Die Überraschung des Westens über Putins Krieg in der Ukraine hat auch damit zu tun, dass – zumindest auf europäischem Boden – die schreckliche Konkretheit der territorialen Invasion, von Einkesselung und Landnahme sowie der Belagerungen und Bombardierung von Städten unvorstellbar geworden war. Man hatte sich in vielerlei Hinsicht daran gewöhnt, Politik in abstrakten, von allen geografischen Bedingungen abgelösten Modellen zu denken. Ein Beispiel für diese „Ortlosigkeit“ ist der globale Emissionshandel, der den CO2 Ausstoß vom Ort trennt, an dem er geschieht, und mit markwirtschaftlichen Mitteln zu einem global zirkulierenden Transfergut macht. In der Überraschung über die archaische Anmutung eines Krieges in Europa zeigt sich eine Facette von kolonialistischem Selbstbewusstsein: Man glaubt gerne, die Barbarei mit der europäischen Nachkriegsordnung historisch überwunden zu haben, und man glaubte unter dem Stichwort „Wandel durch Handel“ an den Markt als Medium dieser Überwindung – und wählte in Verlängerung dieses Glaubens das Mittel der wirtschaftlichen Sanktionen als Kriegsmittel. Gegen diesen Glauben gab der Krieg allerdings reichlich Anlass für die so genannte Zeitenwende der deutschen Verteidigungspolitik. Man besinnt sich seitdem wieder aufs Konkrete: Verteidigungswaffen, und fürchtet das Allerkonkreteste: den Atomschlag. Diese Wende zum Realen wird unterschiedlich bewertet, die deutsche Bevölkerung zeigt sich gespalten, offene Briefe an den Bundeskanzler wurden verfasst.
Ortlosigkeit
Die Resolutheit, mit der der Ukraine-Krieg den Glauben an Diplomatie, Wandel durch Handel, Embargos und Einbettungspolitik vom Tisch gefegt hat, trifft auf eine Gesellschaft, die sich zugleich selbst immer mehr und immer ausschließlicher in der Ortlosigkeit von Zoom und GoogleMeet erlebt und sich so als ortlos erfährt. Wenn durch die Digitalisierung schon der Weg zur Arbeit überflüssig wird, wie unbegreiflich werden dann Flucht und Vertreibung. Das nicht unangenehme, schwebende Gefühl der Ortlosigkeit, in der man gerade begonnen hatte, sich einzurichten, wird durch die ungewohnt gewordene Erfahrung von geografischer Nähe und physischer Konkretheit als Bedrohung konterkariert. Angesichts dieser Erfahrung erwischt man sich plötzlich bei der Konsultation von Landkarten, um Entfernungen abschätzen zu können. Internetseiten, auf denen man den Sprengradius einer Atombombe auf seinen Wohnort übertragen kann, boomen.
Aber die Archaik des Konkreten und der scheinbare Anachronismus der auf Erweiterung seines Territoriums gerichteten imperialistischen Absichten des russischen Präsidenten täuschen über den digitalen Charakter, der zu diesem Krieg eben auch gehört, hinweg. Der Krieg in der Ukraine ist, wie schon oft festgestellt wurde, auch ein Krieg im Universum von Social Media. Präsident Selenskyj nutzt die sozialen Medien, um den Rückhalt im eigenen Land zu stärken und den internationalen Druck auf den russischen Präsidenten zu erhöhen. Aber nicht nur der mediale, sondern auch der logistische Teil des Internets spielt in der Auseinandersetzung eine Rolle. Vermeintlich neutrale Dienste wie GoogleMaps finden während des Kriegs neue, aber erschreckend sinnfällige Verwendungen: Der von Google angebotene Kartendienst, der Verkehrsdaten misst und Staus ankündigt, kann eben auch dazu dienen, Fluchtbewegungen in Form endloser Autokolonnen anzuzeigen. Google hat den Dienst für das Gebiet der Ukraine ausgesetzt.
Neben den bekannten geopolitischen Einflusssphären, die mehr schlecht als recht den Himmelsrichtungen – Westen, Osten, Süden – zugeordnet werden, hat sich mittlerweile auch die digitale Sphäre als Ort der Politik und der Kriegsführung etabliert. Sie ist nicht an den geografischen Raum gebunden, existiert aber auch nicht unabhängig davon, sondern verknüpft sich mit ihm punktuell. Ukrainer:innen posten Bilder von gefangenen Soldaten auf den Google Maps-Einträgen von russischen Sehenswürdigkeiten und Touristenattraktionen, um die russische Propaganda- und Zensurpolitik zu unterminieren. Formulare für Restaurantkritiken werden für Kriegsberichtserstattung gekapert, Tinder-Profile zeigen Kriegsverbrechen und Zerstörung. Auch die Realität des Krieges ist längst – um ein Zukunftswort aufzugreifen – augmentiert, das heißt um virtuelle und digitale Objekte und Verbindungen erweitert worden.
Die Vermischung von Virtuellem und Realem: Das Metaversum
In Hinblick auf die Fortsetzung des Krieges mit digitalen Mitteln bekommen die Ankündigungen eines Metaversums, die sich seit einem Jahr häufen und für die man sich, wenn man es recht betrachtet, immer nur so halb interessieren wollte, einen neuen Beigeschmack. Der Begriff Metaverse beschreibt das Zusammenfallen von virtuellen und physikalischen Räumen, sei es, dass virtuelle Räume über technische Geräte – wie Handschuhe oder Brillen – leiblich erfahrbar werden, sei es, dass die materielle Umgebung virtuell erweitert wird. Das Metaversum ist keine Erfindung von Mark Zuckerberg. Die Utopie vom vollständig immersiven digitalen Raum, in dem man sich wie im echten Leben bewegen und anderen begegnen kann, begleitet die Cyberpunkliteratur seit den 1980er Jahren. Der Begriff selbst taucht 1992 in Neal Stephenson Roman Snow Crash zum ersten Mal auf. Seine genaueste Beschreibung aber, die mittlerweile kanonischen Anspruch entwickelt, stammt nicht aus der Literatur, sondern und sicherlich nicht zufällig von einem Risikokapitalgeber und Videospiel-Experten.

Secondlife-Homepage, Quelle: secondlife.com
Matthew Ball, der von 2016 bis 2018 die strategische Ausrichtung von Amazon Studios prägte, ist der intellektuellen Star unter den Unternehmensstrategen und Medienanalysten. Als solcher erkannte Ball im exponentielle Anstieg engagierter User:innen auf Gamer-Plattformen wie Fortnite, die dort nicht nur ein Spiel spielten, sondern sich austauschten und einen Teil ihres sozialen Lebens hierher verlagerten, den Hinweis dafür, dass das Metaverse mehr sein wird, als nur eine Wiederholung semi-erfolgreicher Onlineexperimente wie das schon 2003 veröffentlichte Proto-Metaverse „Second Life“. Zu den Voraussetzungen der neuen Metaversen gehört auch eine reale, auf Blockchain basierende Ökonomie, mit Kryptowährung, digitalem Eigentum in Form von non-fungible Tokens (NFT) und der Möglichkeit realer Gewinnschöpfung.
Ball zufolge zeichnet sich ein Metaverse dabei von früheren virtuellen Umgebungen vor allem dadurch aus, dass es sich live und in Echtzeit zur offline-Realität hin öffnet. Wer im echten Leben ein Jahr altert, tut es auch als Avatar im Metaverse. Es ist ein Spiel – aber ohne das für Spiele normalerweise konstitutive Ende und ohne die Möglichkeit einer Pause. Darüber hinaus gibt es mit der Idee des Metaverses keine Unterscheidung zwischen offline und online mehr, und somit gibt es auch kein Spielfeld mehr, das sich zumindest vorübergehend vom Nicht-Spiel unterscheiden ließe. Durch den Wegfall der örtlichen und zeitlichen Beschränkungen stößt der Begriff des Spiels jedoch selbst an eine interessante Grenze, an der er sich verwandelt: Spielen wird von einer Praxis, die parallel und abgesondert zum echten Leben stattfand, zu einer realitätskonstituierenden Praxis selbst.
Gamification
Neben den Software-Entwicklern kümmern sich daher vor allem Gaming-Anbieter um die Weiterentwicklung des Metaverses. Vor allem die Online-Spiele-Plattform Decentraland, auf der hybride Konzerte und Fashion-Events stattfinden, etabliert sich als attraktiver Ort für virtuellen Grundbesitz. Unter anderem das Auktionshaus Sotheby’s hat dort digitalen Grund gekauft und eine Filiale errichtet, in der vor allem NFT-Kunst erworben werden kann. Beim Konkurrenten Sandbox bedeutet Grundbesitz zugleich ein politisches Mitspracherecht in der „Dezentralen autonomen Organisation“ (DAO), die über alle Belange der Plattform entscheidet. Hinter den Spieleanbietern steht also nicht nur ein gewaltiger und wachsender Markt, sondern auch das Feedback von User:innen mit jahrelanger Erfahrung beim Bespielen und Beleben von digitalen Räumen. Für die Zukunft von Software-Firmen spielt dies bereits eine entscheidende Rolle: von der Namensänderung von Facebook in Meta bis zum Übernahmeprozess des Videospielkonzerns Activision Blizzard durch Microsoft, der nicht nur eine Investition in den florierenden Gaming-Markt darstellt, sondern auch die Akquise von Know-How und User-Daten. Die vermeintlich dezentrale, ko-kreative Entwicklung des Metaverses „von unten“ mithilfe von Usern und Gamern imitiert als Geste die anarchischen Anfänge des Internets, wie wir es bisher kannten. Aber es ist klar, dass die neue digitale Einflusssphäre eine Welt der Konzerne sein wird. Die Firmen werden zugleich zu den eigentlichen Gatekeepern der neuen digitalen Sphäre.

Virtuelle Bälle. Quelle: Blockchainwelt.de
Computerspiele prägen zudem das Erscheinungsbild des Metaverse, und es ist abzusehen, dass auch die neuen hybriden Arbeitsplätze, die Microsoft und Facebook mit ihren Metaverse-Versionen entwickeln, ein gewisses Moment an Infantilisierung, das sich im Game-Design findet, auf die Arbeit übertragen. Aber Computerspiele, und das ist vielleicht der weitreichendere Gedanke, stehen auch für eine bestimmte Idee von Erfahrung, die überall dort zur Konkurrenz der Realität wird, wo das Spiel ubiquitär wird und auf andere Bereiche, wie eben Arbeit oder Liebe, übergreift. Die Australian Open 2022, die aufgrund der Pandemie und Besuchsbeschränkungen ein breites virtuelles Angebot auf Decentraland aufführen und damit als erstes großes Sportevent im Metaverse gelten, lieferten dafür ein eindrückliches Wording: Die NFT-Bälle, also einmalige, aufwendig designte digitale Tennis-Bälle, die man dort virtuell erwerben konnte, sollten die Besucher:innen in den Genuss einer ownership-experience bringen.
Aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (1882) stammt die These, dass so, wie die Technik der Jagd von einer Lebensnotwendigkeit zu einer Sache des Luxus wurde, auch das Kaufen und Verkaufen irgendwann seinen alltäglichen Charakter verlieren und zu einem „Luxus der Empfindung“ werde. Mit dem Metaverse erfüllt sich nicht nur diese Prophezeiung. Wer genau hinsieht erkennt, dass sich dort viele kolonialistische Aspekte der Geschichte als „Luxus der Empfindung“ wiederholen. Das Metaverse führt den Kapitalismus genau dort fort, wo er zum Erlebnis wird. Die ownership experience von NFT-Kunst und -Gegenständen als Empfindung des Eigentums ist nur der Anfang.

Earth 2 Metaverse, Quelle: youtube
Die virtuelle Welt des Metaverse-Projekt Earth2 ist keine Fantasiewelt, sondern ein exakter digitaler Zwilling der Erde. Die erste Phase des Projektes erlaubt User:innen den Erwerb von Land. Ab 2022 soll der digitale Grundbesitz dann in der Lage sein, Ressourcen bereitzustellen, um – wie es im Mission-Statement heißt – das Fundament der digitalen Ökonomie auf Earth2 zu legen und am Ende steht der immersiv erfahrbare Genuss des eigenen digitalen Luxus. Auch wenn es die Macher von Earth2 so nicht formulieren, lässt sich hier Kolonialisierung von Landerwerb bis Ressourcen-Abschöpfung digital durchspielen. Passend dazu arbeitet das neuseeländische Unternehmen mit dem sprechenden Namen Soul Machine bereits an KI-betriebenen digitalen Menschen als neue digitale Arbeiterklasse, die – das liegt in der Natur der Digitalität – weniger körperliche als emotionale Arbeit verrichtet. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich Modi der Ausbeutung dazu auszudenken. Denn mit der App Replika kann man sich heute schon Chat-Bots erstellen, mit denen Konversationen möglich sind – solange man keine tiefgehenden Gegenfragen stellt. Zwar ist es der eigentliche Zweck von Replika, eine Kopie des eigenen Chatverhaltens zu generieren, einen digitalen, affektiven Zwilling, der in der Lage ist, die eigenen Social Media-Accounts zu bespielen. Viele Männer aber benützen die App vor allem dafür, sich weibliche Bots zu schaffen, die sie verbal missbrauchen können.
Kolonialisierung, Kapital, Sklaverei, Sexismus, Krieg – man muss die digitale Wiederholung dieser Kapitel der Geschichte als Spiel und Luxus-Erfahrung nicht durch die moralische Brille betrachten, sondern eben „nur“ als Spiel. Immerhin: Virtuelles Land wird (noch) niemandem weggenommen, niemand daraus vertrieben, für virtuelles Eigentum muss (noch) kein anderer auf etwas verzichten und digitale Sklaven haben keine Gefühle und keine Körper, die verletzt werden. Aber die Frage ist, was der Status dieses „Nur“ in Zukunft sein wird. Man sollte das Metaversum weniger als die eine oder andere Version einer Virtual Reality-Welt verstehen. Vielmehr steht der Begriff für eine Verknüpfung von digitaler und analoger Welt, die die Unterscheidung von offline und online hinfällig werden lässt. Die Gewinne aus den digitalen Ressourcen eines Earth2-Projektes würden also reale Gewinne sein, mit Kaufkraft jenseits des Spiels, das damit seine Harmlosigkeit verliert. Was das heißen könnte, lässt sich – und damit kommen wir zum Anfang zurück – im militärischen Bereich gut nachvollziehen.
Technologien des Realen
Wie schon das Internet selbst, hat auch das Metaverse eine militärische Entwicklungsgeschichte. Seit den 1980 Jahren experimentiert das US-Militär mit der Verknüpfung virtueller Welten und simulierter Realität zu Trainings- und Ausbildungszwecken. Der Einsatz von virtuellen Spielen dient aber nicht nur dem Training, sondern auch der Rekrutierung von Personen, die auf konventionellem Weg nicht erreicht werden, aber durchaus Eigenschaften und Fähigkeiten besitzen, die für das Militär der Zukunft nützlich sind. Und im Drohnen-Krieg sind die Grenzen zwischen War-Game und realer kriegerischer Auseinandersetzung zumindest ästhetisch ins Fließen geraten.
Der Ukraine-Krieg widersetzt sich dieser Ästhetik. Aber er wiederholt auch etwas von der Ortlosigkeit des Spiels, das sich in der zentralen strategischen Frage der NATO-Staaten zeigt: Wie führt man Krieg, ohne Partei zu sein? Wobei die leicht paradoxe Antwort lautet: Indem man technologisch die Mittel maximiert, mit denen man Partei ergreifen kann, ohne Krieg zu führen. Schon jetzt fürchtet die russische Regierung jemanden wie Elon Musk, der dank seiner Starlink-Flotte die Ukraine von heute auf morgen mit auf Satellitentechnik basiertem Internet versorgen kann – auch dort, wo russische Kräfte die lokale technische Infrastruktur zerstört haben. Denn wer ein Land auf diese Weise mit Technik versorgen kann, der kann es in Zukunft vermutlich auch davon abschneiden. Genau dies fordert der ukrainische Minister für Digitales von westlichen Technologie-Firmen in Bezug auf Russland. Er bietet damit etwas an, an das man sich mit der Digitalisierung des politischen Raums entweder klug gewöhnen oder gegen das man aktiv Politik betreiben muss: die Anerkennung technologischer Konzerne als eigentliche globale politische Akteure.