Digitalisierung ist überall. Mit der Digitalisierung werden grundlegende gesellschaftliche Veränderungen verbunden, so der Tenor der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestags. Sie berühren verschiedenste Themen, etwa den Datenschutz, die Digitalisierung der Schweinezucht oder die Manipulation demokratischer Willensbildung durch Big-Data-Unternehmen wie Cambridge Analytica. Digitalisierung ist überall und wenn das nicht der Fall ist, etwa im Gesundheitswesen, bei der Pandemiebekämpfung oder in den Schulen, wird über ihr Nichtvorhandensein geklagt.
Ganz anders die Situation am weltgrößten Internetknotenpunkt Frankfurt am Main. Hier haben Rechenzentren den Flughafen als größten Stromverbraucher der Stadt abgelöst und verdrängen zunehmend angestammte Industrie- und Gewerbeunternehmen. Aus Sorge mit einem zu einseitigen Industriemix als digitales Flint (Michigan), zu enden, geht die Stadt nun mit verändertem Planungsrecht gegen den Bau von Rechenzentren in Gewerbegebieten vor. Auch solche Facetten fallen unter den Begriff der Digitalisierung.
Dass es die Digitalisierung als bestimmenden Treiber gesellschaftlicher Transformationen gibt, ist einer der wenigen Allgemeinplätze, bei dem eine durch Echokammern und Filterblasen geteilte Gesellschaft noch zusammenkommt. Ob Fluch oder Segen: darin gehen die Meinungen zwar weit auseinander. Doch an das mit diesen Transformationen verbundene Unbehagen schließt gleichwohl eine breite Kritik an der Digitalisierung an – eine Kritk, die sich aus historischer Perspektive gar wie ein Re-Enactment der Bürokratiekritik des 19. Jahrhunderts liest. Das ist, wie man sehen wird, keine beruhigende Nachricht.
Kritik der Digitalisierung
Die Kritik an der Digitalisierung beginnt bei den Auswirkungen auf die Arbeitswelt und der Prognose, dass es diesmal nicht nur die einfachen, schlecht bezahlten Tätigkeiten treffe. Zum digitalen Lumpenproletariat der dann arbeitslosen LKW-Fahrerinnen, so raunt es, werden auch bislang gut bezahlte akademische Berufe wie Anwälte oder Steuerberaterinnen stoßen. Konkrete Gefahren werden beschrieben, etwa das Geschäftsmodell der Social-Media Konzerne, und die nicht ganz neuen Erkenntnis, dass Hass sich schon immer sehr gut verkauft hat. Mit der Aussage, Daten seien das neue Öl, genau so dreckig, Ressourcen verschwendend und Monopole bildend, gerät außerdem vermehrt der Ressourcenverbrauch digitaler Infrastrukturen in den Fokus.
Dazu kommt wissenschaftliche Kritik an der Digitalisierung. Der Medienwissenschaftler Ted Striphas diagnostiziert eine „algorithmische Kultur“, verbunden mit einer Privatisierung und Elitisierung von Kultur. Der Soziologe Armin Nassehi sieht digitale Daten als Medien der verstärkten Verknüpfung, die durch ihre Vielzahl an möglichen Mustern verunsichern. Kulturwissenschaftliche Deutungsversuche sehen einen zerstörerischen Plattformkapitalismus, der auf direktem Wege in ein digitales Fin de Siècle abbiegt. Aus den diskreten grauen Computerkisten, so die These des programmatisch betitelten Sammelbands Your Computer is on Fire, ist ein veritabler Flächenbrand entstanden, der in Form des Smartphones bis in die Hosentasche und von dort per mood-tracking weiter in das Gehirn reicht. Den unterschiedlichen Positionen ist gemein, dass als ein Grundproblem der Digitalisierung die „Mathematisierung“ der Welt diagnostiziert wird, also die Einführung eines formalisierten Systems, das Vorgänge und Phänomene als Teil einer kohärenten, skalierbaren und verrechenbaren Logik fasst.
Exemplarisch für diese Perspektive steht der von der Mathematikerin und vormaligen Finanzdatenanalystin Cathy O’Neil verfasste Bestseller Weapons of Math Destruction über die Auswirkungen mathematischer Kalküle innerhalb digitaler Netzwerke. Sie untersucht die Rolle mathematischer Modelle als Grundlage sogenannter Systeme künstlicher Intelligenz und zeigt, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen durch algorithmische Verfahren, etwa das machine learning zur automatischen Analyse und Aufbereitung großer Datenmengen, systematisch diskriminiert werden. Beispielsweise bei der automatischen Vorselektion in Bewerbungsverfahren oder bei der Bonitätsprüfung und Prämienberechnung in der Finanz- und Versicherungswirtschaft.
Einen ähnlichen Zugang entwickelt das ebenfalls breit rezipierte Buch The Age of Surveillance Capitalism der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Shoshana Zuboff. Sie argumentiert, dass unter den Bedingungen der Digitalisierung menschliche Verhaltensmuster nicht mehr nur – wie es Horkheimer und Adorno für die fordistisch organisierte „Kulturindustrie“ beschrieben – den Ausgangspunkt standardisierter Produkte bilden. An die Stelle schablonenhafter Standards der Massenproduktion, die noch als solche zu erkennen (und zu kritisieren) waren, tritt nun die mit den gegenwärtigen Rechenkapazitäten mögliche stufenlose Skalierbarkeit mathematischer Modelle. Menschliche Verhaltensmuster werden so zu Rohdaten für Verhaltensmanipulation. Etwa, wenn die Empfehlungssysteme digitaler Streaming-Plattformen eine auf Verhaltensdaten basierende Auswahl von Filmen vorgeben und damit versuchen den eigenen Geschmack zu treffen und ihn zugleich, in eine für den Plattformbetreiber lukrative Richtung lenken. Damit, so argumentiert Zuboff, zielen digitale Verfahren nicht länger darauf ab, Informationsflüsse über einzelne Subjekte zu automatisieren, stattdessen verlagern sie sich in das Subjekt selbst und werden so zum ununterscheidbaren Teil der Subjektivität. Was sie beschreibt, könnte als eine Form des digitalen „nudging“ verstanden werden. Als „nudge“ bezeichnen die Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und Cass Sunstein Strategien der indirekten Beeinflussung von Verhalten durch Entscheidungsarchitekturen, die gewisse Handlungen begünstigen. Weil die dafür verantwortlichen Algorithmen nicht sichtbar sind und zugleich das eigene zukünftige Verhalten antizipieren, geschieht diese Beeinflussung unbewusst. Eigenmächtiges oder reflexives Handeln, dass auf einer Unterscheidung von Subjekt und Umgebung beruht, kommt durch eine solche digitale Welterzeugung in Bedrängnis.
Déjà-vu der Digitalisierungskritik
Den unterschiedlichen Positionen der Digitalisierungskritik ist der Gedanke gemein, dass digitale Medien die gegenwärtige Situation bestimmen. Folgerichtig, so lässt es sich zusammenfassen, ist die Kritik weniger auf konkrete Fälle, sondern auf die Muster, Strukturen und Regeln der Digitalisierung gerichtet. Diese stellen sich wie folgt dar: Die „technische Überlegenheit“ neuer Medien der Datenverarbeitung versetzt sie in die Lage, große Datenmengen über die Gesellschaft nicht nur zu erfassen und zu speichern, sondern auch zu verwenden. Sie bewerkstelligen dies mit starren, „rücksichtslosen“ Abläufen, die ein „Verkümmern“ des freien gesellschaftlichen und kulturellen Lebens zur Folge haben. Diese Verkümmerung ist bereits in der Logik und den Modellen der Verfahren selbst angelegt, in ihren voreingenommenen und beschränkten Möglichkeiten, lebensweltliche Dinge adäquat abzubilden. Die neuen Systeme erfassen zwar, wie Individuen sich entfalten, doch sie überführen diese Erkenntnis in standardisierte Verhaltensmuster. Sie zeichnen ein angebliches Abbild der Gesellschaft, das durch die dahinter liegenden Prozesse schablonenhaft verzerrt ist.
Damit wird menschliches Verhalten und Erleben beständig durch solche Verfahrensabläufe „gegängelt“ und quasi vorweggenommen. Das Leben wird berechenbar und erschöpft sich in vorgegebenen Wahlmöglichkeiten, die keine freien Entscheidungen mehr ermöglichen. Aus übergeordneter Perspektive erscheint diese Entwicklung dann eben als eine Mathematisierung der Welt, an deren Ende die Berechenbarkeit und Machbarkeit sozialen Verhaltens steht. Deren Vieldeutigkeit verschwindet und wird zur Ressource einer geradezu „barbarischen Form“ der Machtausübung degradiert, wie Friedrich Engels schreibt. Trotzdem erscheint die Situation nicht hoffnungslos: Transparentere Verfahren, zivilgesellschaftliche Organisationsformen sowie die beständige Überprüfung und Einhegung dieser neuen Instanzen durch rechtliche Regelungen können einen Ausweg aus den Zwängen weisen, die durch die neuen Medien der Datenverarbeitung aufgekommen sind. Damit lassen sich Diskriminierung und „Herabwürdigung“ von Teilen der Gesellschaft verhindern und die positiven Potenziale der neuen Verfahren für die Gesellschaft nutzbar machen.
Dieses Medley verschiedener grundlegender kritischer Aussagen und Analysen gegenüber neuer Medien der Datenverarbeitung hat allerdings einen kleinen, aber entscheidenden Makel. Es bezieht sich nicht auf die Digitalisierung, sondern besteht ausschließlich aus wortwörtlichen und paraphrasierten Positionen der Bürokratiekritik des neunzehnten Jahrhunderts. Es stammt also aus einem Zeitraum, in dem es weniger um digital convenience denn um handfeste Revolutionen ging. Sie sind der Abhandlung Ueber Bureaukratie von Robert Mohl, kurzzeitig Reichsjustizminister und Abgeordneter der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, entnommen und ergänzt durch Einlassungen von Max Weber, Friedrich Engels und Karl Marx zur Bürokratie. Lange vor den Überlegungen Alan Turings und der in den 1960er Jahren freudig proklamierten Mathematisierung unserer Welt artikuliert sich das Unbehagen gegenüber einem starren und zugleich mächtigen System als eine Kritik an den damit verbundenen mathematischen Modellen und Verfahren. Dabei schwingt immer die Sorge über mögliche Machtverschiebungen zwischen Staat und Individuum mit, etwa Robert Mohls Warnung vor einer „Uebertreibung der Staatsidee“ durch die Bürokratie.
Der Bürokratiebegriff geht auf Vincent de Gournay zurück, der Mitte des 18. Jahrhunderts mit bureaucratie die „Herrschaft der Beamten“ im Unterschied zu anderen Staatsformen wie Demokratie oder Monarchie bezeichnet. Der Begriff der Bürokratie ist insofern seit jeher eingebunden in politische Auseinandersetzungen und eine öffentliche Debatte über die grundsätzliche Rolle, die einer zentralen Staatsgewalt zukommen soll. Dies trifft ebenso auf den hoch politisierten Begriff der Digitalisierung zu. Auch inhaltlich ähneln sich die Debatten, wenn bei Bürokratisierung sowie bei Digitalisierung die Tendenz zur Formalisierung und Mathematisierung als zentrales Problem benannt wird. Und wie im Falle der Bürokratiekritik des neuzehnten Jahrhunderts sind es auch gegenwärtig Medien und Verfahren der Datenverarbeitung, die Ausgangspunkt und Objekt von Kritik sind. Das Ausmaß an struktureller Ähnlichkeit, ja fast schon Austauschbarkeit der Kritik an Bürokratie und Digitalisierung erstaunt.
Bruch und Kontinuität der Digitalisierung
Doch welche Schlüsse lassen sich aus dieser Parallele ziehen? Wie lauten die Gründe für die Deckungsgleichheit in den Beschreibungen nicht nur der möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen, sondern auch der vorgeschlagenen Mittel zu ihrer Eindämmung?
Eine eher beunruhigende Erklärung könnte der Hinweis auf eine strukturelle Ähnlichkeit von Kritik als Diskursformation in Zeiten bevorstehender radikaler gesellschaftlicher Umbrüche liefern. Die kritischen Diskurse wären so als Resonanzraum und Versuch einer gesellschaftlichen Selbstvergewisserung zu sehen. Derart betrachtet ergibt sich eine mögliche Erklärung für die angeführten Parallelen: Demnach stünden auf der Seite der Bürokratisierungskritik der revolutionäre Vormärz und die Industrialisierungsschübe des 18. und 19. Jahrhunderts mit der damit verbundenen Transformation einer Ständegesellschaft in eine bürgerlich verfasste Gesellschaft. Auf der Seite der Digitalkritik befände sich der gegenwärtige Umbruch hin zu einer „big data economy“, der die mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen erst in Ansätzen zu erkennen gibt.
Eine andere, greifbarere Erklärung lautet: Die Medien, auf die die Kritik damals wie heute abzielte, sind sich schlicht ähnlich; weil es sich in beiden Fällen um Verfahren der Großdatenverarbeitung handelt. Eben deshalb weist die sie begleitende Kritik Ähnlichkeiten auf. So betrachtet wäre es nicht die schlechteste Idee bei der Einordnung und Genealogie der sogenannten Digitalisierung weniger in das hard- und softwarelastige Regal der Computergeschichte zu greifen und Abstand davon zu nehmen, das Verkaufsvokabular der Tech-Branche, von Algorithmus über Plattform bis zum Begriff der künstlichen Intelligenz, zwar kritisch aber doch auch mit einem romantischen Grusel zu wiederholen und damit zu stärken. Vielmehr wäre es ein Versuch wert, Bürokratie, Verwaltung und Digitalisierung als miteinander eng verbundene „soziomaterielle Phasen“ zu verstehen, mit deren Durchlaufen gesellschaftliche Strukturen reproduziert werden. Ein Fokus, der nicht nur die technologischen Brüche zwischen unterschiedlichen Modi der Datenverarbeitung, sondern auch deren durchgängigen Charakter als zentrale Kulturtechnik der Moderne ernst nimmt. Damit wird, und das wäre dann eine beunruhigende Nachricht für die „Digitalisierung“, dieser Begriff eigentlich überflüssig.