Millionen Menschen in aller Welt nahmen am 21. Januar am „Women's March“ teil. Mit geschätzten fast drei Millionen Teilnehmenden in den USA schrieb der March amerikanische Geschichte. Christine Loriol reiste von Zürich nach Washington. Weil es nicht anders ging. Ein persönlicher Bericht.

  • Christine Loriol

    Christine Loriol war Lokal­radio­journalistin, als in Berlin die Mauer fiel. Sie hat später jahre­lang als freie Journa­listin für zahlreiche Print­medien geschrieben und ist seit 20 Jahren als Texterin , Kommunikations­beraterin und Coach selbständig.

Am Tag danach war der „pussyhat“ bereits ein Zeichen. Jeder, der mir begeg­nete, als ich am Morgen kurz aus meinem Hotel­zimmer trat, schenkte mir ein Lächeln. Und innert Minuten waren wir im Gespräch. Mabel und Bert aus Miami verab­schie­deten mich danach mit einer innigen, langen Umar­mung, als wären wir alte Freunde. Ebenso wie Amy, Kristen und Ian aus Port­land, die ich am Tag vor dem March auf der Strasse antraf. Oder Melissa aus Wisconsin, die in der Menschen­menge eine Weile neben mir stand. Und die ältere, kleine Dame, die einfach ihre Arme um meine Taille legte und mich – oder sich? – lange fest­hielt, nach dem ich sagte: „…from Zurich, Switz­er­land.“ Alle, restlos alle, denen ich begeg­nete, sagten: „Thank you for coming. Thank you for being with us“. Wir hatten einander berührt. So muss das ja irgendwie gedacht gewesen sein mit diesem „alle Menschen werden Brüder“ – bzw. Schwestern.

Geboren 1960, war ich zu jung, um Martin Luther Kings „I have a dream“-Rede mitzu­be­kommen. Die grossen Viet­nam­pro­teste kenne ich nur aus dem Kino. Und als ich im November 1989 bei „Radio Zürisee“ Nach­richten schrieb, wusste ich zwar, dass gerade „Geschichte passiert“; aber ich kam nicht einmal auf die Idee, einfach nach Berlin zu fahren. Das reut mich bis heute.

„Donald, das reicht! Stop it, sit down!“

Clinton vs. Trump, second dabate; Quelle: dw.com

Den ameri­ka­ni­schen Wahl­kampf habe ich von dem Tag an ernst­haft verfolgt, als Donald Trump offi­zi­eller Kandidat wurde. Je mehr Grenzen er über­schritt, desto inten­siver habe ich mich damit befasst. Mein persön­li­cher Tief­punkt war das zweite TV-Duell gegen Hillary Clinton. Wie er um sie herum­schlich, hinter ihrem Rücken schniefte und schlurfte, immer viel zu nahe – ich hätte sie beschützen wollen. Ha! Und wie er dann hinter diesem hohen Stuhl stand, während sie über Politik sprach, die Lehne umfasste und mit dem Unter­körper hin und her wippte, selbst­ver­gessen. Einer, der sich einfach nimmt, worauf er ein Anrecht zu haben glaubt. Es war kaum auszu­halten. Und keiner sagte etwas! Auch sie nicht, Hillary Clinton. Sie hätte ihn wie einen unge­zo­genen Jungen behan­deln sollen oder wie einen kleinen Hund und sagen: „Donald, das reicht jetzt. Stop it, sit down!“ Aber wer kann das schon in einer solchen Situation?

Michelle Obama, Rede in Manchester, New Hamp­shire, 13.10.2016; Quelle: esquire.com

Später ist im Internet ein Tran­skript dieser TV-Aufnahme aufge­taucht. Ein tragi­sches Doku­ment des Unter­bre­chens und Behaup­tens, des „Mans­plai­ning“ und „Manter­rupting“, der Verach­tung, des Unan­stands. Beim Lesen wird einem schlecht. Danach kam noch vieles, und zwar fast täglich. Und dann die „grab them by the pussy“-Geschichte. Und Michelle Obamas Rede. Ich hörte sie mit Herz­klopfen, dann mit Tränen und war dankbar. Endlich sprach es jemand für mich aus.

Die Wahl­nacht verbrachte ich auf der Elec­tion Viewing Party der US-Botschafterin für die Schweiz, Suzi LeVine. Ich hatte eine Freundin dazu einge­laden, gewis­ser­massen als Geste des „female empower­ment“ in einem histo­ri­schen Moment. Danach waren wir nicht „partner in crime“, sondern „partner in tears“.

Quelle: womensmarch.com

Vier Tage später, am 13. November, es war am Sonn­tag­nach­mittag, buchte ich meinen Flug. Die Idee des „Women’s March on Washington“ war unmit­telbar nach der Wahl auf Face­book aufge­taucht. Das war genau, was ich brauchte. Gewis­ser­massen für mein Seelen­heil. Dass die Sache so gross werden könnte, war nicht voraus­zu­sehen. Die ganze Zeit – während des Wahl­kampfes und auch nach der Wahl­nacht – hatte ich mich gefragt, warum ich Trump, seinen Sexismus und seine Frau­en­feind­lich­keit so persön­lich nehme. Ich bin ja nicht einmal ameri­ka­ni­sche Bürgerin. Jetzt weiss ich es. Und ich weiss auch: Ich bin nicht die einzige.

Die Schweiz, 1971

Abstim­mungs­plakat 1971; Quelle: fm1today.ch

Ich war schon auf der Welt, als in der Schweiz die Frauen 1971 das Stimm- und Wahl­recht bekamen. Im Februar 2016, kurz vor der Abstim­mung zur Durch­set­zungs­in­itia­tive, sah ich im Kino den Film Souf­fra­gette. Die Geschichte nahm mich schon in den ersten 40 Minuten mit, weil ich gemein fand, wie die Kämp­fe­rinnen fürs Frau­en­stimm­recht behan­delt wurden, und so ernied­ri­gend. Und dann streifte mich während des Films der Gedanke: „Das ist bei uns ja auch noch nicht so lange her. Wäre heute 45 Jahre früher, hätten am nächsten Sonntag der Köppel, der Glarner, der Hess, mein Bruder, meine männ­li­chen Freunde, Kollegen, Kunden… alle hätten sie abstimmen dürfen. Und. Ich. Nicht!“ Ich weinte Tränen der Wut. Darüber, dass es eine Zeit gab, in der ich offi­ziell weniger Wert war als alle Männer, die ich kenne, und ich diese Zeit selbst erlebt hatte. Wenn auch nur als Mädchen. Ich ging nach­hause, den Film konnte ich nie zu Ende schauen. Aber dieses „nur als Mädchen“-Thema blieb. Meine Gross­mutter väter­li­cher­seits hatte ihren dies­be­züg­li­chen Unmut ja schon bei meiner Geburt – als erstes Enkel­kind – deut­lich geäus­sert. Mein Vater (merci, Jules!) hat deswegen erst recht für mich Posi­tion bezogen. Zum Glück bin ich mit dem Satz „Du kannst das auch“ aufge­wachsen – mein persön­li­ches „Yes, we can“ gewissermassen.

Dieses Erlebnis fand noch einmal Reso­nanz in mir während des US-Wahlkampfes. Donald Trump und Hillary Clinton. Und was man ihr vorwarf. Likea­bi­lity! Stamina! Ihren Mann, und dass sie ihn nicht verlassen hat. Ihre Stimme. Ihren Ehrgeiz. Und nicht zuletzt: ihre Kompe­tenz. Das alles drückte im Wahl­kampf und nach der Wahl­nacht sozu­sagen auf den Knopf meines „Urfeh­lers“. Den Fehler, für den ich nichts konnte und an dem sich nichts ändern liess: Mein Geschlecht. Deshalb wollte und musste ich dabei sein. Es war mein Thema. Es war das Thema meiner Zeit. Und ausserdem wollte ich mir als alte Frau dereinst nicht sagen müssen: „Ich habe es kommen sehen und verschlafen.“ Ich wuchs im Wissen auf, unsere Demo­kratie sei etwas so Selbst­ver­ständ­li­ches und Unum­stöss­li­ches wie das Matter­horn. Gegeben. Oder von mir aus: gott­ge­geben. Schon seit einiger Zeit lerne ich, dass wir ihr auch in der Schweiz Sorge tragen müssen (Danke, Jakob Tanner!). Und dass mit „wir“ auch ich gemeint bin.

Unter Hundert­tau­senden

Women’s March, Washington, 21.1.2017; Quelle: twitter.com

Women’s March, Washington, 21.1.2017; Foto: Chris­tine Loriol

Zwischen der Wahl­nacht und dem Tag der Inau­gu­ra­tion ging es weiter mit Trumps Grenz­über­schrei­tungen – und mit den Vorbe­rei­tungen auf den Women’s March. Mehr und mehr Menschen, mehr und mehr Frauen, werden sich gedacht haben: „Jetzt reicht’s.“ Ich hielt mich via Face­book auf dem Laufenden. Der Women’s March wurde orga­ni­sa­to­risch rasch profes­sio­na­li­siert. Das Ding wurde gross und grösser. Die Medien griffen das Thema auf. Trump twit­terte Moti­va­tion zur Teil­nahme. Dann entdeckte ich das „pussy­hat­pro­ject“. Ich fand es witzig und konspi­rativ: poli­ti­sches Stri­cken! Und es hatte genau gleich begonnen wie der Women’s March: mit der Idee zweier Frauen und deren rasender Verbrei­tung über die sozialen Medien. Ein Meer von „pussyhats“ in Pink war ihr Traum, von dem ich mich anste­cken liess und nach geschätzten 30 Jahren zum ersten Mal wieder Wolle und Strick­na­deln kaufte. Das Resultat war über­wäl­ti­gend, ebenso wie der 21. Januar und der March. Die Bilder gingen um die Welt: „A sea of pink hats.“

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Women’s March, Washington, 21.1.2016; Quelle: theglobeandmail.com

Hundert­tau­sende, manche spre­chen von einer halben Million Frauen und sie unter­stüt­zenden Männern, strömten Rich­tung National Mall. Verschie­dene Gene­ra­tionen, Geschlechter, Ethnien, Natio­na­li­täten, Reli­gionen. Sie waren besorgt, wütend und sehr entschlossen. Und dennoch waren sie alle – alle! – fried­lich und freund­lich mitein­ander. Und witzig. Sie waren wütend wegen der Themen, die sie beschäf­tigten. Aber sie waren rück­sichts­voll und aufmerksam. Entschul­digten sich, wenn sie im Gedränge jemanden anstiessen, reichten die Hand, wenn jemand auf ein Mäuer­chen steigen wollte. Poli­zisten, die sich durch die Menge wühlten, wurden beklatscht und erhielten ein „Thank you for your service!“ hinterhergerufen.

Die Menge pfiff und buhte, als eine Rednerin Trumps mögliche Erzie­hungs­mi­nis­terin Betsy deVos erwähnte. Sie liess sich anpeit­schen und aufput­schen von America Ferrara und Ashley Judd. Aber die Menschen kümmerten sich um dieje­nigen, die neben ihnen standen. Die Rednerinnen-Liste war sehr lang. Die „Rally“ dauerte mehr als vier Stunden. Die Reden waren emotional, wütend, intel­lek­tuell, poli­tisch, messer­scharf, berüh­rend. Ein 12jähriges mexi­ka­ni­sches Mädchen sprach eloquenter als Trump, die grosse Femi­nistin Gloria Steinem und die inhalt­lich über­ra­gende Akti­vistin Angela Davis lieferten Denk­futter vom Feinsten . Doku­men­tar­filmer Michael Moore hatte eine Hand­lungs­an­lei­tung für den konkreten Wider­stand vorbe­reitet, damit es nicht beim March bliebe. Das Line-up war beein­dru­ckend, auch auf der Bühne:

https://www.youtube.com/watch?v=EWqeljCZTPw

https://www.youtube.com/watch?v=z_JpvwlNI1M

In Los Angeles sollen 750’000 Menschen demons­triert haben und keine einzige Person verhaftet worden sein. In Washington war es genau so. Die einzige Aggres­si­vität, die mir persön­lich begeg­nete, fand ich im Internet: in den Kommen­taren zu Medi­en­be­richten über den March. Von Menschen, die nicht dabei waren. Von Menschen, die «pussyhats» erbärm­lich fanden oder den March für eine Trotz­re­ak­tion und für unde­mo­kra­tisch hielten. „Get over it“, wurde uns zuge­rufen, Trump sei ja demo­kra­tisch gewählt. „Get over us“ war die eindrück­liche Antwort in Washington. „This is what demo­cracy looks like!“ rief die Menge. Und immer wieder auch: „Yes, we can!“

pussy hat; Foto: Chris­tine Loriol

Ich habe mein pinkes „pussyhat“-Mützchen am Schluss noch zufrieden vors Capitol getragen und ein letztes Foto gemacht. Froh, hinge­fahren zu sein. Und irgendwie dankbar. Das Schönste war vermut­lich: Zuge­hö­rig­keit. Nicht nur zu wissen, sondern auch zu erfahren, zu erleben und in unver­gess­li­chen Bildern verin­ner­li­chen zu können, dass ich nicht allein bin auf der Welt und auch keine Rand­gruppe. Das Gefühl, richtig zu sein und am rich­tigen Ort. Ich habe viel erfahren, bekommen und mitge­nommen. Und ich konnte viel­leicht auch einiges geben, weil ich da war und den Weg nach Washington gemacht hatte. Warum ich das tat, hatte einen persön­li­chen Auslöser. Aber es ging auch über mein Eigenes hinaus. Es ist mir bewusst, dass ich selber eine privi­le­gierte Frau bin. Eine Bewe­gung zu unter­stützen, die sich für alle Frauen einsetzen will, war mir wichtig. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Sister­hood. Wir Frauen haben Geschichte geschrieben. Und das war schon mal ein guter Anfang. „And now: let’s get shit done!“ wie eine meiner Freun­dinnen jeweils sagt. Nicht nur in Washington. 

Wenn ich zurück bin, stricke ich für Claudia, Marcy und Fran­ziska auch noch ein Käpp­chen. Ich weiss jetzt ja wieder, wie es geht.