Als ich 2009 in die Schweiz kam, lief gerade eine politische Kampagne gegen deutsche ProfessorInnen. Die rechtspopulistische SVP, Vorbild für die AfD, hatte dazu aufgerufen. Mit Parolen wie „Deutscher Filz macht sich breit. Denn Deutsche stellen vor allem Deutsche an – an der Uni und in den Spitälern“ wollten sie in der Bevölkerung Stimmung gegen deutsche AusländerInnen und für sich selbst machen, als Partei, die Arbeitsplätze für Schweizer sichert. Es ist dieselbe Partei, die sich gegen die Erhöhung der Akademikerquote in der Schweiz einsetzt, also dagegen, dass beispielsweise mehr Schweizerinnen und Schweizer studieren und die fraglichen Stellen selbst besetzen können; die gleiche Partei, die sich gegen Steuererhöhungen für Unternehmen ausspricht, jene Unternehmen, die sich in der Schweiz erleichtert ansiedeln und dafür sorgen, dass immer mehr ausländische Arbeitskräfte angestellt werden; jene Partei, die die staatliche Subventionierung von Kinderbetreuung mit Kampagnen gegen „Staatskinder“ bekämpft und so ihre eigenen Schweizerinnen davon abhält, arbeiten zu gehen. Kurzum: Es ist jene Partei, deren politisches Prinzip es ist, für die Probleme, gegen die sie kämpft, in der Regel selbst zu sorgen.
Das Schweigen im Walde
Was mich aber am meisten irritierte: In der Schweizer Presse waren die Reaktionen auf diese Vorwürfe verhalten, es gab kaum ernstzunehmende Recherchen oder Analysen, die das Thema kritisch beleuchteten. Vielmehr setzten sich Schweizer ProfessorInnen, 200 an der Zahl, gegen die Verunglimpfung zur Wehr und solidarisierten sich mit ihren deutschen KollegInnen. In einer ganzseitigen Anzeige in der NZZ bekundeten sie ihre Sorge über die „rassistische und fremdenfeindliche Rhetorik, Ideologie und Politik der SVP“. Von der Presse selbst wurde mehrheitlich nur „berichtet“, hier die „Meinung“ der SVP, dort die „Meinung“ der Professoren. Eine Debatte über die politische Funktion solcher Hetzaufrufe blieb aus.
In der Regel herrschte – auch an der Universität – die Meinung vor, man solle der SVP nicht noch eine Bühne geben, ihre Meinung nicht „salonfähig“ machen, besser gar nicht auf den Blödsinn reagieren. Abwinken, war die Devise, Abwinken bei einer Partei, die bis zu 30% Prozentpunkte bei nationalen Wahlen und über 50% bei Volksabstimmungen mit fremdenfeindlichen Kampagnen einfährt? Ist das Kapitulation? Oder Gewöhnung? Die Reaktion war umso erstaunlicher, als die SVP ja längst über eine Bühne verfügte, eine Art Parteizeitung hatte und hat, die Weltwoche. Seit 2015 ist Verleger und Chefredaktor Roger Köppel sogar Nationalrat der SVP und macht in der Weltwoche offen Politik für seine Partei. Das hat es in der Eindeutigkeit wohl zuletzt im Neuen Deutschland gegeben oder in der Pravda.
Pranger als Methode
Ich denke, bei diesem gesellschaftlichen und journalistischen Schweigen handelt es sich nicht um Kapitulation, sondern um Angst. Es ist eine berechtigte Angst, eine Angst davor, zum Gegenstand einer politischen Kampagne von Weltwoche und SVP zu werden. Denn unter Köppels Verantwortung initiiert die Weltwoche regelmäßig Kampagnen gegen Intellektuelle. Das Grundmuster dabei ist: „Linke“ Intellektuelle (Uniprofessoren, Schriftsteller, Publizisten) als „politisch“ verführt, als Ideologen darzustellen. Nur damit man den Witz nicht verpasst: Eine Zeitung, die de facto als Parteiorgan einer rechtsnationalistischen Partei agiert, fährt Kampagnen gegen „Ideologen“.
Die Wortwahl dieser Kampagnen erinnert an die Intellektuellenhetze der Parteidiktaturen im ehemaligen Ostblock. Auf einem Weltwoche-Cover vom Oktober 2012 stand: „Vor diesen Professoren wird gewarnt.“ In der Ankündigung waren dann Sätze zu lesen wie: „Die Schweizer Universitäten und Hochschulen sehen sich als Horte des freien Denkens und der reinen Wissenschaft. Ideologen sind immer die anderen. Doch unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit verbreiten Professoren zeitgeistige Irrlehren.“
Wie der russische Propagandasender RT, wie auch Erdogan, Trump und die AfD arbeitet die Weltwoche bzw. die SVP mit der bekannten Umkehrungslogik von Populisten: Kritik und Protest werden als Zensur uminterpretiert, Verleumdung und Hetze als Kritik und Verteidigung von Meinungsfreiheit dargestellt. Man selbst stilisiert sich als andersdenkend, als oppositionell – und dies mit eigener Zeitung bzw. einer ganzen Reihe von Zeitungen, die „Parteistratege“ Blocher inzwischen eingekauft hat.
Freiheit, Kritik und Opposition fungieren in dieser Logik als Verführungsvokabeln. Denn Populismus bedeutet als Praxis vor allem Verführung, d.h. andere zu etwas zu verführen, wovon man selbst am meisten profitiert (Auflagenhöhe, Klicks, Aufmerksamkeit, Wählerstimmen, Geld). Bei der Kampagne gegen die ProfessorInnen zitierte die Weltwoche ihre Praxis selbst: „Ideologen sind immer die anderen“. Gezielt wurde dabei nicht mehr auf eine diffuse Gruppe von „Linken“ oder Deutschen, sondern auf einzelne Personen, auf ProfessorInnen, die sich mit Theorien beschäftigen, die die Weltwoche als „Irrlehren“ verstanden wissen will: Klimawandel, Keynesianismus, Genderforschung. Oder auf solche, die in der Öffentlichkeit schlicht den Rassismus politischer Parteien, die Minarettinitiative oder den Populismus von einigen Schweizer Medien kritisiert haben. Die ProfessorInnen wurden mit Bild (Polaroidanmutung) auf eine Wand gepinnt und in Prangerästhetik ausgestellt.

Weltwoche, 3.10.2012
Auf einzelne Personen zu zielen ist natürlich effektiver, weil es beim Schießen auf Einzelne weniger Gruppensolidarität gibt und weil das Ausstellen des Einzelnen zugleich für alle als Abschreckung wirkt. Eine Anzeige wurde diesmal nicht geschaltet, die Debatte blieb wieder aus. Wieder wurde abgewunken. Auf den Quatsch solle man gar nicht reagieren, das sei keine Beleidigung, eher eine Ehrerhöhung, wenn man von einem solchen Schmierenblatt als „Irrlehrer“ bezeichnet werde. Aus Solidarität mit den an den Pranger gehefteten ProfessorInnen trugen einige KollegInnen und ich selbst auch Plaketten mit der Aufschrift: „Ich verbreite Irrlehren!“ Ich fühlte mich wie damals in der DDR.
Anti-PC-Serien
In der Zwischenzeit führte die Weltwoche mehrere gezielte Kampagnen gegen UniversitätsprofessorInnen durch. Es sind üble Kampagnen, in denen einzelne KollegInnen nicht nur als „Ideologen“ dargestellt, sondern auch auf infame Weise persönlich beleidigt werden. In der Regel folgen auf solche Kampagnen Drohbriefe, Drohanrufe, Droh-E-Mails und Hasskommentare von Menschen, die sich durch die Artikel ermuntert fühlen, ihrem Hass auf Akademiker oder auf „Linke“ oder auf Frauen freien Lauf zu lassen.
Es ist dieselbe Zeitung, die sich parallel zu den Hetzkampagnen ganz dem Kampf gegen Political Correctness verschrieben hat. Der Kampf gegen PC soll die eigene Praxis der Verunglimpfung als „Meinungs-Freiheit“ legitimieren. Die Logik ist denkbar einfach, geradezu obszön offensichtlich: Was nicht in den eigenen politischen Kram passt, ist Irrlehre, Verschwörungstheorie oder Ideologie, alles, was man hingegen selbst verbreitet: Freiheit, wagemutiger Kampf, Meinungsstärke. Dazu gehört auch, dass sexistische oder ausländerfeindliche Bemerkungen im Sinne der Freiheit, ja geradezu als Äußerung von Freiheit zulässig sein sollen.
Unterstützt wird die Weltwoche in diesem „Befreiungskampf“ inzwischen vom Feuilleton der NZZ, das eine regelrechte Anti-PC-Serie lanciert hat. Reihenweise werden Kollegen aufgeboten, Žižek gleich mehrfach in der Rolle des Linken, der gegen „links“ argumentiert, dazu Baberowski, Gumbrecht etc.: Sie alle erblicken das Übel der Zeit in der Political Correctness – einer Kultur, die ihnen nach eigener Darstellung zunehmend ihre Freiheit raube. Sie ärgern sich über die „linke Meinungspolizei“ oder über Datingpraktiken in den USA, haben Angst, dass man in Zukunft Verträge schließen müsse, wenn man Sex haben wolle: „Die Träume der politisch Korrekten sind die Albträume einer freien Gesellschaft“, resümiert Žižek. Andere fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, weil sie angeblich „Studierende“ sagen „müssen“, weil sie Frauen grammatikalisch mit adressieren sollen oder weil sie orientierungslos vor Transgender-Toiletten stehen.
Meine Realität ist eine andere. Ich habe KollegInnen, die von mächtigen rechtsnationalen Zeitungen, die sich über „PC“ als Linksideologie aufregen, persönlich angegriffen werden; die gezielt diffamiert werden, KollegInnen, die in der Rubrik „Personenkontrolle“ landen (so heisst die dafür spezialisierte polizistische Rubrik in der Weltwoche), wenn sie Forschungen betreiben, die als Ideologie diskreditiert werden sollen, KollegInnen, die damit rechnen müssen, auf antifeministischen Prangerseiten zu landen und bedroht zu werden, wenn sie sich in der medialen Öffentlichkeit über Antifeminismus, Maskulismus und Männerrechtsbewegungen äußern.
Meine „Freiheit“ wurde bislang nicht durch Political Correctness bedroht, wohl aber durch Medien und Politiker, die kritisches Denken als Zensur und Ideologie umdeuten. Die Freiheit nehmen uns Medien, die Hass schüren, die versuchen, uns Debatten aufzwingen, die nichts mit der Realität zu tun haben, die versuchen, alles in ihre Umkehrungsmaschinerie hinein zu ziehen. Wenn eine Debatte wirklich dringend notwendig ist, dann ist das eine Debatte über die Verführbarkeit von Journalisten und über die politische Instrumentalisierbarkeit von Medien. Aber in welchem Schweizer Medium sollte sie denn stattfinden?