Völkerwanderung ist ein assoziationsschwerer Begriff. Wer ihn heutzutage verwendet, weiß zumeist nicht, was er tut – oder er weiß es ganz genau und tut es eben deshalb. Zumal im deutschen Sprachraum sind die Vorstellungskontexte relativ konkret: Endlose Trecks bewaffneter ‚Germanen‘, die mit ihren Familien auf notdürftig zusammengezimmerten Planwagen aus dem ‚Norden‘ kommend sich auf das Römische Reich zubewegen und dort Chaos und Verwüstung anrichten, um schließlich auf römischem Territorium eigenständige ‚Reiche‘ zu errichten und damit das Fundament der späteren Ordnung Europas zu legen.
Migration, Zerstörung, grundlegender Neubeginn in Richtung einer ungewissen Zukunft auf dem Schutt des Niedergerissenen – so lautet das klassische Völkerwanderungsnarrativ, das auch in aktuellen Publikationen gerne noch aufbereitet wird, in den meisten Fällen enggeführt auf einen römisch-germanischen Gegensatz: „Germanen gegen Rom“ – dies der vielsagende Titel eines Themenheftes zur Völkerwanderung aus der Reihe ‚Geo Epoche‘ im Jahr 2015. Und im Jahr 2008 formulierte Reinhard Pohanka in einer Einführung unter dem Titel „Die Völkerwanderung“ bündig: „Die Völkerwanderung kann definiert werden als eine Wanderungsbewegung germanischer Stämme von Norden nach Süden, wobei diese später – von den Hunnen bedroht – in das Römische Reich einfallen und 476 das Ende des Weströmischen Reiches herbeiführen“.
Hier kristallisieren sich Elemente eines simplifizierenden Vorstellungskonglomerats aus, mit dem wir alle sozialisiert worden sind und das wir daher ganz unwillkürlich abrufen, sobald der Terminus ‚Völkerwanderung‘ fällt. Damit schaffen wir unreflektiert einen Verständnishorizont, wenn seit 2015 vermehrt von einer „neuen Völkerwanderung“ gesprochen wird – und wer sich im öffentlichen Diskurs entsprechend äußert, evoziert nur selten unbedacht spezifische Assoziationen: Massenmigration führt in Zerstörung und eine ungewisse Zukunft, über deren Gestaltung wir allmählich die Hoheit verlieren. Der Althistoriker Alexander Demandt hat just mit diesem Nexus gespielt, als er im Januar 2016 in der FAZ einen vieldiskutierten Beitrag über Völkerwanderung und das Ende Roms mit den Worten beschloss: „Überschaubare Zahlen von Zuwanderern ließen sich integrieren. Sobald diese eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge, die alte Ordnung löste sich auf“.
Ist diese Analogie gerechtfertigt? Vermutlich nicht. Dafür gibt es vier Gründe.

Thomas Cole: Die Zerstörung des Römischen Imperiums, 1836 (Ausschnitt); Quelle: wikimedia.org
Der Untergang des Imperium Romanum
Wer unter dem Begriff ‚Völkerwanderung‘ aktuelles Geschehen mit Entwicklungen in der ausgehenden Antike in Analogie setzt, verzichtet auf einen konsistenten Vergleichsgegenstand. Denn sowohl als analytische Kategorie wie auch als Beschreibungsbegriff hat ‚Völkerwanderung‘ in der Geschichtswissenschaft längst ausgedient. Fluchtpunkt jeglicher Debatte um das, was in Grimms Deutschem Wörterbuch als „grosze[…] bewegung der germanischen völker am ausgang des alterthums“ definiert und damit erstmals als Epochenbegriff festgeschrieben wurde, ist die Frage nach dem Untergang des Römischen Reiches. Sie wird seit längerem im Kontext eines umfassenden Transformationsgeschehens diskutiert, das in jüngerer Zeit auch um eine umweltgeschichtliche Komponente erweitert wurde und damit nicht zuletzt klimatische Veränderungen (das sog. „Late Antique Little Ice Age“) und folgenreiche Epidemien (die ‚Justinianische Pest‘) mit in den Blick nimmt.

J.N. Sylvestre, „Der Sacco di Roma am 24.8.410“, 1890; Quelle: wikipedia.org
Die alte Kontroverse, ob eher innere Ursachen oder äußere Gründe wie das Eindringen barbarischer Verbände zum Untergang (West)Roms geführt haben, ist dabei längst höchst komplexen Modellen gewichen, die zeitlich, regional, sektoral und perspektivisch differenzieren und Ergebnisse generieren, die sich kaum mehr auf eine präzise Formel bringen lassen – gemein ist ihnen aber eines: Die ‚Völkerwanderung‘ im Sinne eines außergewöhnlichen, übergreifenden, oft mit Gewalt einhergehenden Migrationsgeschehens, stellt nur noch einen Teilaspekt innerhalb dieser Modelle dar. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass sie zumal in ihrer Engführung auf einen vermeintlichen römisch-germanischen Gegensatz sowie die damit einhergehenden zeitlichen (375-568) und räumlichen (Westen des Römischen Reiches) Eingrenzungen willkürlich erscheint. Wer sie für den Untergang des Imperium Romanum verantwortlich erklärt, reduziert komplexe historische Entwicklungen auf banale Floskeln.
Doch auch die ‚Völkerwanderung‘ selbst ist inzwischen weitgehend dekonstruiert und in andere Sinnzusammenhänge eingebettet worden. Jene ‚Völker‘, die bis in jüngste Zeit als wandernde Einheiten beschrieben wurden, haben als solche nie existiert. Die Vorstellung, homogene Entitäten hätten sich um die Zeitenwende in Skandinavien auf den Weg gemacht, um Jahrhunderte später als Vandalen, Goten, Burgunder oder Franken in die römische Welt einzudringen, beruht auf einem romantischen Volksbegriff des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der sich empirisch (in den Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie der Ethnologie) und historisch (durch seine Wendung ins Rassistische, gipfelnd in der Katastrophe des Holocaust und des 2. Weltkriegs) als obsolet erwiesen hat. Weder aktuelle sozialwissenschaftliche Definitionen eines ‚Volkes‘ (die Inhomogenität und Fluidität betonen) noch politisch-juristische Eingrenzungen lassen sich mit jenen Verbänden und Konföderationen zur Deckung bringen, auf die wir zwischen Spätantike und Frühmittelalter stoßen: Flüchtlingsgruppen, die eine hohe militärische Schlagkraft entfalten konnten (z.B. die gotischen Verbände nach dem Donauübergang 376); mobile Armeen mit wachsender ziviler Begleitung und zunehmender Kohärenz (z.B. der Alarich-Verband, der 410 Rom eroberte); Großverbände auf der Suche nach Integration in das Römische Reich (so etwa die 418/19 in Aquitanien angesiedelten Westgoten); Großverbände auf der Suche nach politischer und wirtschaftlicher Autonomie (die Vandalen in Nordafrika, denen 442 ein unabhängiges regnum zugestanden wurde); mobile Kriegergruppen in variierenden Aggregatszuständen (d.h. Gewaltgemeinschaften wie die frühen Franken und Alemannen oder auch die gotischen Verbände, die in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts den Balkanraum unsicher machten); nomadisch geprägte Reiterverbände (Hunnen, Bulgaren, Awaren, Türken); (halb)nomadisch, partiell tribal strukturierte Verbände mit lang etablierten Beziehungen zum Römischen Reich und zur römischen Lebenswelt (Araber); bäuerlich geprägte segmentäre, nichtsdestotrotz zu punktuell gefährlichen Militäraktionen fähige Kleingruppen (z.B. die frühen Slawen).
Keiner dieser Typen lässt sich mit einem Konzept von ‚Volk‘ angemessen fassen; nicht ohne Grund variieren und überschneiden sich die Bedeutungen dessen, was Mitlebende als exercitus, gens, populus, natio oder ethnos bezeichnet haben, ganz erheblich. Die Völkerwanderung kennt keine Völker.
Mobilität als Normalität
Sie kennt indes auch keine Wanderungen. Komplexes Migrationsgeschehen ist den Römern nie fremd gewesen; das Imperium Romanum stellte einen gewaltigen Binnenmobilitätsraum dar, in dem zahllose Personen und Gruppen unterwegs waren: Soldaten, Händler, Kleriker, Amtsträger, Angehörige der Eliten, Pilger und andere mehr. So manche Gruppe, wie etwa der Alarich-Verband, hat den Boden des Reiches sogar nie verlassen.
Mobilität – nicht Sesshaftigkeit – war die Grunddisposition der Menschen in der Antike. Auch Immigration haben die Römer – wenngleich streng kanalisiert – stets begrüßt und gefördert, denn sie diente dem Gütertransfer, versorgte die Armee mit günstigen Soldaten und entlastete Grundbesitzer auf der Suche nach Arbeitskräften. Was sich in der Spätantike änderte, war nicht das Phänomen Migration (als Teilaspekt umfassender Mobilität) an sich, sondern lediglich ihre Massivität, Intensität, Diversität und Variabilität in Verbindung mit hausgemachten Problemen. Gerade letzterer Punkt hat manchen sogar zu der provokanten These geleitet, dass der Untergang des Römischen Reiches nicht die Folge der ‚Völkerwanderung‘ gewesen sei, sondern deren Voraussetzung. Migration allein jedenfalls erklärt im antiken Kontext noch nichts.
So müssen wir uns also von den traditionellen Vorstellungen, die im Begriff der Völkerwanderung eingelagert sind, verabschieden.
Auch das aktuelle Migrationsgeschehen selbst erscheint kaum geeignet, das klassische Untergangsnarrativ der ‚Völkerwanderung‘ historisch erfahrbar zu machen. Diejenigen Kriterien jedenfalls, die für eine existenzielle Bedrohung einer Ordnung erfüllt sein müssen – unsichere Handlungsoptionen, Infragestellung von Routinen, hohe Emotionalität, Zeitdruck, Dramatik und eine hegemoniale Bedrohungskommunikation – lassen sich mit Blick auf die Vorgänge seit dem Sommer 2015 nicht oder nur partiell aufweisen; für die aktuelle Coronakrise sieht dies schon ganz anders aus. Das führt letztlich dazu, dass Analogiebildungen zwischen ‚Völkerwanderung‘ und ‚Migrationskrise‘ sich auf einen nicht konsistenten, im Wesentlichen aus Projektionen bestehenden scheinbar historischen Vergleichsgegenstand beziehen, um eine empirisch nicht belegbare und theoretisch nicht begründbare, insofern kaum wahrscheinliche Zukunftsprognose aus der Gegenwart heraus zu fundieren.
Die trügerische Perspektive des Nationalstaats
In den letzten Jahren war häufig vom Ende des Zeitalters der Nationalstaaten die Rede; dabei wurden übergreifende Verbünde wie die Europäische Union, die Stärkung staatenübergreifender Organisationen und Netzwerke, allgemein die Globalisierung, aber nicht zuletzt auch das Phänomen der failed states angeführt. Allein: In Krisen-, Druck- oder gar Bedrohungssituationen platzt aus allen wohlgemeinten supranationalen Gebilden mit Macht wieder der Nationalstaat hervor, wie er im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Gestalt gewonnen hat. Politisch mag zwar ein Prozess eingesetzt haben, der auf die zumindest partielle Überwindung des Nationalstaates zielt; kollektive Wahrnehmungen und Handlungen leitet er bisher jedoch nicht an. So nimmt es nicht wunder, dass auch die ‚Völkerwanderung‘ weiterhin unwillkürlich durch die nationalstaatliche Brille betrachtet wird: In jene regna, die man etwas unglücklich als ‚gentil‘ bezeichnet hat und inzwischen zumeist ‚poströmisch‘ nennt (‚metarömisch‘ wäre vermutlich ein besserer Ausdruck, denn zwischen ihnen und der römischen Geschichte liegt keine klare Zäsur und in ihrer Struktur präsentieren sie sich zunächst weiterhin vorwiegend römisch), wird der Ursprung der modernen europäischen Staatenwelt hineinprojiziert: Die Franken als Archegeten des modernen Frankreich, Langobarden und Goten als frühe Baumeister eines späteren italienischen Nationalstaates, ‚germanische‘ Herrschaftsbildungen in Mitteleuropa diffus als Ursprung Deutschlands und selbst in Spanien entdeckt man inzwischen die ‚eigene‘ westgotische Vergangenheit.
Hier wäre mit einigen Irrtümern aufzuräumen. Zunächst einmal: Im Selbstverständnis der Akteure setzten fast alle post- bzw. metarömischen regna das Imperium Romanum nahtlos fort bzw. galten als dessen Teile. Chlodwig I. oder Theoderich d.Gr. wären nie darauf gekommen, ihre Position unabhängig vom Römischen Reich zu definieren; und selbst ein Geiserich, der zunächst auf diese Karte gesetzt hatte, vermochte sich nie aus jenem römischen Referenzrahmen zu emanzipieren, in den schließlich auch Attila als Anführer einer überdimensionierten reiterkriegerischen Machtbildung eintauchen musste. In den Ursprungsgeschichten, die Goten, Franken, Langobarden und andere sich im Übergang zum Frühmittelalter schufen, geht es zuvörderst um die Einbindung der einzelnen Verbände in einen christlich-antiken Kontext und gerade nicht um Distanzwahrung oder Betonung des Eigenen und Neuen.
Die „ethnische Wende“ des Frühmittelalters
Doch auch das Imperium Romanum, in das jene regna sich zunächst einschrieben, war nie ein Gebilde, das man als Nationalstaat beschreiben könnte. All das, was einen solchen ausmacht, fehlte ihm – bis hin zu zum identitätsstiftenden, fundierenden Gründungsmythos. Selbstverständlich war man stolz auf die Geschichte des Aeneas und die Gründungsheroen Romulus und Remus. Doch diese Mythen blieben stets allein auf die Stadt Rom bezogen, wurden nie auf das Imperium ausgedehnt. Zudem besaß nahezu jede andere größere Stadt dieses Reiches ihre eigenen Gründungsmythen. Das Römische Reich war nie eine Nation, und die regna, die sich organisch aus diesem heraus entwickelten, konnten es daher zunächst auch nicht sein. Sichtbar ist dies nicht zuletzt in den Königstiteln spätantiker und frühmittelalterlicher Herrscher, in denen ethnische Denominationen kaum eine Rolle spielten.

„Germanenzug“, kolorierter Stich, spätes 19. Jh., Quelle: faz.de
Theoderich d.Gr. etwa nannte sich schlicht Flavius Theodericus rex, und der Königstitel rex Vandalorum et Alanorum sollte nicht abgrenzend nach außen wirken, sondern vor allem integrierend nach innen, indem er signalisierte, dass die Inhomogenität des Verbandes in der vereinheitlichenden Herrschaft aufgefangen wurde. Erst im Verlauf des Frühmittelalters lässt sich beobachten, dass ethnische Zusätze allmählich eine Bedeutung gewinnen. Erst ab dem 7. Jahrhundert etwa wird aus der auf Chlodwig zurückgehenden Machtbildung langsam ein regnum Francorum. Mit dem schrittweisen Verblassen römischer Strukturen setzte ein Prozess ein, den man als „ethnische Wende“ des Frühmittelalters bezeichnet hat – eine Nachethnisierung metarömischer regna, die dadurch begannen, spezifische Identitäten auszuformen und zu verfestigen, um sich gleichzeitig von zentralen Bezugspunkten antiker Identitätsbildung zu lösen: polis, res publica, imperium. Die Nachethnisierung aber lag weit vor der Nationalisierung.
Historiker müssen sich wohl eingestehen, dass zu den grundlegenden Schwierigkeiten ihres Tuns die Tatsache gehört, dass gerade historische Vergleiche, die in besonderer Weise öffentliche Aufmerksamkeit und Relevanz erzeugen, entweder keine validen Ergebnisse erbringen oder Resultate auf sehr allgemeinen Ebenen generieren. Aus diesem Grund bin ich auch skeptisch, was das berühmte ‚Lernen aus der Geschichte‘ angeht; es setzt voraus, dass Geschichte sich – zumindest in wesentlichen Strukturbestandteilen – wiederholt und dass anthropologischen Konstanten zentrale Bedeutung zugemessen werden kann; empirisch sind derartige Konstanten aber nur selten zu beobachten und historische Rahmenbedingungen unterscheiden sich in der Regel erheblich. Das gilt auch für die spätrömische Geschichte und unsere Gegenwart. Die ‚Völkerwanderung‘ bleibt auch aktuell das, was sie seit ihrem Aufstieg ins bürgerliche Bildungsgut im 19. Jahrhundert stets gewesen ist: Ein Assoziationsamalgam, eine Projektionsfläche, offen für Interpretationen, Identifikationen und Instrumentalisierungen. Es lohnt, von Zeit zu Zeit daran zu erinnern.