Die Bilder aus der Nibelungensage, mit Dietrich von Bern, dem grimmigen Hagen und dem tückischen Hunnenkönig Etzel prägten über Jahrhunderte das Bild der „Völkerwanderung“. Heute scheinen sie sich auf „Migration“ zu reimen. Doch was fand tatsächlich hinter dieser Historientapete statt?

  • Mischa Meier

    Mischa Meier lehrt Alte Geschichte an der Universität Tübingen und ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er publizierte 2019 bei C.H. Beck eine umfassende Geschichte der Völkerwanderung.

Völker­wan­de­rung ist ein asso­zia­ti­ons­schwerer Begriff. Wer ihn heut­zu­tage verwendet, weiß zumeist nicht, was er tut – oder er weiß es ganz genau und tut es eben deshalb. Zumal im deut­schen Sprach­raum sind die Vorstel­lungs­kon­texte relativ konkret: Endlose Trecks bewaff­neter ‚Germanen‘, die mit ihren Fami­lien auf notdürftig zusam­men­ge­zim­merten Plan­wagen aus dem ‚Norden‘ kommend sich auf das Römi­sche Reich zube­wegen und dort Chaos und Verwüs­tung anrichten, um schließ­lich auf römi­schem Terri­to­rium eigen­stän­dige ‚Reiche‘ zu errichten und damit das Funda­ment der späteren Ordnung Europas zu legen.

Migra­tion, Zerstö­rung, grund­le­gender Neube­ginn in Rich­tung einer unge­wissen Zukunft auf dem Schutt des Nieder­ge­ris­senen – so lautet das klas­si­sche Völker­wan­de­rungs­nar­rativ, das auch in aktu­ellen Publi­ka­tionen gerne noch aufbe­reitet wird, in den meisten Fällen engge­führt auf einen römisch-germanischen Gegen­satz: „Germanen gegen Rom“ – dies der viel­sa­gende Titel eines Themen­heftes zur Völker­wan­de­rung aus der Reihe ‚Geo Epoche‘ im Jahr 2015. Und im Jahr 2008 formu­lierte Rein­hard Pohanka in einer Einfüh­rung unter dem Titel „Die Völker­wan­de­rung“ bündig: „Die Völker­wan­de­rung kann defi­niert werden als eine Wande­rungs­be­we­gung germa­ni­scher Stämme von Norden nach Süden, wobei diese später – von den Hunnen bedroht – in das Römi­sche Reich einfallen und 476 das Ende des West­rö­mi­schen Reiches herbeiführen“.

Hier kris­tal­li­sieren sich Elemente eines simpli­fi­zie­renden Vorstel­lungs­kon­glo­me­rats aus, mit dem wir alle sozia­li­siert worden sind und das wir daher ganz unwill­kür­lich abrufen, sobald der Terminus ‚Völker­wan­de­rung‘ fällt. Damit schaffen wir unre­flek­tiert einen Verständ­nis­ho­ri­zont, wenn seit 2015 vermehrt von einer „neuen Völker­wan­de­rung“ gespro­chen wird – und wer sich im öffent­li­chen Diskurs entspre­chend äußert, evoziert nur selten unbe­dacht spezi­fi­sche Asso­zia­tionen: Massen­mi­gra­tion führt in Zerstö­rung und eine unge­wisse Zukunft, über deren Gestal­tung wir allmäh­lich die Hoheit verlieren. Der Althis­to­riker Alex­ander Demandt hat just mit diesem Nexus gespielt, als er im Januar 2016 in der FAZ einen viel­dis­ku­tierten Beitrag über Völker­wan­de­rung und das Ende Roms mit den Worten beschloss: „Über­schau­bare Zahlen von Zuwan­de­rern ließen sich inte­grieren. Sobald diese eine kriti­sche Menge über­schritten und als eigen­stän­dige hand­lungs­fä­hige Gruppen orga­ni­siert waren, verschob sich das Macht­ge­füge, die alte Ordnung löste sich auf“.

Ist diese Analogie gerecht­fer­tigt? Vermut­lich nicht. Dafür gibt es vier Gründe.

Thomas Cole: Die Zerstö­rung des Römi­schen Impe­riums, 1836 (Ausschnitt); Quelle: wikimedia.org

Der Unter­gang des Impe­rium Romanum

Wer unter dem Begriff ‚Völker­wan­de­rung‘ aktu­elles Geschehen mit Entwick­lungen in der ausge­henden Antike in Analogie setzt, verzichtet auf einen konsis­tenten Vergleichs­ge­gen­stand. Denn sowohl als analy­ti­sche Kate­gorie wie auch als Beschrei­bungs­be­griff hat ‚Völker­wan­de­rung‘ in der Geschichts­wis­sen­schaft längst ausge­dient. Flucht­punkt jegli­cher Debatte um das, was in Grimms Deut­schem Wörter­buch als „grosze[…] bewe­gung der germa­ni­schen völker am ausgang des alter­thums“ defi­niert und damit erst­mals als Epochen­be­griff fest­ge­schrieben wurde, ist die Frage nach dem Unter­gang des Römi­schen Reiches. Sie wird seit längerem im Kontext eines umfas­senden Trans­for­ma­ti­ons­ge­sche­hens disku­tiert, das in jüngerer Zeit auch um eine umwelt­ge­schicht­liche Kompo­nente erwei­tert wurde und damit nicht zuletzt klima­ti­sche Verän­de­rungen (das sog. „Late Antique Little Ice Age“) und folgen­reiche Epide­mien (die ‚Justi­nia­ni­sche Pest‘) mit in den Blick nimmt.

J.N. Sylvestre, „Der Sacco di Roma am 24.8.410“, 1890; Quelle: wikipedia.org

Die alte Kontro­verse, ob eher innere Ursa­chen oder äußere Gründe wie das Eindringen barba­ri­scher Verbände zum Unter­gang (West)Roms geführt haben, ist dabei längst höchst komplexen Modellen gewi­chen, die zeit­lich, regional, sektoral und perspek­ti­visch diffe­ren­zieren und Ergeb­nisse gene­rieren, die sich kaum mehr auf eine präzise Formel bringen lassen – gemein ist ihnen aber eines: Die ‚Völker­wan­de­rung‘ im Sinne eines außer­ge­wöhn­li­chen, über­grei­fenden, oft mit Gewalt einher­ge­henden Migra­ti­ons­ge­sche­hens, stellt nur noch einen Teil­aspekt inner­halb dieser Modelle dar. Dem wäre noch hinzu­zu­fügen, dass sie zumal in ihrer Engfüh­rung auf einen vermeint­li­chen römisch-germanischen Gegen­satz sowie die damit einher­ge­henden zeit­li­chen (375-568) und räum­li­chen (Westen des Römi­schen Reiches) Eingren­zungen will­kür­lich erscheint. Wer sie für den Unter­gang des Impe­rium Romanum verant­wort­lich erklärt, redu­ziert komplexe histo­ri­sche Entwick­lungen auf banale Floskeln.

Doch auch die ‚Völker­wan­de­rung‘ selbst ist inzwi­schen weit­ge­hend dekon­stru­iert und in andere Sinn­zu­sam­men­hänge einge­bettet worden. Jene ‚Völker‘, die bis in jüngste Zeit als wandernde Einheiten beschrieben wurden, haben als solche nie exis­tiert. Die Vorstel­lung, homo­gene Enti­täten hätten sich um die Zeiten­wende in Skan­di­na­vien auf den Weg gemacht, um Jahr­hun­derte später als Vandalen, Goten, Burgunder oder Franken in die römi­sche Welt einzu­dringen, beruht auf einem roman­ti­schen Volks­be­griff des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts, der sich empi­risch (in den Geschichts- und Sozi­al­wis­sen­schaften sowie der Ethno­logie) und histo­risch (durch seine Wendung ins Rassis­ti­sche, gipfelnd in der Kata­strophe des Holo­caust und des 2. Welt­kriegs) als obsolet erwiesen hat. Weder aktu­elle sozi­al­wis­sen­schaft­liche Defi­ni­tionen eines ‚Volkes‘ (die Inho­mo­ge­nität und Flui­dität betonen) noch politisch-juristische Eingren­zungen lassen sich mit jenen Verbänden und Konfö­de­ra­tionen zur Deckung bringen, auf die wir zwischen Spät­an­tike und Früh­mit­tel­alter stoßen: Flücht­lings­gruppen, die eine hohe mili­tä­ri­sche Schlag­kraft entfalten konnten (z.B. die goti­schen Verbände nach dem Donau­über­gang 376); mobile Armeen mit wach­sender ziviler Beglei­tung und zuneh­mender Kohä­renz (z.B. der Alarich-Verband, der 410 Rom eroberte); Groß­ver­bände auf der Suche nach Inte­gra­tion in das Römi­sche Reich (so etwa die 418/19 in Aqui­ta­nien ange­sie­delten West­goten); Groß­ver­bände auf der Suche nach poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Auto­nomie (die Vandalen in Nord­afrika, denen 442 ein unab­hän­giges regnum zuge­standen wurde); mobile Krie­ger­gruppen in vari­ie­renden Aggre­gats­zu­ständen (d.h. Gewalt­ge­mein­schaften wie die frühen Franken und Alemannen oder auch die goti­schen Verbände, die in der 2. Hälfte des 5. Jahr­hun­derts den Balkan­raum unsi­cher machten); noma­disch geprägte Reiter­ver­bände (Hunnen, Bulgaren, Awaren, Türken); (halb)nomadisch, partiell tribal struk­tu­rierte Verbände mit lang etablierten Bezie­hungen zum Römi­schen Reich und zur römi­schen Lebens­welt (Araber); bäuer­lich geprägte segmen­täre, nichts­des­to­trotz zu punk­tuell gefähr­li­chen Mili­tär­ak­tionen fähige Klein­gruppen (z.B. die frühen Slawen).

Keiner dieser Typen lässt sich mit einem Konzept von ‚Volk‘ ange­messen fassen; nicht ohne Grund vari­ieren und über­schneiden sich die Bedeu­tungen dessen, was Mitle­bende als exer­citus, gens, populus, natio oder ethnos bezeichnet haben, ganz erheb­lich. Die Völker­wan­de­rung kennt keine Völker.

Mobi­lität als Normalität

Sie kennt indes auch keine Wande­rungen. Komplexes Migra­ti­ons­ge­schehen ist den Römern nie fremd gewesen; das Impe­rium Romanum stellte einen gewal­tigen Binnen­mo­bi­li­täts­raum dar, in dem zahl­lose Personen und Gruppen unter­wegs waren: Soldaten, Händler, Kleriker, Amts­träger, Ange­hö­rige der Eliten, Pilger und andere mehr. So manche Gruppe, wie etwa der Alarich-Verband, hat den Boden des Reiches sogar nie verlassen.

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Mobi­lität – nicht Sess­haf­tig­keit – war die Grund­dis­po­si­tion der Menschen in der Antike. Auch Immi­gra­tion haben die Römer – wenn­gleich streng kana­li­siert – stets begrüßt und geför­dert, denn sie diente dem Güter­transfer, versorgte die Armee mit güns­tigen Soldaten und entlas­tete Grund­be­sitzer auf der Suche nach Arbeits­kräften. Was sich in der Spät­an­tike änderte, war nicht das Phänomen Migra­tion (als Teil­aspekt umfas­sender Mobi­lität) an sich, sondern ledig­lich ihre Massi­vität, Inten­sität, Diver­sität und Varia­bi­lität in Verbin­dung mit haus­ge­machten Problemen. Gerade letz­terer Punkt hat manchen sogar zu der provo­kanten These geleitet, dass der Unter­gang des Römi­schen Reiches nicht die Folge der ‚Völker­wan­de­rung‘ gewesen sei, sondern deren Voraus­set­zung. Migra­tion allein jeden­falls erklärt im antiken Kontext noch nichts.

So müssen wir uns also von den tradi­tio­nellen Vorstel­lungen, die im Begriff der Völker­wan­de­rung einge­la­gert sind, verabschieden.

Auch das aktu­elle Migra­ti­ons­ge­schehen selbst erscheint kaum geeignet, das klas­si­sche Unter­gangs­nar­rativ der ‚Völker­wan­de­rung‘ histo­risch erfahrbar zu machen. Dieje­nigen Krite­rien jeden­falls, die für eine exis­ten­zi­elle Bedro­hung einer Ordnung erfüllt sein müssen – unsi­chere Hand­lungs­op­tionen, Infra­ge­stel­lung von Routinen, hohe Emotio­na­lität, Zeit­druck, Dramatik und eine hege­mo­niale Bedro­hungs­kom­mu­ni­ka­tion – lassen sich mit Blick auf die Vorgänge seit dem Sommer 2015 nicht oder nur partiell aufweisen; für die aktu­elle Coro­na­krise sieht dies schon ganz anders aus. Das führt letzt­lich dazu, dass Analo­gie­bil­dungen zwischen ‚Völker­wan­de­rung‘ und ‚Migra­ti­ons­krise‘ sich auf einen nicht konsis­tenten, im Wesent­li­chen aus Projek­tionen bestehenden scheinbar histo­ri­schen Vergleichs­ge­gen­stand beziehen, um eine empi­risch nicht beleg­bare und theo­re­tisch nicht begründ­bare, inso­fern kaum wahr­schein­liche Zukunfts­pro­gnose aus der Gegen­wart heraus zu fundieren.

Die trüge­ri­sche Perspek­tive des Nationalstaats

In den letzten Jahren war häufig vom Ende des Zeit­al­ters der Natio­nal­staaten die Rede; dabei wurden über­grei­fende Verbünde wie die Euro­päi­sche Union, die Stär­kung staa­ten­über­grei­fender Orga­ni­sa­tionen und Netz­werke, allge­mein die Globa­li­sie­rung, aber nicht zuletzt auch das Phänomen der failed states ange­führt. Allein: In Krisen-, Druck- oder gar Bedro­hungs­si­tua­tionen platzt aus allen wohl­ge­meinten supra­na­tio­nalen Gebilden mit Macht wieder der Natio­nal­staat hervor, wie er im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts Gestalt gewonnen hat. Poli­tisch mag zwar ein Prozess einge­setzt haben, der auf die zumin­dest parti­elle Über­win­dung des Natio­nal­staates zielt; kollek­tive Wahr­neh­mungen und Hand­lungen leitet er bisher jedoch nicht an. So nimmt es nicht wunder, dass auch die ‚Völker­wan­de­rung‘ weiterhin unwill­kür­lich durch die natio­nal­staat­liche Brille betrachtet wird: In jene regna, die man etwas unglück­lich als ‚gentil‘ bezeichnet hat und inzwi­schen zumeist ‚post­rö­misch‘ nennt (‚meta­rö­misch‘ wäre vermut­lich ein besserer Ausdruck, denn zwischen ihnen und der römi­schen Geschichte liegt keine klare Zäsur und in ihrer Struktur präsen­tieren sie sich zunächst weiterhin vorwie­gend römisch), wird der Ursprung der modernen euro­päi­schen Staa­ten­welt hinein­pro­ji­ziert: Die Franken als Arche­geten des modernen Frank­reich, Lango­barden und Goten als frühe Baumeister eines späteren italie­ni­schen Natio­nal­staates, ‚germa­ni­sche‘ Herr­schafts­bil­dungen in Mittel­eu­ropa diffus als Ursprung Deutsch­lands und selbst in Spanien entdeckt man inzwi­schen die ‚eigene‘ west­go­ti­sche Vergangenheit.

Hier wäre mit einigen Irrtü­mern aufzu­räumen. Zunächst einmal: Im Selbst­ver­ständnis der Akteure setzten fast alle post- bzw. meta­rö­mi­schen regna das Impe­rium Romanum nahtlos fort bzw. galten als dessen Teile. Chlodwig I. oder Theo­de­rich d.Gr. wären nie darauf gekommen, ihre Posi­tion unab­hängig vom Römi­schen Reich zu defi­nieren; und selbst ein Geiserich, der zunächst auf diese Karte gesetzt hatte, vermochte sich nie aus jenem römi­schen Refe­renz­rahmen zu eman­zi­pieren, in den schließ­lich auch Attila als Anführer einer über­di­men­sio­nierten reiter­krie­ge­ri­schen Macht­bil­dung eintau­chen musste. In den Ursprungs­ge­schichten, die Goten, Franken, Lango­barden und andere sich im Über­gang zum Früh­mit­tel­alter schufen, geht es zuvör­derst um die Einbin­dung der einzelnen Verbände in einen christlich-antiken Kontext und gerade nicht um Distanz­wah­rung oder Beto­nung des Eigenen und Neuen.

Die „ethni­sche Wende“ des Frühmittelalters

Doch auch das Impe­rium Romanum, in das jene regna sich zunächst einschrieben, war nie ein Gebilde, das man als Natio­nal­staat beschreiben könnte. All das, was einen solchen ausmacht, fehlte ihm – bis hin zu zum iden­ti­täts­stif­tenden, fundie­renden Grün­dungs­my­thos. Selbst­ver­ständ­lich war man stolz auf die Geschichte des Aeneas und die Grün­dungs­he­roen Romulus und Remus. Doch diese Mythen blieben stets allein auf die Stadt Rom bezogen, wurden nie auf das Impe­rium ausge­dehnt. Zudem besaß nahezu jede andere größere Stadt dieses Reiches ihre eigenen Grün­dungs­my­then. Das Römi­sche Reich war nie eine Nation, und die regna, die sich orga­nisch aus diesem heraus entwi­ckelten, konnten es daher zunächst auch nicht sein. Sichtbar ist dies nicht zuletzt in den Königs­ti­teln spät­an­tiker und früh­mit­tel­al­ter­li­cher Herr­scher, in denen ethni­sche Deno­mi­na­tionen kaum eine Rolle spielten.

„Germa­nenzug“, kolo­rierter Stich, spätes 19. Jh., Quelle: faz.de

Theo­de­rich d.Gr. etwa nannte sich schlicht Flavius Theo­de­ricus rex, und der Königs­titel rex Vandalorum et Alan­orum sollte nicht abgren­zend nach außen wirken, sondern vor allem inte­grie­rend nach innen, indem er signa­li­sierte, dass die Inho­mo­ge­nität des Verbandes in der verein­heit­li­chenden Herr­schaft aufge­fangen wurde. Erst im Verlauf des Früh­mit­tel­al­ters lässt sich beob­achten, dass ethni­sche Zusätze allmäh­lich eine Bedeu­tung gewinnen. Erst ab dem 7. Jahr­hun­dert etwa wird aus der auf Chlodwig zurück­ge­henden Macht­bil­dung langsam ein regnum Fran­corum. Mit dem schritt­weisen Verblassen römi­scher Struk­turen setzte ein Prozess ein, den man als „ethni­sche Wende“ des Früh­mit­tel­al­ters bezeichnet hat – eine Nach­eth­ni­sie­rung meta­rö­mi­scher regna, die dadurch begannen, spezi­fi­sche Iden­ti­täten auszu­formen und zu verfes­tigen, um sich gleich­zeitig von zentralen Bezugs­punkten antiker Iden­ti­täts­bil­dung zu lösen: polis, res publica, impe­rium. Die Nach­eth­ni­sie­rung aber lag weit vor der Nationalisierung.

Histo­riker müssen sich wohl einge­stehen, dass zu den grund­le­genden Schwie­rig­keiten ihres Tuns die Tatsache gehört, dass gerade histo­ri­sche Vergleiche, die in beson­derer Weise öffent­liche Aufmerk­sam­keit und Rele­vanz erzeugen, entweder keine validen Ergeb­nisse erbringen oder Resul­tate auf sehr allge­meinen Ebenen gene­rieren. Aus diesem Grund bin ich auch skep­tisch, was das berühmte ‚Lernen aus der Geschichte‘ angeht; es setzt voraus, dass Geschichte sich – zumin­dest in wesent­li­chen Struk­tur­be­stand­teilen – wieder­holt und dass anthro­po­lo­gi­schen Konstanten zentrale Bedeu­tung zuge­messen werden kann; empi­risch sind derar­tige Konstanten aber nur selten zu beob­achten und histo­ri­sche Rahmen­be­din­gungen unter­scheiden sich in der Regel erheb­lich. Das gilt auch für die spät­rö­mi­sche Geschichte und unsere Gegen­wart. Die ‚Völker­wan­de­rung‘ bleibt auch aktuell das, was sie seit ihrem Aufstieg ins bürger­liche Bildungsgut im 19. Jahr­hun­dert stets gewesen ist: Ein Asso­zia­ti­ons­amalgam, eine Projek­ti­ons­fläche, offen für Inter­pre­ta­tionen, Iden­ti­fi­ka­tionen und Instru­men­ta­li­sie­rungen. Es lohnt, von Zeit zu Zeit daran zu erinnern.