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Ein Schädel in Sero­nera. Myles Turner und das kolo­ni­al­mi­li­tä­ri­sche Erbe des Natur­schutzes in Ostafrika

Doku­men­tar­filme, Reise­an­bieter und vermehrt auch Influencer in sozialen Netz­werken insze­nieren die Natur­re­ser­vate Ostafrikas bevor­zugt als zeit­lose Tier­pa­ra­diese. Doch Kritiker wie der kenia­ni­sche Jour­na­list John Mbaria, der eben­falls aus Kenia stam­mende Natur­schützer Mordecai Ogada oder der tansa­ni­sche Akti­vist Navaya ole Ndaskoi bezeichnen solche Gebiete als mili­tä­risch abge­schot­tete Festungen, in denen kolo­niale Konzepte von Natur und Natur­schutz fort­wirkten. Zudem würden nach wie vor west­liche Inter­essen steu­ernd in die Politik der Reser­vate eingreifen. Die Gewalt, mit der hoch­ge­rüs­tete „grüne Armeen“ die Abschot­tung der Gebiete etwa gegen­über bäuer­li­chen Gemein­schaften und anderen örtli­chen Bevöl­ke­rungen durch­setzen, erfährt inzwi­schen auch in Europa vermehrt Aufmerk­sam­keit und Kritik.

Buch­cover von 2016, Quelle: goodreads.com

Doch warum über­haupt hat der Schutz bedrohter Tier­arten Züge eines Kriegs ange­nommen? Eine der Ursa­chen dafür liegt im kolo­ni­al­mi­li­tä­ri­schen Erbe der mit dem Natur­schutz befassten Insti­tu­tionen. Es zeigt sich beispiel­haft in Biogra­phien wie der von Myles Turner, der von 1956 bis 1972 als leitender Wild­hüter die Seren­geti (Tansania) beauf­sich­tigte. Seine Auto­bio­gra­phie My Seren­geti Years wurde mehr­fach neu aufge­legt und ist noch heute mühelos erhält­lich. Die darin enthal­tenen Bilder und Vorstel­lungen sind also nicht nur histo­risch rele­vant und hinsicht­lich ihrer Nach­wir­kung zu unter­su­chen, sondern werden auch immer wieder aktua­li­siert, denn Turner wird offen­sicht­lich auch noch heute gelesen. 

Ein Schädel im Büro

Im west­li­chen Teil des Natio­nal­parks entdeckte Turner im Oktober 1960 eine Leiche. Aus dem Zustand der Über­reste und den Spuren am Boden schloss er, dass es sich um einen Wilderer gehan­delt haben musste, getötet von einem verwun­deten Büffel. Er nahm den Schädel des Toten an sich und stellte ihn in sein Büro in Sero­nera. Dort hatte Turner bereits konfis­zierte Draht­fallen zu einer Art Minia­tur­aus­stel­lung über die Wilderei arran­giert. In diese ordnete er nun den Schädel ein und versah ihn mit einer Beschrif­tung: „This poacher was killed by a buffalo in the Tabora section. Ummo comevoi sareta come noi“. Den italie­ni­schen Satz hatte Turner von einem Urlaub auf Sizi­lien in Erin­ne­rung behalten, wo er als Grab­in­schrift verbreitet ist. In korrektem Italie­nisch lautet er: Fummo come voi, sarete come noi. Auch im deutsch­spra­chigen Raum findet sich der Satz auf Kirch­höfen und in Bein­häu­sern, oft in der Vari­ante: „Wie ihr seid, so waren wir, und wie wir sind, so werdet ihr.“ An solchen Bestat­tungs­orten bezieht sich das »wir« auf die Toten, die den Lebenden deren Vergäng­lich­keit in Erin­ne­rung rufen. Doch was wollte der Wild­hüter damit denje­nigen sagen, die ihn in seinem Büro aufsuchten?

Turner erwähnt den Leichen­fund in seiner Auto­bio­gra­phie nur beiläufig; zur Ausstel­lung des Schä­dels äußert er sich nicht weiter. Sie stand aller­dings im Kontext eines grau­samen kolo­nialen Trophä­en­kults: Vor allem in der Zeit des Hoch­im­pe­ria­lismus schmückten manche Kolo­ni­al­be­amte ihre Arbeits- und Wohn­räume nicht allein mit Leopar­den­fellen oder den Stoß­zähnen von Elefanten, sondern auch mit Schä­deln von Afri­ka­nern und Afri­ka­ne­rinnen. Damit wendeten sie die jahr­hun­der­te­alte Kriegs­praxis, abge­schla­gene Häupter als Sieges­zei­chen zu präsen­tieren, in eine Geste weißer Überlegenheit.

Buch­cover, 1980, Quelle: abebooks.co.uk

Den Schädel in seinem Büro könnte Turner durchaus als Trophäe betrachtet haben, sah er sich doch in einem „war on the poachers“. Seine Frau Kay beschei­nigte ihm, dass sein obses­siver Wille zur Elimi­nie­rung der Wilderei längst Züge eines persön­li­chen Kreuz­zugs ange­nommen habe. Auch der Jour­na­list Brian Jackman, der Turners Auto­bio­grafie bear­bei­tete, sah im „Säubern“ der Seren­geti von Wilde­rern die „driving force of his life“. Über die von ihm mit dem Vorwurf der Wilderei verhaf­teten Afri­kaner führte der Wild­hüter geflis­sent­lich Buch.

Turners Kriege

Wie viele Wild­hüter seiner Gene­ra­tion im östli­chen Afrika verei­nigte Turner, geboren 1921 im engli­schen North­um­ber­land, in seiner Biogra­phie solda­ti­sche und jäge­ri­sche Prägungen. Aufge­wachsen im länd­li­chen Kenia kämpfte er während des Zweiten Welt­kriegs als Infan­te­rist eines briti­schen Aufklä­rungs­re­gi­ments in Somalia, Äthio­pien und Burma. Nach Kriegs­ende trat er als Jäger in die kenia­ni­sche Wild­be­hörde ein, deren Kern­auf­gabe damals darin bestand, zum Schutz der expan­die­renden Land­wirt­schaft und zur Eindäm­mung der Tsetse­fliege massen­haft Elefanten, Kaffern­büffel und andere „Ernte­schäd­linge“ abzu­schießen. In diesen Jahren begann Turner, das Jagen in kolo­ni­al­staat­li­chem Auftrag als eine poli­zei­liche Tätig­keit zur Wahrung der Ordnung aufzu­fassen. „In meiner Vorstel­lung war ein unkon­trol­liertes Wild nicht länger ein Tier, sondern wurde zu einer Art krimi­nellem Element“, so schil­derte er dem Fern­seh­jour­na­listen Robin Brown und ergänzte: „Ich war gera­dezu ein Poli­zist“. Obwohl Turner jene Jahre zu den glück­lichsten seines Lebens zählte, litt er auch unter Einsam­keit. 1949 wech­selte er daher als Jagd­führer zum noch heute exis­tie­renden Reise­an­bieter Ker and Downey Safaris, für den er vermö­gende Trophä­en­tou­risten unter anderem nach Belgisch-Kongo und in den Sudan begleitete.

Im drei Jahre später ausge­bro­chenen Mau-Mau-Krieg, den die kenia­ni­sche Unab­hän­gig­keits­be­we­gung gegen die briti­sche Kolo­ni­al­herr­schaft führte, schloss sich Turner einer Sonder­ein­heit der Polizei an. Ob seine Kriegs­be­tei­li­gung frei­willig oder durch Einbe­ru­fung zustande kam, geht aus seiner Auto­bio­gra­phie nicht hervor. Sein Einsatz­ge­biet war das Aberdare-Gebirge, eine unweg­same Wald- und Moor­land­schaft im zentral­ke­nia­ni­schen Hoch­land, die vielen Mau-Mau als Rück­zugs­raum diente. Nach der Verhän­gung des Ausnah­me­zu­stands 1952 bildete die Kolo­ni­al­re­gie­rung para­mi­li­tä­ri­sche Einheiten aus Wild­hü­tern und Groß­wild­jä­gern, die mit ihren Orts­kennt­nissen und Fertig­keiten im Spuren­lesen die Aufstän­di­schen in solchen Gebieten aufspüren und angreifen sollten.

Gewalt gegen Tiere, gegen Aufstän­di­sche, gegen Wilderer

Der Mau-Mau-Krieg zählt zu den grau­samsten in der Geschichte des briti­schen Impe­riums. Mutmaß­liche Unter­stützer der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung, ganz über­wie­gend Kikuyu, wurden zu Zehn­tau­senden gefol­tert, verstüm­melt, kastriert, verge­wal­tigt und exeku­tiert. Hundert­tau­sende Zivi­lis­tinnen und Zivi­listen wurden über Jahre ohne Anklage in Inter­nie­rungs­la­gern fest­ge­halten. Auch Wild­hüter töteten mutmaß­liche Aufstän­di­sche, so etwa George Adamson, der wenige Jahre später durch den von seiner Frau Joy verfassten und erfolg­reich verfilmten Best­seller „Born Free“ als Tier­schützer und Jugend­idol inter­na­tio­nale Promi­nenz erlangen sollte.

Über Turners Rolle im Kolo­ni­al­krieg ist bislang wenig bekannt. Der Jour­na­list Brown rechnet ihn einer der berüch­tigten „Pseudo Gangs“ zu: Weiße Ange­hö­rige der Sicher­heits­kräfte, die sich ihre Gesichter schwarz färbten, wie Kikuyu klei­deten und mit zwangs­re­kru­tierten Gefan­genen als Mau-Mau-Gruppe tarnten. Auf diese Weise suchten sie sich bevor­zugt nachts den Lagern mutmaß­li­cher Aufstän­di­scher zu nähern, um dann aus möglichst kurzer Distanz das Feuer zu eröffnen. Den Getö­teten trennten sie die Hände ab, um anhand von Finger­ab­drü­cken nach­träg­lich deren Iden­tität fest­stellen zu können. Auch setzten die „Pseudo Gangs“ Jagd­hunde und Tech­niken der Groß­wild­jagd ein. Zur Nieder­schla­gung der anti­ko­lo­nialen Revolte sollten die Männer, so forderte es ein regie­rungs­amt­li­cher Leit­faden zur Aufstands­be­kämp­fung, vorgehen wie beim Aufspüren und Abschießen scheuer Tiere. „Wir mussten zu Tieren des Waldes werden“, erin­nerte sich Turner gegen­über Brown. „Je mehr du zum Tier wurdest, desto länger hast du gelebt.“

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Buch­cover, 2005, Quelle: goodreads.com

Für Wild­hüter wie Turner erwies sich der Mau-Mau-Krieg nicht nur als Gele­gen­heit, ihre Jagd­er­fah­rungen für den Erhalt des briti­schen Kolo­ni­al­reichs einzu­setzen, sondern diente auch als „school and trai­ning ground“ für ihre weitere Arbeit – wie es Edward Stein­hart in seinem Klas­siker zur Sozi­al­ge­schichte des Jagens in Kenia formu­lierte. Der Jagd­druck auf Wild­tiere hatte sich seit dem Zweiten Welt­krieg aufgrund von Nahrungs­mit­tel­knapp­heit verstärkt, und so suchte die Kolo­ni­al­ad­mi­nis­tra­tion nach Wegen, um das Jagen und Fallen­stellen in Natur­schutz­ge­bieten einzu­dämmen. Aus obrig­keit­li­cher Sicht schienen die gegen die Mau-Mau ange­wandten Kriegs­tak­tiken dafür gut geeignet.

Als sich Mitte der 1950er Jahre eine baldige Nieder­schla­gung der Mau-Mau abzeich­nete, baute die kenia­ni­sche Natio­nal­park­be­hörde zum Vorgehen gegen Wilderer die über 100 Mann starke „Voi Field Force“ auf, geleitet von Vete­ranen der Aufstands­be­kämp­fung und ausge­stattet mit weit­rei­chenden Befug­nissen. Einge­setzt zunächst im Tsavo-Nationalpark galt sie mit ihren poli­zei­li­chen, mili­tä­ri­schen und geheim­dienst­li­chen Methoden unter Natur­schüt­zern als Erfolgs­mo­dell. Für nach­fol­gend gegrün­dete Anti-Wilderei-Einheiten in Ostafrika, die nach dem Ende der briti­schen Herr­schaft mithilfe der Welt­bank ausge­baut wurden, diente die „Voi Field Force“ als Vorbild.

Für Turner fiel das Ende des Kriegs 1956 mit dem Gewinn der erst­mals verlie­henen „Shaw & Hunter Trophy“ zusammen, einer Art Oscar für Groß­wild­jäger. Turner verband dies mit einer lebens­ver­än­dernden Entschei­dung: Er heira­tete seine Freundin Kay Tubb, zog mit ihr ins benach­barte Tangan­jika und trat dort als Wild­hüter in die kolo­niale Natio­nal­park­be­hörde ein. Damit bestand seine Haupt­auf­gabe nun nicht länger in der Beja­gung, sondern im Schutz von Wild­tieren. Zugleich über­nahm er mit der Zustän­dig­keit für die west­liche Seren­geti erst­mals eine Leitungs­funk­tion. An die mili­tä­ri­sche Haltung, mit der Turner diese Aufgabe versah, erin­nerte sich der ihm unter­stellte Park Ranger Tepilit ole Saitoti: „Ich und die anderen Ranger mussten jedes Mal salu­tieren, wenn Myles Turner ins Büro kam, er liebte das.“

Biogra­phi­sche und insti­tu­tio­nelle Genea­lo­gien der Gewalt

Anders als in seiner Zeit als Jäger der Wild­be­hörde patrouil­lierte Turner in der Seren­geti nicht allein, sondern – wie im Mau-Mau-Krieg erprobt – mit einer Schar von Männern, die er über­wie­gend aus aufge­grif­fenen Wilde­rern rekru­tierte. Der Fern­seh­jour­na­list Brown beglei­tete diese Einheit 1971 für zwei Wochen bei den Dreh­ar­beiten zu seiner Doku­men­ta­tion The Animal War. Auf ihn wirkten die Männer mit ihren zerlumpten Hosen, freien Ober­kör­pern und deko­rierten Gewehren, als seien sie aus dem Kriegs­film Apoca­lypse Now in die Wirk­lich­keit getreten. In verbeulten Land Rovern und zeit­weise mit Unter­stüt­zung eines rampo­nierten Klein­flug­zeugs streiften sie bis zu 16 Stunden täglich durch den Natio­nal­park, ange­trieben vom finster blickenden Turner, der verbit­tert über die „Bastarde“ lamen­tierte, die „sein“ Elfen­bein stehlen würden. Jeder Nicht-Weiße in der Seren­geti galt Turner als Wilderer.

„Wie ihr seid, so waren wir, und wie wir sind, so werdet ihr“: Das Ausüben von Gewalt mit jäge­ri­schen Tech­niken – zunächst gegen Tiere, dann gegen Aufstän­di­sche, schließ­lich gegen Wilderer – erweist sich als Konstante in Turners Biogra­phie. Mitnichten bedeu­tete sein Weg vom Jäger zum Wild­hüter einen voll­stän­digen Bruch mit seiner Vergangenheit.

Unter dem Schädel wies der Satz nicht nur auf die Vergäng­lich­keit mensch­li­chen Lebens hin, sondern bezeugte auch eine Gering­schät­zung schwarzen, afri­ka­ni­schen Lebens. Indem sich Turner des Hauptes des verstor­benen Afri­ka­ners bemäch­tigte und es in einem Ensemble mit Beute­ob­jekten zur Schau stellte, insze­nierte er sich als Krieger und führte den Toten entwür­di­gend vor. Damit arti­ku­lierte der Wild­hüter sein Selbst­ver­ständnis als solda­ti­scher Mann und stellte sich in die Tradi­tion kolo­ni­al­herr­schaft­li­cher Trophä­en­prä­sen­ta­tion. So wie der Mau-Mau-Krieg von Konflikten um den Zugriff auf Land getrieben war, so war der Krieg gegen die Wilderer von Konflikten um den Zugriff auf Wild­tiere getrieben. Turners entmensch­li­chende Sicht auf Afri­kaner, die gegen die kolo­ni­al­staat­liche Ordnung der Natur aufbe­gehrten, ist das Schlüs­sel­ele­ment zum Verständnis seines Umgangs mit dem von ihm aufge­fun­denen Toten.

Offen muss an dieser Stelle bleiben, an wen Turner seine Geste adres­sierte. An die ihm unter­stellten Park Ranger wie Tepilit ole Saitoti? An Männer, die in der Seren­geti wegen Wilderei verhaftet und womög­lich bis zur Über­gabe an die Polizei in Sero­nera fest­ge­halten wurden? An die Poli­tiker, Natur­schutz­funk­tio­näre und diversen Berühmt­heiten, die seiner­zeit öffent­lich­keits­wirksam die Seren­geti besuchten?

Mili­ta­ri­sie­rung des Naturschutzes

Es waren Akteure wie Turner, die die mit dem Natur­schutz befassten Insti­tu­tionen Ostafrikas in den zukunfts­wei­senden Über­gangs­jahren zwischen spät- und nach­ko­lo­nialer Herr­schaft prägten und ihnen program­ma­tisch und narrativ die Agenda eines Kriegs gegen Wilderer vorgaben. Seinen Krieg konnte Turner nach der formalen Unab­hän­gig­keit Tangan­jikas im Dezember 1961 noch über ein Jahr­zehnt fort­setzen, da die Regie­rung von Präsi­dent Julius Nyerere unter dem Eindruck des nach­ko­lo­nialen Staats­zer­falls im benach­barten Kongo vor einem schnellen Austausch von behörd­li­chem Führungs­per­sonal zurück­schreckte. Nachdem 1972 die „Afri­ka­ni­sie­rung“ der Natio­nal­park­be­hörde schließ­lich auch Turner um seine Stel­lung brachte, wirkte er in Verwaltungs- und Bera­tungs­po­si­tionen weiterhin an der Steue­rung des Natur­schutzes in Tansania und über­dies in Malawi mit, schließ­lich auch wieder in Kenia. 1984 erlag Turner einem plötz­li­chen Herztod. Wie zuvor der von ihm gefun­dene Tote starb er in einem Natur­re­servat. Dort, in Maasai Mara, wurde er beer­digt – unter einem Feigen­baum auf einem Hügel und, soweit bekannt, mit seinem Schädel.