Ein Müller aus Norditalien hat den Historiker Carlo Ginzburg international bekannt gemacht. Er hiess Domenica Scandella, genannt Menocchio, und lebte Ende des 16. Jahrhunderts im friaulischen Dorf Montereale im Schatten der venezianischen Herrschaft. Er war erstaunlich gebildet, konnte lesen und schreiben und machte sich seine eigenen Gedanken über Gott, die Elemente, die Schöpfung und Maria. Eher zufällig stiess Ginzburg im Inquisitionsarchiv der erzbischöflichen Kurie in Udine auf seine Akte. Mit Erstaunen las der Historiker in einem Verhörprotokoll aus dem Jahr 1584 Aussagen wie die Folgende:
Ich habe gesagt, dass, was meine Gedanken und meinen Glauben anlanget, alles ein Chaos war, nämlich Erd’, Luft, Wasser und Feuer durcheinander. Und jener Wirbel wurde eine Masse, gerade wie man den Käse in der Milch macht, und darinnen wurden Würm’, und das waren die Engel.
Auch der Generalinquisitor war erstaunt. Was Menocchio ihm vortrug, war ein Weltbild, das von der katholischen Orthodoxie offensichtlich massiv abwich. Nicht genug damit, dass in dieser eigenwilligen Kosmogonie ein Schöpfergott nicht vorkam. Wie Leute aus Montereale zu Protokoll gegeben hatten, fehlte es nicht an weiteren eigenartigen Bemerkungen des Müllers. „Was dünkt euch, das Gott ist?“, habe dieser etwa gefragt und erklärt: „Gott ist nichts anderes als ein wenig Atem und was der Mensch sich einbildet.“ Dem Pfarrer des Dorfes habe er in Gesicht gesagt, er glaube nicht, dass der Heilige Geist die Kirche regiere und hinzugefügt: „Die Prälaten halten die Leut’ untertan und halten sie in gutem Glauben, aber sie lassen es sich gut gehen.“
In Mencchios Glaubenswelt aber sollten alle gleich sein, da göttlicher Geist in allen und allem war. Er verurteilte das „Gepränge“ der Kirche, vertrat egalitäre Ideen und postulierte in der Öffentlichkeit, „dass eine neue Welt und Weise zu leben wäre.“ Diese und andere Äusserungen führten dazu, dass Menocchio 1599 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Literarische Fiktion und historische Narration

Deutsche Übersetzung; Quelle: booklooker.de
Die Neugierde und Verblüffung über die merkwürdigen Aussagen des Müllers liessen Carlo Ginzburg nicht mehr los. Er begann genauer nachzuforschen. Das Resultat seiner Studien ist das 1976 publizierte Buch „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“ (Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del‘ 500), mit dem der bis dahin unbekannte Menocchio im 20. Jahrhundert eine grandiose Wiederauferstehung erlebte. Mittlerweile in 23 Sprachen übersetzt, zählt es zu den beliebtesten und meistgelesenen Werken der neuen Kultur- und Mikrogeschichte. Dieser Erfolg verdankt sich nicht zuletzt den literarischen Qualitäten Ginzburgs. Wie alle seine Werke ist auch „Der Käse und die Würmer“ als Montage selbständiger Kapitel strukturiert, was dem Buch einen aufgelockerten und essayhaften Charakter verleiht. Die Darstellung besticht durch einen erzählenden Grundton, der in 62 Kapiteln nach Art einer Kriminalerzählung die Geschichte des Müllers aufrollt.
Das Literarische ist für Ginzburg indes auch in methodischer Hinsicht zentral. KritikerInnen, die ihm vorwarfen, sein erzählender Stil untergrabe die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung, hat Ginzburg stets entgegengehalten, dass die Geschichtsschreibung, wo sie über die blosse Registratur und das Geschäft des Quantifizierens hinauswolle, einer literarisch-erzählenden Kompetenz bedürfe. Die Einsicht, dass Geschichte stets auf Geschichten angewiesen ist, stand für Ginzburg nie im Gegensatz zu dem Anspruch, dass Wahrheitssuche den Anfangs- und Endpunkt der historischen Forschung bilden muss. Aussergewöhnlich an seinem Stil ist jedoch, dass er dieses Sensorium für die konstruktiven Elemente in der historischen Forschung auch in seinem Schreiben wiederspielt sehen will. Techniken wie die Montage verdeutlichen, dass historisches Wissen immer bruchstückhaft ist und einem offenen Prozess entspringt: einem Prozess, in den Ginzburg auch die Leserin und deren Urteilsbildung miteinbeziehen will. Geschichtsschreibung – so der Autor in einem Interview – müsse „demokratisch“ sein, „womit ich sagen möchte, dass man unsere Aussagen von aussen überprüfen können soll und dass der Leser nicht nur an den Schlussfolgerungen, sondern auch an dem Vorgang, der zu ihnen führt, teilnimmt.“
Bildkorrekturen nach der Resistenza
Ginzburgs Buch verarbeitet nicht nur Erfahrungen des 16. Jahrhunderts. Es reflektiert auch den zeitgenössischen Kontext eines neuen Interesses an der bäuerlichen Kultur. „Il formaggio e i vermi“ erschien im legendären Turiner Verlagshaus Einaudi, das der Vater – der russischstämmige Slawist und Antifaschist Leone Ginzburg – in den 1930er Jahren mit dem Ziel, Bildung für alle auf höchstem Niveau zu vermitteln, mitbegründet hatte. Auch die Mutter – die Schriftstellerin Natalia Ginzburg – arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg für den Verlag, der im Nachkriegsitalien zum Zentrum eines utopischen mediterranen Sozialismus wurde. In dieses Projekt schrieb sich Carlo Ginzburg ein.

Spanische Übersetzung; Quelle: issuu.com
Lebensgeschichtlich gesehen war sein Blick auf die bäuerliche Volkskultur direkt und indirekt geprägt durch die Erfahrungen der politischen Verbannung seiner Familie unter Mussolini. Ab 1940 lebten die Ginzburgs drei Jahre lang exiliert in einem Dorf in den Abruzzen. Die Nähe zu den Lebensweisen und Werten der lokalen bäuerlichen Gemeinschaft und die Erfahrung, dass viele Bauern den jüdischen Exilierten selbstlos halfen, den antifaschistischen Untergrundkampf unterstützten und sich als Partisanen der Resistenza anschlossen, zwang die norditalienische Intelligenzija zur Revision ihres Bildes von der bäuerlichen Welt als rückständig und reaktionär. Wie es scheinen wollte, schlummerten in der bäuerlichen Volkskultur progressive und widerständige Energien, für die sich Carlo Ginzburg in den 1960er Jahren neu zu interessieren begann. Inspirieren liess er sich dabei von den Exilerinnerungen „Christo si è fermato a Eboli“ (1945) des mit seinem Vater befreundeten Carlo Levi, der die bäuerliche Gesellschaft (civiltà contadina) als positives Antidot zum faschistischen Zentralstaat zeichnete. Ebenso wichtig war die Forderung des Anthropologen Ernesto De Martino – auch er ein Genosse der Ginzburgs – , scheinbar sinnlose und archaische Phänomene als Elemente einer unterdrückten Gegenkultur zu untersuchen. Dazu kam Antonio Gramscis Konzept der „kulturellen Hegemonie“, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Mehrheit der italienischen WissenschaftlerInnen und auch auf Carlo Ginzburg einen immensen Einfluss hatte.
Tiefenhermeneutik der Volkskultur
Es ist heute noch immer ein Vergnügen, Ginzburg dabei zu folgen, wie er Schicht um Schicht den Kosmos seines Protagonisten freilegt. Minutiös rekonstruiert er aus wenigen historischen Spuren die subalterne Lebenswelt, der Menocchio angehörte, und die Geistesströmungen, die ihn beeinflussten. Im Rückgriff auf den russischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin unternimmt er einen sorgfältigen Vergleich von Menocchios Kosmologie mit den Büchern, die dieser gelesen hatte (darunter vornehmlich Heiligenlegenden, aber auch Boccaccios Decamerone). Dabei stösst der Historiker auf Elemente, die weder den Büchern selbst noch dem Ideenkreis der Reformation zu entstammen scheinen.

Englische Übersetzung, Quelle: amazon.de
Menocchios eigenwillige Aneignungen und Uminterpretationen von Teilen der gelehrten schriftlichen Kultur scheinen auf den ersten Blick in der Tat widersinnig, da sie sich den herrschenden Begriffssystemen nicht fügen. Genau sie aber – und darin besteht Ginzburgs Kunstgriff – gewähren ihm Einblicke in eine archaische, mündlich überlieferte Tiefenkultur jenseits der klerikal verordneten Sicht der Welt. Die Studie fördert ein von heidnischen Erlösungshoffnungen, Fruchtbarkeitsriten und Gleichheitsvorstellungen eingefärbtes, potentiell revolutionäres Gedankengut zu Tage, das der Klerus schon immer fürchtete, stets aneignen und entkernen, aber niemals gänzlich ausrotten konnte.
Microstoria und neue Kulturgeschichte
Historiographisch gesehen ist Ginzburgs Buch ein bemerkenswertes Beispiel für den Ansatz der Mikrogeschichte. Diese gehört zu den wichtigsten Innovationen der Geschichtswissenschaft, weil sie geholfen hat, neue Perspektiven und neue Kategorien des Denkens in die Forschung einzuführen. Zusammen mit so bedeutsamen Werken wie Emmanuel Le Roy Laduries „Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor“ oder Natalie Zemon Davis’ „Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre“ reiht sich sein Buch in die historiographischen Aufbrüche der 1970er Jahre ein.
Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Kritik an der traditionellen Geschichtswissenschaft mit ihrem Fokus auf grosse Politik, wirtschaftlich führende Schichten und Phänomene der Hochkultur ebenso wie die Vorbehalte gegenüber einer Makrogeschichte – ob marxistischer oder modernisierungstheoretischer Provenienz –, in der Menschen, zumal aus der Unterschicht, nicht vorkamen.
Die grossen Sozialtheorien, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in Ost und West Orientierung stifteten, waren einem Geschichtsbild verpflichtet, das an einem aristokratischen Kulturbegriff festhielt. Kultur war das, was die Oberschichten produzierten und schriftlich überlieferten. Durch eine Veränderung der Perspektive und eine Verkleinerung des Massstabs rückte die Mikrogeschichte die Kultur der Nicht-Elite – die Lebensweisen und Werte der „kleinen Leute“ – ins Zentrum und versuchte so, die Kontinuität von sozialer Ausgrenzung und epistemischer Marginalisierung zu unterlaufen. Parallel dazu kam es zur intensiven Rezeption anthropologischer Kulturbegriffe und zur Hinwendung zu den in den offiziellen Quellen nur fragmentarisch überlieferten Selbstdeutungen der subalternen Subjekte.
Menocchio und das Movimento 77
Man kann diese Neuorientierung der Geschichtsschreibung dem „cultural turn“ zurechnen und – wie es heute nicht selten geschieht – als erste Schritte hin zu einer Entpolitisierung der Geschichtsschreibung im Zeichen eines postmodernen Subjektivismus deuten. Für Ginzburg und die Mikrogeschichte greift dies jedoch zu kurz. Denn offensichtlich ist „Der Käse und die Würmer“ auch das Produkt von Auseinandersetzungen mit Postulaten und Milieus der Neuen Linken in Italien. In den 1970er Jahren wandte sich diese vehement gegen die regierende Christdemokratie (DCI) und deren – mit Hilfe neofaschistischer Gruppen verfolgten – „Strategie der Spannung“ gegen links.
Zugleich übte sie massive Kritik an der kommunistischen Partei (PCI), die nach dem Militärputsch in Chile Kurs auf einen „compromesso storico“ mit der DCI nahm. Anders als sein Mitstreiter Giovanni Levi und die Turiner Gruppe der Microstoria, die mehrheitlich im linken Flügel der sozialistischen Partei agitierten, war Carlo Ginzburg aber nie Mitglied einer Partei oder eine politischen Gruppe, obwohl er mit der Lotta Continua seines Freundes Adriano Sofri sympathisierte. In Bologna, wo er in den 70er Jahren lehrte, bewegte Ginzburg sich in den spontanen Milieus der Autonomia Creativa und deren Gegenkultur aus Strassentheatern, Kulturzentren und freien Radios. Wenn Ginzburg in der Einleitung seines Buches schreibt, dass Menocchio „unser Vorfahre“ sei, wird deutlich, dass seine Forschungen zur Hexenjagd gegen Häretiker im 16. Jahrhundert auch ein Licht werfen wollten auf den Kreuzzug, den beide Grossparteien – DCI und KPI – in den 70er Jehren gegen unorthodoxe linke Häretiker führten.
Ginzburg zelebrierte mit Menocchio keinen irgendwie gearteten Subjektivismus. Vielmehr verhandelte er an seinem Beispiel politische Fragen nach der Handlungsfähigkeit von Individuen und Kollektiven angesichts scheinbar übermächtiger politökonomischer Realitäten – in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart.

Carlo Ginzburg, Foto: Claude Truong-Ngoc; Quelle: wikipedia.org
Zu der in die heutige Gegenwart weisenden Geschichte des Buches gehört sicherlich, dass sein Narrativ – die Erneuerung der Gesellschaft im Rückgriff auf eine subversive Volkskultur – unterdessen auch von der populistischen Rechten bedient wird und anschlussfähig ist an individualistisch-identitäre Selbstverwirklichungsutopien neokonservativer Provenienz. Natürlich muss, wer die Postulate der Mikrogeschichte ernst nimmt, akzeptieren können, dass sie auf unterschiedliche Weise gelesen und angewendet wird. Wer sie ernst nimmt, wird indes erkennen, dass heute oft eine Version der Mikrogeschichte als angewandter Methode populär ist, die entscheidende Komponenten ausblendet. Dazu gehört nicht nur eine kritische Sensibilität für die Politik der historischen Evidenz: ihrer Aufmerksamkeitsstrukturen, Relevanzkriterien und gesellschaftlichen Funktionsweise. Dazu gehört insbesondere auch der Wille zu einer umfassenden historischen Sinnbildung, die nicht nur dokumentiert, was in der Vergangenheit vorgefallen ist, sondern den Anspruch hat, Teil der gesellschaftlichen Verständigung über die Gegenwart und über politische Handlungsoptionen zu sein. Natürlich hat Ginzburg hierzu nicht das letzte Wort gesprochen. Dieser Anspruch muss immer wieder und immer wieder neu eingelöst werden.