Es ist ein dickes Buch, das Disziplin verlangt: Die beinahe 1100-seitige Biographie von Emanuelle Loyer ist minutiös recherchiert und mit liebevoller Sorgfalt geschrieben, ohne vor dem 1908 geborenen Grandseigneur der Sozialanthropologie zu erstarren. Doch wie selten sonst habe ich mich jeden Tag auf meine 50 Seiten Ration gefreut. Erinnerungen kommen auf: Nach meinen eigenen Brasilienreisen hatte ichTraurige Tropen, das den Autor 1955 schlagartig über die engen Grenzen der Ethnologie hinaus berühmt gemacht hat, nochmals neu gelesen.
In Traurige Tropen machte Claude Lévi-Strauss (CLS) den einzigen Ausflug in das, was in der Ethnologie als ganzheitliches Verstehen bezeichnet wird. Er selbst, der teilnehmende Mensch, ist das Instrument des Verstehens und somit all seine Sinne, sein Verstand und seine Gefühle. Seine Reise in den Mato Grosso, die im Zentrum dieses Buches steht, war für CLS ein entscheidendes Erlebnis. Ich kenne die Gegend; 2014 war ich in Tres Lagoes, einer Wasserscheide im südlichen Mato Grosso. Doch während ich gegen Westen Richtung Bolivien reiste, ging CLS von da gegen den Norden der Rondon Telegrafenlinie entlang. Cândido Mariano da Silva Rondon baute anfangs der 1920er Jahre eine Telegrafenlinie bis nach Bolivien, sie wurde nie in Betrieb genommen, diente Reisenden als Wegweiser, einige Streckenabschnitte wurden von Indianern betreut.

CLS am Amazonas, ca. 1936; Quelle: welt.de
Das Mato Grosso ist genau so, wie er es in Traurige Tropen beschreibt, eine endlos karge und leere Steppe, ein Niemandsland. CLS und ich finden Menschen. Ich in Campo Grande auf einer Hochzeitsgesellschaft, in einer riesigen Stadt des modernen Brasiliens, er trifft auf eine Gruppe von zwanzig Nambikwara Indianer. Dabei war er ganz in der traditionellen Absicht der damaligen französischen Ethnologie auf eine Expedition aufgebrochen, um Objekte zu sammelt und diese ins Museum zu bringen. Einige kann man tatsächlich sehen, im Musée de l’homme in Paris. Eindrücklicher aber ist ein kleiner Teil der Fotos, die er erst auf Druck seiner Frau Monique 1994 unter dem Titel Saudades do Brasil veröffentlichte.
Späte Anerkennung
Die Nächte am Lagerfeuer der Nambikwara im Mato Grosso wurden ein zentrales Ereignis im Leben von CLS. Auch der akademische Höhepunkt 35 Jahre später, als er 1973 als erster Sozialwissenschaftler in die Académie française aufgenommen wurde, konnte ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen. Man darf vermuten, dass er zu einem der einflussreichster Theoretiker und Denker des 20. Jahrhunderts und dem melancholischen Gelehrten wurde, weil er danach nie mehr in eine ethnologische Feldforschung ging.
1949 und 1950, nachdem seine Habilitation Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft zwar angenommen, zwei Bewerbungen bzw. Nomination an das berühmte Collège de France aber abgewiesen wurden, musste er sich mit einem in der französischen Elite minder bewerteten Lehrstuhl an der Sorbonne abfinden. Er tat dies mit einer für seinen Ehrgeiz erstaunlichen Geduld und schrieb Traurige Tropen als literarisches Werk aus einer Art Trotz heraus, in einer selbst empfundenen wissenschaftlichen Verbannung.
Zehn Jahre muss CLS warten und schmollen, bis er 1958 endlich an das Collège de France gewählt wird, mit einem speziell für ihn eingerichteten neuen Lehrstuhl für Sozialanthropologie. Er gründet auch umgehend das Laboratoire d’anthropologie sociale (LAS) und die Zeitschrift L’homme, besorgte für sich und seine Studenten die tonnenschweren Human Relation Area Files der Yale Universität, die keine Universität ausserhalb der USA bis dahin besass, und wollte Sozialwissenschaft vom Punkt Null aus neu starten.

CLS bei den Nambikwara; Quelle: obenedito.com.br
Phänomenal war seine Antrittsvorlesung, in der er die erhaltene und so ehrgeizig angestrebte akademische Ehre und den wissenschaftlichen Elan der universitären Forschung sogleich relativierte: „Gegenüber dem Theoretiker muss der Beobachter das letzte Wort haben […] und gegenüber dem Beobachter der Eingeborene“. CLS, längst ein in der Studierstube arbeitender Ethnologe geworden, bestand für seine Studenten auf der Arbeit im Feld, die so fundamental sei wie die Lehranalyse für einen angehenden Psychoanalytiker. Die Sozialanthropologie gedieh prächtig und lief sogar dem Fach Geschichte als erste Sozialwissenschaft den Rang ab. CLS führte ein kleines Unternehmen mit 59 Angestellten, einen ‚Think tank‘, der den Gesellschaften Fragen stellen und keine Artefakte mehr sammeln wollte. Er beschaffte sich Mittel für eine freie Forschung und antwortete auf die Frage seiner Sponsoren, was das denn bringen soll, wie folgt: „Wichtiger noch, als dass ihr uns die Mittel gebt für unsere Forschung, ist, dass ihr nichts von uns verlangt.“
Selbst in der angelsächsischen Anthropologie, die insbesondere die Verwandtschaftsethnologie als ihre ureigenste Domäne betrachtete, wird er respektiert und geehrt, seine Elementaren Strukturen der Verwandtschaft gewinnen noch in der radikalen Ablehnung des renommierten britischen Ethnologen Edmund Leach an neidvoller Bewunderung: „A splendid failure“!
Ruhm, Rückzug und radikale Kritik
Während CLS und sein Strukturalismus in den 60er Jahren immer einflussreicher wurden, wird er selber immer ruhiger und entzieht sich seiner eigenen Popularität. Die ungeheure Arbeitsamkeit an der Mythologiques, deren vier Bände und 2000 Seiten zwischen 1964 und 1971 entstanden, ist geradezu eine Flucht vor gesellschaftlichen Verpflichtungen und der damit verbundenen Langeweile. Sein Schweigen bei sozialen Anlässen war legendär.
Aber er war ein engagierter Lehrer. Am Morgen war er immer im LAS anzutreffen, er kümmerte sich fachlich und organisatorisch liebevoll um sein Institut und seine Studenten. Dennoch musste er den Umgang mit ihnen gleichsam ritualisieren, weil natürlich alle den Meister sehen wollten; auch der Zugang zu seinem Seminar ist einem auserlesenen Fachkreis vorbehalten. Man konnte ihn jedoch weiterhin an seinen zwei Vorlesungen als glänzenden Redner improvisierend erleben. Er machte sich dabei selbst zu einem Mythos.
Trotz seiner radikalen Kritik am Westen wurde CLS kein 68er. Nicht nur weil ihm sein Collège de France heilig war; er begründete seine Abwesenheit bei den Protesten mit den Worten „weil man keine Bäume ausreisst, um Barrikaden zu bauen: Bäume sind Leben, das hat man zu respektieren.“
Und doch demokratisierte er sein LAS weiter als jeder andere ein Institut am Collège. Seiner Meinung nach funktioniere Demokratie nur in kleinen Gruppen, weil da die persönlichen Beziehungen ideologische Exzesse dämpften. Dem Postulat des Humanismus der jungen Generation stellte er den Pessimismus seiner ethnologischen Erfahrung und Enttäuschung entgegen. Junge, erfolgreiche Ethnologen wie Pierre Clastres, die eine politische Ethnologie forderten, waren zunehmend vom Strukturalismus enttäuscht und wandten sich ab. CLS setzte sich etwa auch nicht bedingungslos für die entkolonisierten Staaten ein, er misstraute ihnen noch mehr als den Kolonialstaaten. Doch auch in der ‚Zivilisation‘ sah er sich nie als Arzt, sondern als Teil einer kranken Zeit.
Er weigerte sich, ein linker Intellektueller zu sein. Sich jeglicher Vereinnahmung zu entziehen, war für ihn Programm, auch wenn er hin und wieder dem intellektuellen Establishment einen Nadelstich versetzte. Die Marxisten brachte er mit seiner ‚Anti-Historizität‘, die keine Transformationsgesetze anerkennen will, zur Weissglut. Doch er blieb dabei und antwortete lapidar: Die Indianer hätten wie die Griechen mit Philosophie beginnen können, sie haben es nicht getan. Es gibt keine Gesetzmässigkeit. Wir wissen nicht, wieso es die Griechen taten und die Indianer nicht.
Erst langsam und leise wurde der Visionär hinter dem geschichtslosen Strukturalisten erkennbar, in einem Satz von ihm auf den Punkt gebracht: „Es würde einen modernen Geist erstaunen, welche Anstrengungen wilde Gesellschaften unternehmen, dem Wandel zu widerstehen.“ – Ich würde diesen Satz in der Nacht auf Häuserwände sprayen, wenn damit zu hoffen wäre, die absurden Wachstumsideologen zum Nachdenken zu bringen.
Was bleibt?
Das mangelnde Echo und der fehlende Erfolg von Mythologiques enttäuschten den ambitionierten Forscher. CLS erhoffte sich nicht weniger als eine epochemachende, ganzheitliche Theorie über alle Gesellschaften hinweg, so wie sie Einstein in der Physik für das Universum formuliert hatte. Er konnte dieses Versprechen nicht einlösen, und er erklärte daraufhin sein Lebenswerk für beendet und vollbracht, obwohl er noch viel schreiben wird.
Auf seinem persönlichen Höhepunkt, als er 1973 in die Académie française aufgenommen wurde, bei den ‚Unsterblichen‘ also, sank der Stern des Strukturalismus. In den 80er Jahren besuchte CLS fünfmal Japan und schrieb noch drei Bücher, die er seine kleine Mythologiques nannte. Nachdem er mit dem Marxismus gebrochen hatte, brach er nun auch mit der Psychoanalyse. Er machte sich über sie lustig: Sie verstehe nicht mehr von den Mythen als die Mythen selber – obwohl er sich in seiner grossen Mythologiques als Zuhörer und Interpret von Mythen noch die psychoanalytische Arbeitsweise zu eigen gemacht hatte. Er selber sprach dort davon, dass jede Interpretation nur eine neue Version des Mythos selbst ist und blosse Transformation in ein neues Zeichensystem, bei der Prozesse wie ‚Verdichtung‘ und ‚Verschiebung‘, Begriffe der Psychoanalyse also, am Werke seien.
Allein, was bleibt? Ein wichtiges Ergebnis des Strukturalismus in der Ethnologie war es, eine Gegenposition zum Eurozentrismus und naiven Evolutionismus seiner Zeit aufgebaut zu haben – und auch gegen das marxistische Geschichtsverständnis und den philosophischen Existenzialismus. CLS‘ Pessimismus gegenüber dem zivilisatorischen Fortschritt ist in seiner Radikalität unerreicht. Um seine Haltung zu den ‚Wilden‘ zu begreifen, kann und sollte man den Essay „Von den Kannibalen“ von Montaigne lesen. Diese grossartige ‚Verteidigungsschrift‘ war für CLS zeitlebens eine Art Leuchtfeuer, das die Sozialanthropologie zu leiten hätte, nicht nur in der Empathie für die Indianer, auch in der Selbstkritik gegenüber der eigenen Zivilisation.
Für mich persönlich am eindrücklichsten ist, was im Bändchen ‚Primitive‘ und ‚Zivilisierte‘ nach Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen CLS und Georges Charbonnier nachzulesen ist: Wilde Gesellschaften sind nicht unfähig für Entwicklung, sie widerstehen ihr, weil sie die Einheit dem inneren Konflikt vorziehen. Sie lehnen den Wettbewerb und den Mehrheitsbeschluss zugunsten der Einmütigkeit ab und wollen kein historisches Werden wagen. CLS und die Ethnologie insgesamt haben eindrücklich gezeigt, dass der ‚Homo oeconomicus‘ nicht alles Handeln bestimmt – eine Erkenntnis, derentwegen ein Ökonom 2017 den Nobelpreis verliehen bekam.
Vielleicht erklärt sich der Strukturalismus am Schluss am besten durch das Ereignis, das seinen berühmtesten Protagonisten CLS mit seinem Eintritt in die konservative, elitäre Institution der Académie française unsterblich machte: Er unterwarf sich, genau so wie seine ‚Wilden‘, einem traditionellen Aufnahmeritual und stellte deren Initiationsriten als zwei gleichbedeutende gesellschaftliche Ereignisse nebeneinander…
Erwähnte Literatur:
Emmanuelle Loyer, Lévi-Strauss, Eine Biographie, Berlin: Suhrkamp 2017
Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981 (Paris 1949)
Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt, M: Suhrkamp 2008 (Paris 1955)
Claude Lévi-Strauss, Georges Charbonnier, „Primitive“ und „Zivilisierte“, Zürich: Verlag der Arche 1972
Claude Lévi-Strauss, Brasilianisches Album, München: Hanser 1995 (Saudades Do Brasil, Paris 1994)