
Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie haben weltweit dazu geführt, dass die Lehre an den Universitäten – mehr noch als der Unterricht an den Schulen – seit einigen Monaten ganz oder teilweise in den virtuellen digitalen Raum verlagert worden ist. Mit einem solchen, oftmals abrupt vollzogenen Wechsel hatte im Vorfeld kaum jemand gerechnet. Er ist aus guten Gründen passiert, und er findet aus guten Gründen weiterhin statt. Eine Reflexion dieses Prozesses ist gleichwohl, oder eben deshalb, wichtig. Wie werden sich Universitäten künftig zum vielfältigen Prozess der Digitalisierung verhalten? Was sollte auf der Ebene nicht nur der Lehre, sondern auch der Forschung, der Kooperation, der Verwaltung, der Bibliotheken, der Archive, der Öffentlichkeitsarbeit passieren?
ChL/SZ: Oliver Ruf, Du hast gerade ein Buch zum Thema veröffentlich: Die digitale Universität. Hat die aktuelle COVID-19-Pandemie mit ihren Folgen für die Universitäten das Projekt dieses Buches eher beschleunigt oder gebremst?
Oliver Ruf: Ich wurde überrumpelt und auch regelrecht überwältigt. Das Buch hatte ich vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen und meines Engagements für die Zukunft der Hochschullehre bereits kurz vor Corona begonnen. Damals war ich Mitglied des Netzwerks Lehren der Toepfer-Stiftung geworden, hatte mich ein Jahr lang mit Kolleg*innen aus fast allen Disziplinen getroffen und zu diesem Thema debattiert. Außerdem hatte ich für eine Publikation des Projekts nexus der deutschen Hochschulrektorenkonferenz bereits über den Digitalen Wandel in Studium und Lehre gearbeitet und auch einen Vortrag dazu an der Technischen Universität Kaiserslautern gehalten. Als dann der Lockdown im Frühjahr 2020 kam, war ich auf dem Weg zu zwei Konferenzen: zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik und zu den Glienicker Gesprächen, wo ich zur digitalen Universität sprechen wollte. Beides sollte in Berlin stattfinden. Das Eine fand dann als eine der ersten solcher Tagungen rein digital statt. Das Andere wurde abgesagt. Man kann also sagen: COVID-19 hat mein Denken in einem Augenblick im Kern getroffen und war dann für das Schreiben des Buches eine Art Katalysator.
ChL/SZ: Musstest Du in diesem ganzen Prozess Deine Überlegungen, die Du vorab schon hattest, revidieren – oder hat sich da eher ein Eindruck bestätigt?
Oliver Ruf: Ich hatte Die digitale Universität ursprünglich als eine Art Utopie konzipiert: sehr radikal, sehr kompromisslos, regelrecht revolutionär.
ChL/SZ: Inwiefern?
Oliver Ruf: Das Buch sollte eine Provokation sein, gegen rein utilitaristische Forderungen aufbegehren und diesen eine philosophische, eine abstrakte Konstruktion von digital durchdrungener Universität gegenüberstellen. Nur befand ich mich plötzlich in der Situation, dass aus der Konzeption, die ich damit hin und her wenden und mit universitätstheoretischen Positionen konfrontieren wollte, eine notwendige Wirklichkeit wurde, die politisch verordnet und von den Hochschulen ohne allzu großen Widerstand in Maßnahmenkatalogen niedergeschrieben worden ist. Für einen Medienphilosophen ist das eine ungewöhnliche Situation. Die eigenen Vorstellungen, die man als Gedanken entwickeln möchte, um diese dann einzufordern oder wenigstens vorzuschlagen, anzuregen, stehen unmittelbar vor Augen, und man wird während des Denkens bestätigt, ohne dass man es schon gesagt oder publiziert hätte.
ChL/SZ: In der Vorbemerkung zu Deinem Buch beschreibst Du eindrücklich, wie die Umstellung in den digitalen Raum im März 2020 buchstäblich von einem Tag auf den anderen vollzogen werden musste. Wenn man sich ein knappes Jahr danach an die ersten Online-Lehrveranstaltungen erinnert, scheint ein enormer Lernprozess stattgefunden zu haben. Wie siehst Du das? Können wir so weitermachen? Oder brauchen wir eine solidere Basis für die digitale Lehre der Zukunft?
Oliver Ruf: Wir benötigen eine andere respektive eine neue Grundlage von Universität. Digitalität und Digitalisierung, wie ich sie verstehe und in dem Buch diskutiere, ist wesentlich und wesenhaft mehr als das Zur-Verfügung-Stellen von Plattformen, das Bedienen von Tools, von Software, die Verlagerung (und Überwachung) von Prüfungen ins Digitale (und im Digitalen). Am Ende betone ich daher, dass wir mit der Universität eigentlich noch einmal von Neuem anfangen müssten, d.h. sie resetten sollten: als digitale Universität.
ChL/SZ: Und welche Parameter sollten für einen derartigen Neustart wichtig sein?
Oliver Ruf: Wir dürfen die Gesellschaft ‚Universität‘ nicht aus den Augen verlieren und gleichzeitig das Surplus nicht loslassen, das sich gerade eröffnet. Dazu kann man nochmals auf eine Umfrage des Philosophischen Fakultätentages verweisen, die herausgestellt hat, dass das Erleben der mit Corona erzwungenen Online-Lehre grundsätzlich gut ist, allerdings diese für die Mehrheit der Kolleg*innen ein erhebliches Mehr an Arbeitsbelastung durch Lehrvideos, Webinare, Screencasts, Videosprechstunden, digitale Übungen usw. bedeutet. Zufrieden haben sich ja fast alle mit der Funktionsweise im Rahmen des eLearning und der digitalen Werkzeuge gezeigt. Damit ist aber noch nichts über den Erkenntniswert, das Erreichen von Lehr- und Lernzielen oder den tatsächlichen Kompetenzgewinn oder die Persönlichkeitsentwicklung im Studium gesagt.
ChL/SZ: Uns interessiert vor allem, welche Schwierigkeiten, aber auch welche Chancen Du in der Digitalisierung im Hinblick auf die „Lehr-Lern-Beziehung“ siehst, die ja die Lehrpersonen nicht einfach überflüssig macht, sondern zunächst einmal die Frage aufwirft, wie eine solche Beziehung bestenfalls beschaffen sein sollte. Welche Modelle schweben Dir da vor?
Oliver Ruf: Die große Chance besteht darin, die digitale Universität nicht lediglich als eine ‚digital durchgeführte Universität‘ zu begreifen, in der der Patient ‚Universität‘ therapiert wird, sondern die digitale Universität tatsächlich als eine Idee zu behandeln, die nicht den Ort ‚Universität‘ verabschiedet. Denn ‚Universität’ bedeutet immer auch, eine ‚Heimat‘ für ein gemeinschaftliches Denken zu bieten. Das Risiko ist, diesen ‚Ort‘ zu verlieren und den ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnungen zu erliegen – und auch, den ‚Kampf‘ der Fächerkulturen hier weiter auszutragen, d.h. die Disziplinen gegeneinander auszuspielen. Eine Universität ist keine ‚Universität‘, wenn sie nicht ihren Disziplinen (auch im Digitalen) ein Dach über dem Kopf zu bieten versucht, unter dem diese sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das betrifft auch die Rolle der Lehrenden und deren Beziehung zu den Lernenden.
ChL/SZ: Dazu würden wir gerne mehr erfahren.
Oliver Ruf: Bevor man in der digitalen Universität Expert*in und Erklärer*in bleiben sowie Moderator*in und Berater*in für die Studierenden werden kann, muss eingestanden werden, dass auch digitaler Unterricht eine Form von Kommunikation bedeutet und sich Kommunikation auch immer in Problemsituationen bzw. mittels Störungen realisiert. Davon ausgehend lassen sich Anlässe zur Motivation und ggf. zur Disziplinierung ausmachen und finden, die die Rollenverteilung und Beziehung nicht destabilisieren, sondern festigen. Schließlich geht es auch in der digitalen Universität um die ‚Gemeinschaft‘ an der und der Universität. Gleichzeitig ist damit auch eine problematische Grenze der digitalen Universität angesprochen, die unbedingt überschreitbar gemacht werden muss. Diese Idee der digitalen Universität darf in Zukunft keine solchen Grenzen haben, sondern sie sollte besser mit ‚Schwellen‘ ausgestattet sein, die dazu da sind, sie zu überschreiten.
ChL/SZ: Entzündet sich an diesen Schwellen das Revolutionäre, Radikale, das Du erwähnt hast? Wo liegt dieses utopische Potential? Wie ließe sich die Zukunftsvision Universität konkret beschreiben?
Oliver Ruf: Im Buch gehe ich in mehreren Passagen auf Jacques Rancières Überlegungen aus Le maître ignorant (1987) ein, in dem er eine emanzipierte Hochschullehre skizziert. Gezielt wird auf eine wünschbare Lehr-Lern-Beziehung, in der es darum geht, wie durch Anweisungen (oder Aufträge) Wissen, Fähigkeiten und Erkenntnisse erworben werden können: „ohne die Notwendigkeit von Erklärungen“! Dahinter zeigt sich eine, wie auch ich sie nennen würde, ‚virtuelle Befähigung‘, die auch die digitale Universität in ihrer Revolutionalität und Radikalität auszeichnet. Es ist der bewusste Verzicht auf eine hierarchisch-erklärende Beziehung bei gleichzeitigem Vertrauen in die Fähigkeiten der Lernenden. Diese Beziehung entsteht hier explizit nicht durch den Kontakt zu festgelegten Zeiten in festgelegten Räumen, sondern durch die wiederkehrende Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten auszubilden – „zu verstehen, was andere gemacht und verstanden hatten“, wie es bei Rancière heißt, und zwar „ohne erklärenden Lehrmeister“, sondern „durch die Spannung“ des „eigenen Begehrens“.
ChL/SZ: In der Praxis bedeutet die Digitalisierung der Lehre gleichwohl auch die Suche nach und die Anwendung von neuen Tools. Die Universitäten bieten Weiterbildungen und Workshops dazu an, und man fühlt sich als Dozent*in herausgefordert, möglichst viele davon auszuprobieren. Das macht zwar Spaß, ist aber eher das Gegenteil einer Vision, wie Du sie in Deinem Buch entwirfst. Ist die aktuelle „Zwangsdigitalisierung“ denn überhaupt dazu geeignet, um grundsätzlichen Ideen für eine Universität der Zukunft zum Durchbruch zu verhelfen?
Oliver Ruf: Mir kommt es wie ein Durchlauferhitzer vor, der dem Diskurs ständig Energie zuführt, diesen heiß werden, aber auch heiß laufen lässt. Nötig sind mithin Abkühlungen, die die Temperatur regeln bzw. in Schach halten. Aus meiner Sicht könnten solche Kühlaggregate in der Reflexion von Wahrnehmungsweisen bestehen. Ich möchte für eine digital-ästhetische Universität plädieren, d.h. für eine Hochschule, in der Weisen der Wahrnehmung und des Verhaltens, der technischen Durchdringung und Vorbestimmung von digitaler Lehre, Forschung und Verwaltung und der damit verbundenen sozialen Handlungen institutionalisiert werden. Diese Institutionalisierung meint die Etablierung einer „Umgebung“, einer „Umwelt“ bzw. einer „Ökologie“ von Universität, in der es um digitale Affizierungen und Alterierungen geht, die Entfernungen verringern und diese Entfernungsreduktion als Gradmesser begreifen, um die Universität nach wie vor als „Raum“ zu konstituieren, in dem man „haust“ oder besser: „wohnt“.
ChL/SZ: Im Zusammenhang mit digitaler Lehre in Pandemiezeiten ist viel von den Gefahren und Risiken der sozialen Vereinsamung die Rede. Und auch hier gibt es schon eine ganze Reihe von Tools, mit denen man das soziale Leben von Studierenden im digitalen Raum befördern kann. Wie siehst Du die Zukunft des sozialen Lebens an Universitäten?

Quelle: studienangebot.rub.de/
Oliver Ruf: Es geht um die Aufgabe, die digitale Universität ästhetisch (mit allen Sinnen der Erkenntnis) als jenes „Milieu“ bzw. als jenen „Raum“ zu bauen, der sich – um einen letzten theoretischen Standpunkt zu zitieren – „dadurch auszeichnet bzw. von anderen Räumen unterscheidet, dass er sich ausschließlich in Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Bevölkerung, die ihn ‚bewohnt‘, ausbildet.“ (Maria Muhle) Es ist aber an der Zeit, sich von ‚klassischen‘ Lehr-Lern-Einheiten (z.B. mit Lehrveranstaltungen à 90 Minuten etc.) zu verabschieden und stattdessen Zusammenkünfte anzubieten, die als Communities funktionieren, um zu diesem Zweck auch ggf. in der Universität ausschließlich mobil zu lehren und zu lernen – etwa mittels Smartphones. Die Entdeckung des Smartphones (einschließlich dessen Ästhetik) für die Universität könnte deren Zukunft bedeuten.
ChL/SZ: Kannst Du denn schon von konkreten positiven Erfahrungen einer derartigen mobilen Lehre mittels Smartphones berichten? Spontan stellt sich für uns die Frage, ob eine derartige Mobilisierung nicht gleichzeitig zu einer Entgrenzung der zeitlichen und personellen Ressourcen führt – und damit auch zu Effekten der Überforderung mit Blick auf das individuelle Engagement auf allen Seiten. Im schlechten Fall dürfte eine solche Lehre dazu tendieren, die vorhandenen Machtverhältnisse nicht zugunsten einer demokratischer aufgestellten Universität zu überwinden, sondern zu totalisieren. Oder siehst Du das anders?
Oliver Ruf: Diese Befürchtungen der Überforderung und/oder Entgrenzung sind ein Befund, der auch unabhängig vom Diskurs ‚Universität‘ die soziale Praxis der Smartphone-Mediennutzung auszeichnet. Übersehen wird dabei u.U., dass zumindest Erwachsene (!) in der Lage sein können, den Umgang mit diesen Artefakten gewinnbringend (im besten Fall auch: erkenntnisbringend) zu praktizieren. Auch hier geht es mir nicht um den Einsatz ‚irgendeiner‘ Software bzw. ‚irgendwelcher‘ Apps, sondern um einen Wandel des Bewusstseins gegenüber Medien schlechthin. Der Mensch – innerhalb wie außerhalb der Universität – ist gegenwärtig nicht mehr ohne diese Art von Technik wenigstens zu denken. Und gerade auch eine ‚Politik‘ des Smartphone Cultural-Hacking, bei der die potentiellen Überwachungs- und Kontrollmechanismen umcodiert, verfremdet bzw. neu geschrieben werden können, zeigt, dass hier auch ein Möglichkeitshorizont der digitalen Lehre schlummert: abseits der Frage nach konkreten Erfahrungen, sondern als Möglichkeit, die Universität neu zu lesen.
Das Buch zum Thema:
Oliver Ruf, Die digitale Universität, Wien: Passagen 2021.