Der kulturhistorische Bestseller „Der Käse und die Würmer“ von Carlo Ginzburg, 1976 erstmals erschienen, bietet noch immer höchsten Lesegenuss. Er rekonstruiert das Weltbild eines italienischen Müllers um 1600, reflektiert aber auch die politischen Horizonte des linksintellektuellen Italiens in der Nachkriegszeit.

Ein Müller aus Nord­ita­lien hat den Histo­riker Carlo Ginz­burg inter­na­tional bekannt gemacht. Er hiess Dome­nica Scan­della, genannt Menoc­chio, und lebte Ende des 16. Jahr­hun­derts im friau­li­schen Dorf Monte­reale im Schatten der vene­zia­ni­schen Herr­schaft. Er war erstaun­lich gebildet, konnte lesen und schreiben und machte sich seine eigenen Gedanken über Gott, die Elemente, die Schöp­fung und Maria. Eher zufällig stiess Ginz­burg im Inqui­si­ti­ons­ar­chiv der erzbi­schöf­li­chen Kurie in Udine auf seine Akte. Mit Erstaunen las der Histo­riker in einem Verhör­pro­to­koll aus dem Jahr 1584 Aussagen wie die Folgende:

Ich habe gesagt, dass, was meine Gedanken und meinen Glauben anlanget, alles ein Chaos war, nämlich Erd’, Luft, Wasser und Feuer durch­ein­ander. Und jener Wirbel wurde eine Masse, gerade wie man den Käse in der Milch macht, und darinnen wurden Würm’, und das waren die Engel.

Auch der Gene­ral­inqui­sitor war erstaunt. Was Menoc­chio ihm vortrug, war ein Welt­bild, das von der katho­li­schen Ortho­doxie offen­sicht­lich massiv abwich. Nicht genug damit, dass in dieser eigen­wil­ligen Kosmo­gonie ein Schöp­fer­gott nicht vorkam. Wie Leute aus Monte­reale zu Proto­koll gegeben hatten, fehlte es nicht an weiteren eigen­ar­tigen Bemer­kungen des Müllers. „Was dünkt euch, das Gott ist?“, habe dieser etwa gefragt und erklärt: „Gott ist nichts anderes als ein wenig Atem und was der Mensch sich einbildet.“ Dem Pfarrer des Dorfes habe er in Gesicht gesagt, er glaube nicht, dass der Heilige Geist die Kirche regiere und hinzu­ge­fügt: „Die Prälaten halten die Leut’ untertan und halten sie in gutem Glauben, aber sie lassen es sich gut gehen.“

In Menc­chios Glau­bens­welt aber sollten alle gleich sein, da gött­li­cher Geist in allen und allem war. Er verur­teilte das „Gepränge“ der Kirche, vertrat egali­täre Ideen und postu­lierte in der Öffent­lich­keit, „dass eine neue Welt und Weise zu leben wäre.“ Diese und andere Äusse­rungen führten dazu, dass Menoc­chio 1599 als Ketzer auf dem Schei­ter­haufen verbrannt wurde.

Lite­ra­ri­sche Fiktion und histo­ri­sche Narration

Deut­sche Über­set­zung; Quelle: booklooker.de

Die Neugierde und Verblüf­fung über die merk­wür­digen Aussagen des Müllers liessen Carlo Ginz­burg nicht mehr los. Er begann genauer nach­zu­for­schen. Das Resultat seiner Studien ist das 1976 publi­zierte Buch „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“ (Il form­aggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del‘ 500), mit dem der bis dahin unbe­kannte Menoc­chio im 20. Jahr­hun­dert eine gran­diose Wieder­auf­er­ste­hung erlebte. Mitt­ler­weile in 23 Spra­chen über­setzt, zählt es zu den belieb­testen und meist­ge­le­senen Werken der neuen Kultur- und Mikro­ge­schichte. Dieser Erfolg verdankt sich nicht zuletzt den lite­ra­ri­schen Quali­täten Ginz­burgs. Wie alle seine Werke ist auch „Der Käse und die Würmer“ als Montage selb­stän­diger Kapitel struk­tu­riert, was dem Buch einen aufge­lo­ckerten und essay­haften Charakter verleiht. Die Darstel­lung besticht durch einen erzäh­lenden Grundton, der in 62 Kapi­teln nach Art einer Krimi­nal­erzäh­lung die Geschichte des Müllers aufrollt.

Das Lite­ra­ri­sche ist für Ginz­burg indes auch in metho­di­scher Hinsicht zentral. Kriti­ke­rInnen, die ihm vorwarfen, sein erzäh­lender Stil unter­grabe die Grenzen zwischen Wahr­heit und Dich­tung, hat Ginz­burg stets entge­gen­ge­halten, dass die Geschichts­schrei­bung, wo sie über die blosse Regis­tratur und das Geschäft des Quan­ti­fi­zie­rens hinaus­wolle, einer literarisch-erzählenden Kompe­tenz bedürfe. Die Einsicht, dass Geschichte stets auf Geschichten ange­wiesen ist, stand für Ginz­burg nie im Gegen­satz zu dem Anspruch, dass Wahr­heits­suche den Anfangs- und Endpunkt der histo­ri­schen Forschung bilden muss. Ausser­ge­wöhn­lich an seinem Stil ist jedoch, dass er dieses Senso­rium für die konstruk­tiven Elemente in der histo­ri­schen Forschung auch in seinem Schreiben wieder­spielt sehen will. Tech­niken wie die Montage verdeut­li­chen, dass histo­ri­sches Wissen immer bruch­stück­haft ist und einem offenen Prozess entspringt: einem Prozess, in den Ginz­burg auch die Leserin und deren Urteils­bil­dung mitein­be­ziehen will. Geschichts­schrei­bung – so der Autor in einem Inter­view – müsse „demo­kra­tisch“ sein, „womit ich sagen möchte, dass man unsere Aussagen von aussen über­prüfen können soll und dass der Leser nicht nur an den Schluss­fol­ge­rungen, sondern auch an dem Vorgang, der zu ihnen führt, teil­nimmt.“

Bild­kor­rek­turen nach der Resistenza

Ginz­burgs Buch verar­beitet nicht nur Erfah­rungen des 16. Jahr­hun­derts. Es reflek­tiert auch den zeit­ge­nös­si­schen Kontext eines neuen Inter­esses an der bäuer­li­chen Kultur. „Il form­aggio e i vermi“ erschien im legen­dären Turiner Verlags­haus Einaudi, das der Vater – der russisch­stäm­mige Slawist und Anti­fa­schist Leone Ginz­burg – in den 1930er Jahren mit dem Ziel, Bildung für alle auf höchstem Niveau zu vermit­teln, mitbe­gründet hatte. Auch die Mutter – die Schrift­stel­lerin Natalia Ginz­burg – arbei­tete nach dem Zweiten Welt­krieg für den Verlag, der im Nach­kriegs­ita­lien zum Zentrum eines utopi­schen medi­ter­ranen Sozia­lismus wurde. In dieses Projekt schrieb sich Carlo Ginz­burg ein.

Spani­sche Über­set­zung; Quelle: issuu.com

Lebens­ge­schicht­lich gesehen war sein Blick auf die bäuer­liche Volks­kultur direkt und indi­rekt geprägt durch die Erfah­rungen der poli­ti­schen Verban­nung seiner Familie unter Musso­lini. Ab 1940 lebten die Ginz­burgs drei Jahre lang exiliert in einem Dorf in den Abruzzen. Die Nähe zu den Lebens­weisen und Werten der lokalen bäuer­li­chen Gemein­schaft und die Erfah­rung, dass viele Bauern den jüdi­schen Exilierten selbstlos halfen, den anti­fa­schis­ti­schen Unter­grund­kampf unter­stützten und sich als Parti­sanen der Resis­tenza anschlossen, zwang die nord­ita­lie­ni­sche Intel­li­gen­zija zur Revi­sion ihres Bildes von der bäuer­li­chen Welt als rück­ständig und reak­tionär. Wie es scheinen wollte, schlum­merten in der bäuer­li­chen Volks­kultur progres­sive und wider­stän­dige Ener­gien, für die sich Carlo Ginz­burg in den 1960er Jahren neu zu inter­es­sieren begann. Inspi­rieren liess er sich dabei von den Exil­erin­ne­rungen „Christo si è fermato a Eboli“ (1945) des mit seinem Vater befreun­deten Carlo Levi, der die bäuer­liche Gesell­schaft (civiltà conta­dina) als posi­tives Antidot zum faschis­ti­schen Zentral­staat zeich­nete. Ebenso wichtig war die Forde­rung des Anthro­po­logen Ernesto De Martino – auch er ein Genosse der Ginz­burgs – , scheinbar sinn­lose und archai­sche Phäno­mene als Elemente einer unter­drückten Gegen­kultur zu unter­su­chen. Dazu kam Antonio Gramscis Konzept der „kultu­rellen Hege­monie“, dass nach dem Zweiten Welt­krieg auf die Mehr­heit der italie­ni­schen Wissen­schaft­le­rInnen und auch auf Carlo Ginz­burg einen immensen Einfluss hatte.

Tiefen­her­me­neutik der Volkskultur

Es ist heute noch immer ein Vergnügen, Ginz­burg dabei zu folgen, wie er Schicht um Schicht den Kosmos seines Prot­ago­nisten frei­legt. Minu­tiös rekon­stru­iert er aus wenigen histo­ri­schen Spuren die subal­terne Lebens­welt, der Menoc­chio ange­hörte, und die Geis­tes­strö­mungen, die ihn beein­flussten. Im Rück­griff auf den russi­schen Lite­ra­tur­theo­re­tiker Michail Bachtin unter­nimmt er einen sorg­fäl­tigen Vergleich von Menoc­chios Kosmo­logie mit den Büchern, die dieser gelesen hatte (darunter vornehm­lich Heili­gen­le­genden, aber auch Bocc­ac­cios Deca­me­rone). Dabei stösst der Histo­riker auf Elemente, die weder den Büchern selbst noch dem Ideen­k­reis der Refor­ma­tion zu entstammen scheinen.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Engli­sche Über­set­zung, Quelle: amazon.de

Menoc­chios eigen­wil­lige Aneig­nungen und Umin­ter­pre­ta­tionen von Teilen der gelehrten schrift­li­chen Kultur scheinen auf den ersten Blick in der Tat wider­sinnig, da sie sich den herr­schenden Begriffs­sys­temen nicht fügen. Genau sie aber – und darin besteht Ginz­burgs Kunst­griff – gewähren ihm Einblicke in eine archai­sche, münd­lich über­lie­ferte Tief­en­kultur jenseits der klerikal verord­neten Sicht der Welt. Die Studie fördert ein von heid­ni­schen Erlö­sungs­hoff­nungen, Frucht­bar­keits­riten und Gleich­heits­vor­stel­lungen einge­färbtes, poten­tiell revo­lu­tio­näres Gedan­kengut zu Tage, das der Klerus schon immer fürch­tete, stets aneignen und entkernen, aber niemals gänz­lich ausrotten konnte.

Microstoria und neue Kulturgeschichte

Histo­rio­gra­phisch gesehen ist Ginz­burgs Buch ein bemer­kens­wertes Beispiel für den Ansatz der Mikro­ge­schichte. Diese gehört zu den wich­tigsten Inno­va­tionen der Geschichts­wis­sen­schaft, weil sie geholfen hat, neue Perspek­tiven und neue Kate­go­rien des Denkens in die Forschung einzu­führen. Zusammen mit so bedeut­samen Werken wie Emma­nuel Le Roy Ladu­ries „Montaillou. Ein Dorf vor dem Inqui­sitor“ oder Natalie Zemon Davis’ „Die wahr­haf­tige Geschichte von der Wieder­kehr des Martin Guerre“ reiht sich sein Buch in die histo­rio­gra­phi­schen Aufbrüche der 1970er Jahre ein.

Gemein­samer Ausgangs­punkt war die Kritik an der tradi­tio­nellen Geschichts­wis­sen­schaft mit ihrem Fokus auf grosse Politik, wirt­schaft­lich führende Schichten und Phäno­mene der Hoch­kultur ebenso wie die Vorbe­halte gegen­über einer Makro­ge­schichte – ob marxis­ti­scher oder moder­ni­sie­rungs­theo­re­ti­scher Prove­nienz –, in der Menschen, zumal aus der Unter­schicht, nicht vorkamen.

Die grossen Sozi­al­theo­rien, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­dert in Ost und West Orien­tie­rung stif­teten, waren einem Geschichts­bild verpflichtet, das an einem aris­to­kra­ti­schen Kultur­be­griff fest­hielt. Kultur war das, was die Ober­schichten produ­zierten und schrift­lich über­lie­ferten. Durch eine Verän­de­rung der Perspek­tive und eine Verklei­ne­rung des Mass­stabs rückte die Mikro­ge­schichte die Kultur der Nicht-Elite  – die  Lebens­weisen und Werte der „kleinen Leute“ – ins Zentrum und versuchte so, die Konti­nuität von sozialer Ausgren­zung und epis­te­mi­scher Margi­na­li­sie­rung zu unter­laufen. Parallel dazu kam es zur inten­siven Rezep­tion anthro­po­lo­gi­scher Kultur­be­griffe und zur Hinwen­dung zu den in den offi­zi­ellen Quellen nur frag­men­ta­risch über­lie­ferten Selbst­deu­tungen der subal­ternen Subjekte.

Menoc­chio und das Movi­mento 77

Man kann diese Neuori­en­tie­rung der Geschichts­schrei­bung dem „cultural turn“ zurechnen und – wie es heute nicht selten geschieht – als erste Schritte hin zu einer Entpo­li­ti­sie­rung der Geschichts­schrei­bung im Zeichen eines post­mo­dernen Subjek­ti­vismus deuten. Für Ginz­burg und die Mikro­ge­schichte greift dies jedoch zu kurz. Denn offen­sicht­lich ist „Der Käse und die Würmer“ auch das Produkt von Ausein­an­der­set­zungen mit Postu­laten und Milieus der Neuen Linken in Italien. In den 1970er Jahren wandte sich diese vehe­ment gegen die regie­rende Christ­de­mo­kratie (DCI) und deren – mit Hilfe neofa­schis­ti­scher Gruppen verfolgten – „Stra­tegie der Span­nung“ gegen links.

Zugleich übte sie massive Kritik an der kommu­nis­ti­schen Partei (PCI), die nach dem Mili­tär­putsch in Chile Kurs auf einen „compro­messo storico“ mit der DCI nahm. Anders als sein Mitstreiter Giovanni Levi und die Turiner Gruppe der Microstoria, die mehr­heit­lich im linken Flügel der sozia­lis­ti­schen Partei agitierten, war Carlo Ginz­burg aber nie Mitglied einer Partei oder eine poli­ti­schen Gruppe, obwohl er mit der Lotta Continua seines Freundes Adriano Sofri sympa­thi­sierte. In Bologna, wo er in den 70er Jahren lehrte, bewegte Ginz­burg sich in den spon­tanen Milieus der Auto­nomia Crea­tiva und deren Gegen­kultur aus Stras­sen­thea­tern, Kultur­zen­tren und freien Radios. Wenn Ginz­burg in der Einlei­tung seines Buches schreibt, dass Menoc­chio „unser Vorfahre“ sei, wird deut­lich, dass seine Forschungen zur Hexen­jagd gegen Häre­tiker im 16. Jahr­hun­dert auch ein Licht werfen wollten auf den Kreuzzug, den beide Gross­par­teien – DCI und KPI – in den 70er Jehren gegen unor­tho­doxe linke Häre­tiker führten.

Ginz­burg zele­brierte mit Menoc­chio keinen irgendwie gear­teten Subjek­ti­vismus. Viel­mehr verhan­delte er an seinem Beispiel poli­ti­sche Fragen nach der Hand­lungs­fä­hig­keit von Indi­vi­duen und Kollek­tiven ange­sichts scheinbar über­mäch­tiger polit­öko­no­mi­scher Reali­täten – in der Vergan­gen­heit ebenso wie in der Gegenwart.

Carlo Ginz­burg, Foto: Claude Truong-Ngoc; Quelle: wikipedia.org

Zu der in die heutige Gegen­wart weisenden Geschichte des Buches gehört sicher­lich, dass sein Narrativ – die Erneue­rung der Gesell­schaft im Rück­griff auf eine subver­sive Volks­kultur – unter­dessen auch von der popu­lis­ti­schen Rechten bedient wird und anschluss­fähig ist an individualistisch-identitäre Selbst­ver­wirk­li­chungs­uto­pien neokon­ser­va­tiver Prove­nienz. Natür­lich muss, wer die Postu­late der Mikro­ge­schichte ernst nimmt, akzep­tieren können, dass sie auf unter­schied­liche Weise gelesen und ange­wendet wird. Wer sie ernst nimmt, wird indes erkennen, dass heute oft eine Version der Mikro­ge­schichte als ange­wandter Methode populär ist, die entschei­dende Kompo­nenten ausblendet. Dazu gehört nicht nur eine kriti­sche Sensi­bi­lität für die Politik der histo­ri­schen Evidenz: ihrer Aufmerk­sam­keits­struk­turen, Rele­vanz­kri­te­rien und gesell­schaft­li­chen Funk­ti­ons­weise. Dazu gehört insbe­son­dere auch der Wille zu einer umfas­senden histo­ri­schen Sinn­bil­dung, die nicht nur doku­men­tiert, was in der Vergan­gen­heit vorge­fallen ist, sondern den Anspruch hat, Teil der gesell­schaft­li­chen Verstän­di­gung über die Gegen­wart und über poli­ti­sche Hand­lungs­op­tionen zu sein. Natür­lich hat Ginz­burg hierzu nicht das letzte Wort gespro­chen. Dieser Anspruch muss immer wieder und immer wieder neu einge­löst werden.