im Kultur­be­reich ohne direkte fach­liche Quali­fi­ka­tion zu besetzen. Schon 2012 hatte die libe­rale Wochen­zei­tung Magyar Narancs Fekete gefragt, anhand welcher Quali­fi­ka­tion er 2011 in ein fünf­köp­figes Gremium gewählt wurde, das die Theater in Ungarn koor­di­niert. Als Fekete erfuhr, worum es ging, ließ er die Zeitung wissen, dass er keine einzige Frage beant­worten werde. Damit war klar: In Ungarn kann man jetzt ohne formale Bedin­gungen oder Quali­fi­ka­tion Karriere machen – das einzige Krite­rium ist lang­jäh­rige poli­ti­sche Loyalität. 

„Kultur“ als stra­te­gi­sche Verdummung

Die Ernen­nung des Zirkus­di­rek­tors zum Kultur­staats­se­kretär hat der neue Minister für Human­res­sourcen, Miklós Kásler, durch­ge­setzt, in dessen „Menschen-Ministerium“ neben Kultur auch Gesund­heit, Sport, Bildung, Familie, Jugend sowie Soziales behei­matet sind. Der Minister will, wie er sagt, Staats­se­kre­täre, die sich mit ihm und seiner Linie iden­ti­fi­zieren können. Diese Iden­ti­fi­ka­tion ist indes nicht einfach: Kásler ist davon über­zeugt, Männer leben deswegen kürzer als Frauen, weil sie mit Frauen leben, Frauen hingegen länger, weil sie mit Männern leben. Er denkt, seit den Grie­chen sei nichts Nennens­wertes in der Philo­so­phie passiert, der Urknall sei eine Speku­la­tion, Einsteins Rela­ti­vi­täts­theorie schon wider­legt worden, gegen die Origi­na­lität des Turiner Grab­tuchs könnten keinerlei wissen­schaft­liche Argu­mente vorge­bracht werden und die Einhal­tung der Zehn Gebote rette uns vor 70-80 % der tödli­chen Krank­heiten – der Mann ist Arzt. 

Das ist absurd und dumm, aber es ist die poli­ti­sche Realität (nicht nur) Ungarns. Diese Praxis der Unbil­dung bzw. Verdum­mung wird zudem stra­te­gisch mit einer Anti­gen­der­po­litik verknüpft. Orbán will jetzt direkt mit „den Frauen“ reden, um die Geburts­raten zu erhöhen – denn die Unga­rInnen werden immer weniger. Also will er errei­chen, dass „das unga­ri­sche Volk“ sich bis 2030 selbst repro­du­zieren kann. Laut Orbán ist die „Funk­tion einer unga­ri­schen Frau die unga­ri­sche Mutter­schaft“. Die vom Minister geprie­sene „Kultur“ soll genau dieser „demo­gra­fi­schen Tragödie“ entge­gen­steuern. Bereits 2016 wurden junge, eman­zi­pierte, gebil­dete Frauen als „Sing­le­horden“ bezeichnet, neuer­dings werden sie als „Avoca­do­toast essende Egoisten“ beschimpft, die der Gemüt­lich­keit halber und dem „west­li­chen Lebens­stil“ nach­ei­fernd keine unga­ri­schen Kinder gebären wollen. Univer­si­täts­stu­den­tInnen der Geis­tes­wis­sen­schaften werden als „Nichts­nutze“ denun­ziert, die „auf Kosten des Staates studieren“, in „schumm­rigen Kneipen“ vor sich „hindösen“ und dann „ins Ausland abhauen“. Dass man Gender-Studies bislang über­haupt nur an einer einzigen Univer­sität studieren konnte – an der von George Soros gegrün­deten Central Euro­pean Univer­sity (CEU)  – kümmert die Angreifer gegen dieses akade­mi­sche Feld in keiner Weise und ist aus ihrer Perspek­tive zudem ein weiteres Indiz für die angeb­liche Verkom­men­heit dieser Institution.

Gegen die akade­mi­schen Institutionen

Der Fron­tal­an­griff auf die CEU hat es schon im letzten Jahr erahnen lassen: Es gibt nichts mehr, das sich der offi­zi­ellen Regie­rungs­pro­pa­ganda in den Weg stellen darf. Die „Nester“ der libe­ralen, intel­lek­tu­ellen Elite sollen zerstört werden. In diesen Prozess fügte sich eine beispiel­lose Hass­kam­pagne gegen den ungarisch-stämmigen US-amerikanischem Investor George Soros, die auf mehreren Ebenen lief. In erster Linie wurde Soros vorge­worfen, Ungarn gezielt zugrunde richten zu wollen, weil er das Land „eigen­händig“ mit Migran­tInnen über­fluten lässt. 

Plakat­kamp­gane mit der Aufschrift: „Lassen wir Soros nicht als letzten lachen“, 2017, Foto: Nagy Attila Károly, Quelle: index.hu

Dieses bibli­sche Bild der Flut ist kein Zufall. In die über­haupt von apoka­lyp­ti­schen Bildern geprägte Regie­rungs­pro­pa­ganda fügt sich auch die Kampagne gegen die CEU, die einen tief­sit­zenden Anti­se­mi­tismus weckte. Auf riesigen Plakaten mit einem Porträt des lächelnden George Soros konnte man lesen: „Stop Soros! Lassen wir ihn nicht als Letzten lachen!“ Bild und Text evozierten osteu­ro­päi­sche, anti­se­mi­ti­sche Reflexe, die jeder sofort verstand. Der aus dem 19. Jahr­hun­dert stam­mende Bild-Topos des „lachenden Juden“ wurde hier ohne jeden Zweifel bewusst einge­setzt, auch wenn die Regie­rung immer wieder in offen­kundig para­doxer Weise beteuert, Anti­se­mi­tismus in Ungarn keinen Raum zu lassen. Sie voll­zieht damit den typi­schen perfor­ma­tiven Wider­spruch popu­lis­ti­scher Parteien zwischen Handeln und Sprechen. 

Die Fidesz-Regierung verab­schie­dete bereits 2017 ein Gesetz, das sich gegen „auslän­disch“ finan­zierte Univer­si­täten richtet. Bislang versucht die CEU, diese gesetz­li­chen Vorgaben zu erfüllen und in Buda­pest zu bleiben. CEU-Präsident Michael Igna­tieff beteuert, dass die Univer­sität keines­falls als poli­ti­scher Akteur wahr­ge­nommen werden will –  baut vorsorg­lich aber einen Campus in Wien auf. Die von Soros finan­zierte Open Society Foun­da­tion wird Ungarn nach massiven Atta­cken nun verlassen und demnächst nach Berlin umziehen.  

Auslö­schen von Theorie und Geschichte

Es ist aber nicht nur die CEU, die als Insti­tu­tion ange­griffen wird. Am Morgen des 25. Mai 2018 wurden die Schlüssel im Lukács-Archiv, dem ehema­ligen Wohn­haus des marxis­ti­schen Philo­so­phen George Lukács, wo man bislang direkt an Lukács’ Schreib­tisch forschen konnte, ausge­tauscht und der letzte Mitar­beiter wurde des Archivs verwiesen. Schon im April 2017 wurde die Lukács-Skulptur aus einem nahe­ge­le­genen Park entfernt. Auch wenn die inter­na­tio­nale und natio­nale Fach­welt mit der Konfe­renz  „The Legacy of György Lukács“ auf diese beispiel­lose Aktion der Regie­rung reagiert hatte und Lukács in der Philo­so­phie gerade ein Revival erlebt, ist die Regie­rung gegen­über Peti­tionen und Demons­tra­tionen völlig immun. Da hilft auch der inter­na­tio­nale Aufschrei und der Protest der Inter­na­tio­nalen Lukács Archiv-Stiftung nichts. 

„Vorher (Előtte) / Nachher (Utána)“: Bild­zu­sam­men­stel­lung auf der Webseite der Jobbik-Partei, auf deren Initia­tive die Lukács-Skulptur entfernt wurde. Quelle: budapest13.jobbik.hu

Warum über­haupt erscheint der Regie­rung im Fall von Lukács eine so radi­kale Geste der Spuren- und Geschichts­ver­nich­tung vonnöten? Die Geschichte des anti­kom­mu­nis­ti­schen, rechts­kon­ser­va­tiven Anti-Lukács-Ressentiments ist zwar lang, aber heute, 2018, steht etwas anderes dahinter, heute stehen Anti­se­mi­tismus und die jüdi­sche Abstam­mung von Lukács im Zentrum dieser Propa­ganda. Sie ähnelt damit dem Anti­kom­mu­nismus des ehema­ligen Weißen Terrors der frühen 1920er Jahre, demgemäß ein „Judeo-Bolschewismus“ die saubere Seele des unga­ri­schen Volkes beschmutzt haben soll… Ähnlich wie im Fall Soros wird auch hier zwar nie offen anti­se­mi­tisch argu­men­tiert. Aber in der Rhetorik der rechts­ra­di­kalen Parteien werden Inves­toren wie Soros ebenso wie zentrale Prot­ago­nisten des inter­na­tio­nalen Marxismus über einen Kamm geschoren und als „nicht-ungarische“ (das heisst: „jüdi­sche“) „Elite“ gebrandmarkt. 

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Gegen die Intel­lek­tu­ellen, auch die „eigenen“

Auch vor der Unga­ri­schen Akademie der Wissen­schaften wurde kein Halt gemacht, obwohl diese seit 2014 vom Fidesz-nahen „guten König“ László Lovász regiert wird. Aber auch dieser Präsi­dent wurde von den Fidesz-Medien unter Beschuss genommen, nachdem er sich für die CEU ausge­spro­chen hatte und sich an der „Aner­ken­nung der inter­na­tio­nalen wissen­schaft­li­chen Elite“ orien­tierte – anstatt die Regie­rungs­pro­pa­ganda auch in der Wissen­schaft umzusetzen. 

Auch andere Beispiele zeigen, dass jetzt auch die gemä­ßigten, nicht völlig abstrusen Gestalten aus den eigenen Fidesz-Reihen unter Beschuss kommen. So etwa der Direktor des Lite­ra­tur­mu­seums, Gergely Prőhle, ehemals Botschafter in Berlin, der in einem Artikel der Fidesz-nahen Tages­zei­tung Magyar Időmit der sarkas­ti­schen Über­schrift „Der Zirkus der Verängs­tigten geht weiter: die ständig einge­schüch­terten Intel­lek­tu­ellen genießen große staat­liche Unter­stüt­zung“ scharf wegen seiner libe­ralen Haltung kriti­siert wurde. Der Autor des Arti­kels moniert, dass der Staat zu sehr jene Lite­raten und Intel­lek­tu­elle unter­stütze, die im Ausland den „guten“ Ruf Ungarns schä­digen – und dies auch noch auf Kosten des unga­ri­schen Staates tun, unter­stützt von einer öffent­li­chen, staat­li­chen Insti­tu­tion wie dem Literaturmuseum. 

Die Liste der 200 „Soros-Söldner“ in der regie­rungs­nahen Zeit­schrift „Figyelő“, 11.4. 2018, Quelle: figyelo.hu

Der Artikel liefert auch gleich eine Liste von Intel­lek­tu­ellen mit (im April gab es bereits eine Liste mit 200 Namen, die als „Soros-Söldner“ in einer Regie­rungs­zei­tung erschienen), die im Lite­ra­tur­mu­seum aufge­treten sind, aber nicht die Regie­rungs­linie vertreten. Sie werden nun als Volks­ver­räter denun­ziert. Aus lite­ra­ri­scher Sicht stehen sehr unter­schied­liche Schrift­steller darauf wie Pál Závada, György Spiró, Péter Nádas, László Lajos, Parti Nagy Lajos, György Dragomán, Krisz­tina Tóth, Krisz­tián Peer, Orsolya Kara­fiáth oder László Krasznahorkai. 

Der Magyar IdőkArtikel richtet sich aber nicht nur gegen unga­ri­sche Schrift­stel­le­rInnen, sondern auch gegen auslän­di­sche, die in Ungarn von genau dieser „Elite“ geehrt werden. So wurde der öster­rei­chi­sche Schrift­steller Daniel Kehl­mann, der als Ehren­gast den großen Preis der Buda­pester Buch­messe bekam, von Magyar Idők-Jour­na­listen als „Hypo­krit“ verun­glimpft. Er sei während seines Budapest-Besuchs mit Luxus über­häuft worden und auf Kosten der unga­ri­schen Steu­er­zahler „in der Lobby eines Luxus­ho­tels einmar­schiert“, „um seine Füße im gast­ge­benden Land abzu­treten“. Genau dies, so die Zeitung, sei die „beste Zusam­men­fas­sung des links­li­be­ralen Kulturkampfes“. 

In solchen Angriffen auf Intel­lek­tu­elle wird Kritik grund­sätz­lich als amora­lisch, asozial und para­sitär diskre­di­tiert, um möglichst alle niederen popu­lis­ti­schen Reflexe zu bedienen. Auffal­lend ist dabei, dass die Oppositions-Rolle der Intel­lek­tu­ellen im Sozia­lismus geschickt umge­dreht wird – jetzt ist die Regie­rung die Oppo­si­tion, die „das Volk“ vor diesen entmo­ra­li­sierten Kultur­schma­rot­zern zu schützen versucht. Während im Sozia­lismus die oppo­si­tio­nellen Lite­raten, Künstler oder Wissen­schaftler als Helden der Resis­tenz und der Kritik noch große Wert­schät­zung auch in der breiten Bevöl­ke­rung erfahren haben, wird jetzt dafür gesorgt, dass sie diese Helden­rolle voll­ständig verlieren. Orbán, der als einer der glühendsten Oppo­si­tio­nellen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre mit einem von Soros finan­zierten Stipen­dium in Oxford studieren konnte, weiß nur allzu gut, wie solche Helden entstehen und welchen Einfluss sie auf das „Volk“ haben können. 

Kurzum: Die unga­ri­sche Regie­rung reali­siert, wovon rechte Parteien in anderen Ländern bislang nur reden – Bedro­hung der Univer­si­täten durch neue Gesetze, Umbe­set­zung des Kultur­be­reichs nach partei­po­li­ti­schen Inter­essen, das Führen schwarzer Listen von Kriti­kern, das Unzu­gäng­lich­ma­chen von Archiven. Mit voller Zustim­mung der so genannten „breiten Bevöl­ke­rung“. 

Gratis­mei­nung für alle

Apropos „Volk“: Orbáns Regie­rung setzte in ihrer Wahl­kam­pagne 2017/18 stark auf boulevardesk-agitatorische Gratis­zei­tungen für die Provinz. Durch sie wurde die Bevöl­ke­rung der unteren Bildungs­schichten, die kaum Zugang zu online- oder sozialen Medien hat, mit der Perspek­tive und den Schlag­worten der Regie­rung versorgt. Wenn in jeder Provinz­kneipe, in jedem Bahnhof, in jedem öffent­li­chem Verkehrs­mittel, wört­lich in jeder Stra­ßen­ecke vor den (nicht vorhan­denen) Migranten gewarnt wird, vor Intel­lek­tu­ellen, die auf Kosten der Ungaren Ungarn im Ausland verraten, vor eman­zi­pierten Frauen, die keine Kinder gebären wollen, dann glaubt man eines Tages tatsäch­lich, dass die Zehn Gebote die tödli­chen Krank­heiten heilen und seit den Grie­chen nichts mehr in der Philo­so­phie passiert ist. Denn das ist der neue rechts­po­pu­lis­ti­sche Intel­lek­tu­elle: Er ist der, der den größten Irrsinn in einer verant­wort­li­chen Macht­po­si­tion ohne Konse­quenzen verkünden kann.