Das gesellschaftliche Unbehagen an der Digitalisierung liest sich wie ein Re-Enactment der Bürokratiekritik des 19. Jahrhunderts. Dies ist keine beruhigende Nachricht, denn die historischen Parallelen von Bürokratie- und Digitalisierungskritik zeigen eine verzerrte Sichtweise, die das Digitale angstvoll romantisiert.

  • Florian Hoof

    Florian Hoof ist Medien- und Filmwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der DFG-Kollegforschungsgruppe Medienkulturen der Computersimulation, Universität Lüneburg, sowie Privatdozent an der Goethe-Universität Frankfurt. 2020 erschien von ihm bei Oxford University Press "Angels of Efficiency A Media History of Consulting", 2022 erscheint "Slippery Media. The Digital Circulation of Moving Images".

Digi­ta­li­sie­rung ist überall. Mit der Digi­ta­li­sie­rung werden grund­le­gende gesell­schaft­liche Verän­de­rungen verbunden, so der Tenor der Enquete-Kommission Internet und digi­tale Gesell­schaft des deut­schen Bundes­tags. Sie berühren verschie­denste Themen, etwa den Daten­schutz, die Digi­ta­li­sie­rung der Schwei­ne­zucht oder die Mani­pu­la­tion demo­kra­ti­scher Willens­bil­dung durch Big-Data-Unternehmen wie Cambridge Analy­tica. Digi­ta­li­sie­rung ist überall und wenn das nicht der Fall ist, etwa im Gesund­heits­wesen, bei der Pande­mie­be­kämp­fung oder in den Schulen, wird über ihr Nicht­vor­han­den­sein geklagt.

Ganz anders die Situa­tion am welt­größten Inter­net­kno­ten­punkt Frank­furt am Main. Hier haben Rechen­zen­tren den Flug­hafen als größten Strom­ver­brau­cher der Stadt abge­löst und verdrängen zuneh­mend ange­stammte Industrie- und Gewer­be­un­ter­nehmen. Aus Sorge mit einem zu einsei­tigen Indus­triemix als digi­tales Flint (Michigan), zu enden, geht die Stadt nun mit verän­dertem Planungs­recht gegen den Bau von Rechen­zen­tren in Gewer­be­ge­bieten vor. Auch solche Facetten fallen unter den Begriff der Digitalisierung.

Dass es die Digi­ta­li­sie­rung als bestim­menden Treiber gesell­schaft­li­cher Trans­for­ma­tionen gibt, ist einer der wenigen Allge­mein­plätze, bei dem eine durch Echo­kam­mern und Filter­blasen geteilte Gesell­schaft noch zusam­men­kommt. Ob Fluch oder Segen: darin gehen die Meinungen zwar weit ausein­ander. Doch an das mit diesen Trans­for­ma­tionen verbun­dene Unbe­hagen schließt gleich­wohl eine breite Kritik an der Digi­ta­li­sie­rung an – eine Kritk, die sich aus histo­ri­scher Perspek­tive gar wie ein Re-Enactment der Büro­kra­tie­kritik des 19. Jahr­hun­derts liest. Das ist, wie man sehen wird, keine beru­hi­gende Nachricht.

Kritik der Digitalisierung

Die Kritik an der Digi­ta­li­sie­rung beginnt bei den Auswir­kungen auf die Arbeits­welt und der Prognose, dass es diesmal nicht nur die einfa­chen, schlecht bezahlten Tätig­keiten treffe. Zum digi­talen Lumpen­pro­le­ta­riat der dann arbeits­losen LKW-Fahrerinnen, so raunt es, werden auch bislang gut bezahlte akade­mi­sche Berufe wie Anwälte oder Steu­er­be­ra­te­rinnen stoßen. Konkrete Gefahren werden beschrieben, etwa das Geschäfts­mo­dell der Social-Media Konzerne, und die nicht ganz neuen Erkenntnis, dass Hass sich schon immer sehr gut verkauft hat. Mit der Aussage, Daten seien das neue Öl, genau so dreckig, Ressourcen verschwen­dend und Mono­pole bildend, gerät außerdem vermehrt der Ressour­cen­ver­brauch digi­taler Infra­struk­turen in den Fokus.

Dazu kommt wissen­schaft­liche Kritik an der Digi­ta­li­sie­rung. Der Medi­en­wis­sen­schaftler Ted Stri­phas diagnos­ti­ziert eine „algo­rith­mi­sche Kultur“, verbunden mit einer Priva­ti­sie­rung und Eliti­sie­rung von Kultur. Der Sozio­loge Armin Nassehi sieht digi­tale Daten als Medien der verstärkten Verknüp­fung, die durch ihre Viel­zahl an mögli­chen Mustern verun­si­chern. Kultur­wis­sen­schaft­liche Deutungs­ver­suche sehen einen zerstö­re­ri­schen Platt­form­ka­pi­ta­lismus, der auf direktem Wege in ein digi­tales Fin de Siècle abbiegt. Aus den diskreten grauen Compu­ter­kisten, so die These des program­ma­tisch beti­telten Sammel­bands Your Computer is on Fire, ist ein veri­ta­bler Flächen­brand entstanden, der in Form des Smart­phones bis in die Hosen­ta­sche und von dort per mood-tracking weiter in das Gehirn reicht. Den unter­schied­li­chen Posi­tionen ist gemein, dass als ein Grund­pro­blem der Digi­ta­li­sie­rung die „Mathe­ma­ti­sie­rung“ der Welt diagnos­ti­ziert wird, also die Einfüh­rung eines forma­li­sierten Systems, das Vorgänge und Phäno­mene als Teil einer kohä­renten, skalier­baren und verre­chen­baren Logik fasst.

Exem­pla­risch für diese Perspek­tive steht der von der Mathe­ma­ti­kerin und vorma­ligen Finanz­da­ten­ana­lystin Cathy O’Neil verfasste Best­seller Weapons of Math Dest­ruc­tion über die Auswir­kungen mathe­ma­ti­scher Kalküle inner­halb digi­taler Netz­werke. Sie unter­sucht die Rolle mathe­ma­ti­scher Modelle als Grund­lage soge­nannter Systeme künst­li­cher Intel­li­genz und zeigt, dass bestimmte gesell­schaft­liche Gruppen durch algo­rith­mi­sche Verfahren, etwa das machine lear­ning zur auto­ma­ti­schen Analyse und Aufbe­rei­tung großer Daten­mengen, syste­ma­tisch diskri­mi­niert werden. Beispiels­weise bei der auto­ma­ti­schen Vorse­lek­tion in Bewer­bungs­ver­fahren oder bei der Boni­täts­prü­fung und Prämi­en­be­rech­nung in der Finanz- und Versicherungswirtschaft.

Einen ähnli­chen Zugang entwi­ckelt das eben­falls breit rezi­pierte Buch The Age of Surveil­lance Capi­ta­lism der Wirtschafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­lerin Shoshana Zuboff. Sie argu­men­tiert, dass unter den Bedin­gungen der Digi­ta­li­sie­rung mensch­liche Verhal­tens­muster nicht mehr nur – wie es Hork­heimer und Adorno für die fordis­tisch orga­ni­sierte „Kultur­in­dus­trie“ beschrieben – den Ausgangs­punkt stan­dar­di­sierter Produkte bilden. An die Stelle scha­blo­nen­hafter Stan­dards der Massen­pro­duk­tion, die noch als solche zu erkennen (und zu kriti­sieren) waren, tritt nun die mit den gegen­wär­tigen Rechen­ka­pa­zi­täten mögliche stufen­lose Skalier­bar­keit mathe­ma­ti­scher Modelle. Mensch­liche Verhal­tens­muster werden so zu Rohdaten für Verhal­tens­ma­ni­pu­la­tion. Etwa, wenn die Empfeh­lungs­sys­teme digi­taler Streaming-Plattformen eine auf Verhal­tens­daten basie­rende Auswahl von Filmen vorgeben und damit versu­chen den eigenen Geschmack zu treffen und ihn zugleich, in eine für den Platt­form­be­treiber lukra­tive Rich­tung lenken. Damit, so argu­men­tiert Zuboff, zielen digi­tale Verfahren nicht länger darauf ab, Infor­ma­ti­ons­flüsse über einzelne Subjekte zu auto­ma­ti­sieren, statt­dessen verla­gern sie sich in das Subjekt selbst und werden so zum unun­ter­scheid­baren Teil der Subjek­ti­vität. Was sie beschreibt, könnte als eine Form des digi­talen „nudging“ verstanden werden. Als „nudge“ bezeichnen die Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Richard Thaler und Cass Sunstein Stra­te­gien der indi­rekten Beein­flus­sung von Verhalten durch Entschei­dungs­ar­chi­tek­turen, die gewisse Hand­lungen begüns­tigen. Weil die dafür verant­wort­li­chen Algo­rithmen nicht sichtbar sind und zugleich das eigene zukünf­tige Verhalten anti­zi­pieren, geschieht diese Beein­flus­sung unbe­wusst. Eigen­mäch­tiges oder refle­xives Handeln, dass auf einer Unter­schei­dung von Subjekt und Umge­bung beruht, kommt durch eine solche digi­tale Welt­er­zeu­gung in Bedrängnis.

Déjà-vu der Digitalisierungskritik

Den unter­schied­li­chen Posi­tionen der Digi­ta­li­sie­rungs­kritik ist der Gedanke gemein, dass digi­tale Medien die gegen­wär­tige Situa­tion bestimmen. Folge­richtig, so lässt es sich zusam­men­fassen, ist die Kritik weniger auf konkrete Fälle, sondern auf die Muster, Struk­turen und Regeln der Digi­ta­li­sie­rung gerichtet. Diese stellen sich wie folgt dar: Die „tech­ni­sche Über­le­gen­heit“ neuer Medien der Daten­ver­ar­bei­tung versetzt sie in die Lage, große Daten­mengen über die Gesell­schaft nicht nur zu erfassen und zu spei­chern, sondern auch zu verwenden. Sie bewerk­stel­ligen dies mit starren, „rück­sichts­losen“ Abläufen, die ein „Verküm­mern“ des freien gesell­schaft­li­chen und kultu­rellen Lebens zur Folge haben. Diese Verküm­me­rung ist bereits in der Logik und den Modellen der Verfahren selbst ange­legt, in ihren vorein­ge­nom­menen und beschränkten Möglich­keiten, lebens­welt­liche Dinge adäquat abzu­bilden. Die neuen Systeme erfassen zwar, wie Indi­vi­duen sich entfalten, doch sie über­führen diese Erkenntnis in stan­dar­di­sierte Verhal­tens­muster. Sie zeichnen ein angeb­li­ches Abbild der Gesell­schaft, das durch die dahinter liegenden Prozesse scha­blo­nen­haft verzerrt ist.

Damit wird mensch­li­ches Verhalten und Erleben beständig durch solche Verfah­rens­ab­läufe „gegän­gelt“ und quasi vorweg­ge­nommen. Das Leben wird bere­chenbar und erschöpft sich in vorge­ge­benen Wahl­mög­lich­keiten, die keine freien Entschei­dungen mehr ermög­li­chen. Aus über­ge­ord­neter Perspek­tive erscheint diese Entwick­lung dann eben als eine Mathe­ma­ti­sie­rung der Welt, an deren Ende die Bere­chen­bar­keit und Mach­bar­keit sozialen Verhal­tens steht. Deren Viel­deu­tig­keit verschwindet und wird zur Ressource einer gera­dezu „barba­ri­schen Form“ der Macht­aus­übung degra­diert, wie Fried­rich Engels schreibt. Trotzdem erscheint die Situa­tion nicht hoff­nungslos: Trans­pa­ren­tere Verfahren, zivil­ge­sell­schaft­liche Orga­ni­sa­ti­ons­formen sowie die bestän­dige Über­prü­fung und Einhe­gung dieser neuen Instanzen durch recht­liche Rege­lungen können einen Ausweg aus den Zwängen weisen, die durch die neuen Medien der Daten­ver­ar­bei­tung aufge­kommen sind. Damit lassen sich Diskri­mi­nie­rung und „Herab­wür­di­gung“ von Teilen der Gesell­schaft verhin­dern und die posi­tiven Poten­ziale der neuen Verfahren für die Gesell­schaft nutzbar machen.

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Dieses Medley verschie­dener grund­le­gender kriti­scher Aussagen und Analysen gegen­über neuer Medien der Daten­ver­ar­bei­tung hat aller­dings einen kleinen, aber entschei­denden Makel. Es bezieht sich nicht auf die Digi­ta­li­sie­rung, sondern besteht ausschließ­lich aus wort­wört­li­chen und para­phra­sierten Posi­tionen der Büro­kra­tie­kritik des neun­zehnten Jahr­hun­derts. Es stammt also aus einem Zeit­raum, in dem es weniger um digital conve­ni­ence denn um hand­feste Revo­lu­tionen ging. Sie sind der Abhand­lung Ueber Bure­au­kratie von Robert Mohl, kurz­zeitig Reichs­jus­tiz­mi­nister und Abge­ord­neter der ersten Natio­nal­ver­samm­lung in der Frank­furter Pauls­kirche, entnommen und ergänzt durch Einlas­sungen von Max Weber, Fried­rich Engels und Karl Marx zur Büro­kratie. Lange vor den Über­le­gungen Alan Turings und der in den 1960er Jahren freudig prokla­mierten Mathe­ma­ti­sie­rung unserer Welt arti­ku­liert sich das Unbe­hagen gegen­über einem starren und zugleich mäch­tigen System als eine Kritik an den damit verbun­denen mathe­ma­ti­schen Modellen und Verfahren. Dabei schwingt immer die Sorge über mögliche Macht­ver­schie­bungen zwischen Staat und Indi­vi­duum mit, etwa Robert Mohls Warnung vor einer „Ueber­trei­bung der Staats­idee“ durch die Bürokratie.

Der Büro­kra­tie­be­griff geht auf Vincent de Gournay zurück, der Mitte des 18. Jahr­hun­derts mit bureau­cratie die „Herr­schaft der Beamten“ im Unter­schied zu anderen Staats­formen wie Demo­kratie oder Monar­chie bezeichnet. Der Begriff der Büro­kratie ist inso­fern seit jeher einge­bunden in poli­ti­sche Ausein­an­der­set­zungen und eine öffent­liche Debatte über die grund­sätz­liche Rolle, die einer zentralen Staats­ge­walt zukommen soll. Dies trifft ebenso auf den hoch poli­ti­sierten Begriff der Digi­ta­li­sie­rung zu. Auch inhalt­lich ähneln sich die Debatten, wenn bei Büro­kra­ti­sie­rung sowie bei Digi­ta­li­sie­rung die Tendenz zur Forma­li­sie­rung und Mathe­ma­ti­sie­rung als zentrales Problem benannt wird. Und wie im Falle der Büro­kra­tie­kritik des neuzehnten Jahr­hun­derts sind es auch gegen­wärtig Medien und Verfahren der Daten­ver­ar­bei­tung, die Ausgangs­punkt und Objekt von Kritik sind. Das Ausmaß an struk­tu­reller Ähnlich­keit, ja fast schon Austausch­bar­keit der Kritik an Büro­kratie und Digi­ta­li­sie­rung erstaunt.

Bruch und Konti­nuität der Digitalisierung

Doch welche Schlüsse lassen sich aus dieser Paral­lele ziehen? Wie lauten die Gründe für die Deckungs­gleich­heit in den Beschrei­bungen nicht nur der mögli­chen gesell­schaft­li­chen Auswir­kungen, sondern auch der vorge­schla­genen Mittel zu ihrer Eindämmung?

Eine eher beun­ru­hi­gende Erklä­rung könnte der Hinweis auf eine struk­tu­relle Ähnlich­keit von Kritik als Diskurs­for­ma­tion in Zeiten bevor­ste­hender radi­kaler gesell­schaft­li­cher Umbrüche liefern. Die kriti­schen Diskurse wären so als Reso­nanz­raum und Versuch einer gesell­schaft­li­chen Selbst­ver­ge­wis­se­rung zu sehen. Derart betrachtet ergibt sich eine mögliche Erklä­rung für die ange­führten Paral­lelen: Demnach stünden auf der Seite der Büro­kra­ti­sie­rungs­kritik der revo­lu­tio­näre Vormärz und die Indus­tria­li­sie­rungs­schübe des 18. und 19. Jahr­hun­derts mit der damit verbun­denen Trans­for­ma­tion einer Stän­de­ge­sell­schaft in eine bürger­lich verfasste Gesell­schaft. Auf der Seite der Digi­tal­kritik befände sich der gegen­wär­tige Umbruch hin zu einer „big data economy“, der die mit ihm verbun­denen gesell­schaft­li­chen Verän­de­rungen erst in Ansätzen zu erkennen gibt.

Eine andere, greif­ba­rere Erklä­rung lautet: Die Medien, auf die die Kritik damals wie heute abzielte, sind sich schlicht ähnlich; weil es sich in beiden Fällen um Verfahren der Groß­da­ten­ver­ar­bei­tung handelt. Eben deshalb weist die sie beglei­tende Kritik Ähnlich­keiten auf. So betrachtet wäre es nicht die schlech­teste Idee bei der Einord­nung und Genea­logie der soge­nannten Digi­ta­li­sie­rung weniger in das hard- und soft­ware­las­tige Regal der Compu­ter­ge­schichte zu greifen und Abstand davon zu nehmen, das Verkaufs­vo­ka­bular der Tech-Branche, von Algo­rithmus über Platt­form bis zum Begriff der künst­li­chen Intel­li­genz, zwar kritisch aber doch auch mit einem roman­ti­schen Grusel zu wieder­holen und damit zu stärken. Viel­mehr wäre es ein Versuch wert, Büro­kratie, Verwal­tung und Digi­ta­li­sie­rung als mitein­ander eng verbun­dene „sozio­ma­te­ri­elle Phasen“ zu verstehen, mit deren Durch­laufen gesell­schaft­liche Struk­turen repro­du­ziert werden. Ein Fokus, der nicht nur die tech­no­lo­gi­schen Brüche zwischen unter­schied­li­chen Modi der Daten­ver­ar­bei­tung, sondern auch deren durch­gän­gigen Charakter als zentrale Kultur­technik der Moderne ernst nimmt. Damit wird, und das wäre dann eine beun­ru­hi­gende Nach­richt für die „Digi­ta­li­sie­rung“, dieser Begriff eigent­lich überflüssig.