Wenn man die Worte hört, die in diesem jüngsten Krieg in Europa gesprochen werden (und die Anspielungen in den nicht gesagten Worten), lässt sich ein irritierter Blick auf den Kalender kaum vermeiden. Wir schreiben das Jahr 2022, und auf dem Territorium des souveränen Staates Ukraine wird ein Angriffskrieg geführt. Doch die Worte, die in offiziellen und inoffiziellen Erklärungen geäußert werden, scheinen aus einer früheren Zeit zu stammen: Es ist viel von „Faschismus“ und „Faschisten“, von „Nazismus“ und „Nazis“ (und „Entnazifizierung“) und anderen Begriffen die Rede, die dem russischen Ohr aus dem Großen Vaterländischen Krieg vertraut sind. In den sozialen Medien werden Bilder von Moskau und Kiew aus den Jahren 1941 und 1942 aufgerufen (Menschen, die in einen Himmel voller feindlicher Flugzeuge blicken, Zivilisten, die in U-Bahn-Stationen Schutz suchen). Und natürlich gibt es viele Analogien zu Hitler, zu den Ereignissen der Jahre 1939 und 1941. Der Zweite Weltkrieg scheint lebendig und präsent. Oder besser gesagt, der Kampf um seine Erinnerung und sein moralisches Erbe ist in vollem Gang und tritt der Gegenwart brutal ins Gesicht.
Schwierige Vergangenheit
In den letzten Tagen haben selbst die skeptischsten Beobachter:innen schmerzlich gelernt, dass man Putins Äußerungen zur Geschichte ernst nehmen muss. Nicht, weil sie einen Beitrag zur Geschichte leisten, sondern weil sie in Politik übersetzt werden. Nicht, weil sie der Komplexität der Geschichte, wie sie sich zugetragen hat, gerecht werden (ganz zu schweigen von der fachlichen Anforderung, unterschiedliche Interpretationen gegeneinander abzuwägen), sondern weil sie die Art und Weise beeinflussen – und zugleich widerspiegeln –, wie viele Russ:innen die Situation sehen. Und wichtiger noch: Sie werden in den kommenden Jahren Teil der globalen Debatte sein, weil sie nicht nur an Millionen von Menschen, die in Russland leben, verbreitet wurden, sondern über russische Medien auch weltweit.
Als Deutsche ist mir die häufige und fast alltägliche Verwendung des Begriffs „Faschist“ in der russischen Sprache schon immer besonders aufgefallen. Als Historikerin, die sich mit der Kriegs- und Nachkriegszeit befasst, konnte ich das Aufkommen dieses Begriffs in Archivdokumenten nachvollziehen. Während in Berichten aus der Mitte des Krieges noch häufig von „deutschen Invasoren“ (nemeckie zachvatčiki) oder „deutsch-faschistischen Invasoren“ (nemecko-fašistskie zachvatčiki) die Rede war, kam es in den Nachkriegsjahren zu einer entscheidenden Verschiebung hin zu einer Normierung der Rhetorik, die das deutsche Element praktisch verschwinden ließ und die besiegten Nazis als Faschisten in der Erinnerungskultur etablierte. Das lag zum einen an der Gründung der DDR und damit an der Schaffung eines „guten“ Deutschlands, zum anderen aber auch daran, dass man so die nichtdeutschen Kollaborateure in die Erzählung einbeziehen konnte, ohne komplizierte Unterscheidungen machen zu müssen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich persönlich von diesem rhetorischen Trick profitierte. Denn anders als im Vereinigten Königreich, wo ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte, hatte ich in Russland oder in der Ukraine nie das Gefühl, in Defensivstellung gehen zu müssen, wenn ich meine Nationalität preisgab. Deutsche zu sein, bedeutete nicht unbedingt, eine Faschistin zu sein.
Doch die prominente Rolle, die der Begriff „Faschist“ in der sowjetischen und postsowjetischen Geschichtsrhetorik spielte und spielt, bedeutete auch, dass er dehnbar und allseits und allzeit verwendbar war. Die stärkste innersowjetische Assoziation mit dem Begriff war den Westukrainer:innen zugeordnet. Mir wurde noch in den 1990er Jahren oft – fast beiläufig – gesagt, „dass dort alle Faschisten seien“. Die historische Grundlage für diese (unwahre) Behauptung ist die komplizierte und oft sehr widersprüchliche Rolle, die die ukrainische Unabhängigkeitsarmee unter der Führung von Stepan Bandera in den Kriegs- und Nachkriegsjahren spielte. Manchmal kollaborierte man mit den Deutschen, manchmal bekämpfte man sie. Der Widerstand gegen das sowjetische Regime war Maxime und erlaubte Handlungen und Strategien, die sich auch oft gegen einheimische Zivilisten richteten. Bis Mitte der 1950er Jahre waren Bandera und seine Leute in einen Guerillakampf mit dem sowjetischen Militär und der sowjetischen Zivilverwaltung verwickelt und übten in der Tat erhebliche Gewalt vor allen gegen Polen und Juden aus. Bandera und seine Truppen sind in der Westukraine und bei den ukrainischen rechtsgerichteten Paramilitärs seit 1991 zu Helden geworden (und im Verborgenen waren sie es die ganze Zeit), was nicht nur von den Russ:innen, sondern auch von der jüdischen Gemeinde der Ukraine, von Polen sowie von Historiker:innen, die auf diesem Gebiet arbeiten, als äußerst problematisch eingestuft wird. Spätestens seit 2014 ist die unkritische Verehrung des national-ukrainischen Kriegs- und Nachkriegswiderstands nicht mehr nur ein lokales Phänomen, sondern steht im Zentrum der Debatten, die das ukrainische Staatsnarrativ mitprägen.
Umkämpfte Erinnerung
Das alles macht deutlich, dass bestimmte Daten wie 1991 (Unabhängigkeit), 2004 (Orangene Revolution) und 2014 (Euromaidan) zwar wichtige Markierungen in der jüngsten Geschichte der Ukraine sind, dass es aber auch eine Geschichte gibt, die wie ein unterirdischer Strom unter diesen allgemein bekannten Zäsuren verläuft. Einer der tiefsten Gräben in der sowjetischen Gesellschaft verlief zwischen unterschiedlichen kollektiven und individuellen Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg. Die Verehrung Banderas im ukrainischen Westen war nicht zuletzt auch eine Reaktion auf ein kompromissloses offizielles Narrativ (das von Stalin geschaffen und von Breschnew verstärkt wurde), das wenig Raum für Nuancen und jene persönlichen Erinnerungen ließ, die der Geschichte der sowjetischen Befreiung von Faschismus und nationalsozialistischer Besatzung zuwiderliefen oder zumindest nicht mit der ihr innewohnenden Heroisierung der sowjetischen Armee übereinstimmten. Die Ukraine, und insbesondere der Teil, der 1939 gemäß den Bestimmungen des Molotow-Ribbentrop-Protokolls von der Sowjetunion annektiert wurde, hatte keine einfache Geschichte zu erzählen. Wie die Historiker:innen Frankreichs, Dänemarks und anderer Länder beschrieben haben, hinterlässt eine Okkupation moralisch verworrene Landschaften, die sich einer einfachen Einteilung in Kollaborateure und Widerstandskämpfer entziehen. Und je länger eine Besatzung andauert, desto unübersichtlicher wird das Bild und umso unhaltbarer werden Schwarz-Weiss-Erzählungen.
Ungeachtet solcher Komplexitäten war das Resultat dieser extrem kontrollierten sowjetischen Rhetorik und Erinnerungskultur an den Krieg, dass spätestens seit den 1970er Jahren der ultimative Mittelfinger gegen das sowjetische Regime darin bestand, Nazisymbole zur Schau zu stellen oder sich anderweitig durch Insignien oder Worte, mit ‚Faschisten‘ zu identifizieren (selten jedoch explizit ideologisch, fast immer oberflächlich symbolisch). In meinen Interviews mit ehemaligen, sowjetischen Hippies war nicht selten neben Friedenszeichen und folkloristischen Schmuckstücken auch von Hakenkreuzen und Nazi-Uniformen, die das Hippierepertoire ergänzten, die Rede. Solche Praktiken waren nicht nur unter den Hippies der Fall. Bei den Bayreuther Musikfestspielen kam es vor einigen Jahren zu einem Skandal um den russischen Opernsänger Evgenii Nikitin, bei dem ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust entdeckt worden war. Seine Rechtfertigung, dass dies nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun habe, klang für die deutschen Organisatoren nicht glaubwürdig. Hierzulande ist das Hakenkreuz eindeutig belegt. Für diejenigen jedoch, die die sowjetische Heavy-Metal-Szene in den späten 1980er und 90er Jahren kannten, die geradezu gesättigt war von dieser Art von Symbolik, machte seine Aussage durchaus Sinn. Am Ende der Sowjetzeit lag nicht nur die ideologische Klarheit des Kommunismus in Scherben. Auch der Faschismus war zu einer Chiffre degradiert worden, die für eine vage Vorstellung von Provokation stand, seine dunklen Züge und seine düstere Geschichte jedoch ausblendete. Dieser Prozess der Verharmlosung hat sich dann in der postsowjetischen Ära teilweise wieder etwas revidiert: Die russischen Opfer im Großen Vaterländischen Krieg wurden in der Putinära einer der wichtigsten Kristallisationspunkte der russischen Identität. Die Faschisten waren wieder die anderen. Hakenkreuze tauchten aber zum Beispiel vor ein paar Tagen in einem Mobilisationsvideo für ‚Z‘ auf – der Buchstabe, der die russische Kriegskampagne anführt. Es ist nicht klar, wer diese Videos, die auch marschierende deutsche SS-Truppen zeigen, produziert hat. Sie kursierten aber weit und ungehindert im russischen Internet.
Die Ukraine verlegte ihren feierlichen Erinnerungstag an den Krieg im Einklang mit dem übrigen Europa schon vor ein paar Jahren vom 9. auf den 8. Mai – ein enorm symbolträchtiger Akt, der zeigt, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit selbst auf dieses heiligste aller kollektiven Gedächtnisse bezieht, die sie mit Russland teilt. Die Ukraine erinnert sich anders. Und seitdem der Feiertag in Russland immer mehr militarisiert wurde, an dem man selbst Kleinkinder in Weltkriegsuniformen steckte und sich immer mehr zu einem impliziten Mantra russischer Größe bekannte, wurde die Distanz zwischen den ukrainischen, ambivalenteren Erinnerungen und derer des ‚großen Bruders‘ immer grösser. Putins Beschwörung ukrainischer „Faschisten“ ist daher ein eindringlicher Sammelappell an all jene postsowjetischen Menschen, die den Großen Vaterländischen Krieg wie er als militärischen und moralischen Sieg der Sowjetunion und ihres wichtigsten Nachfolgestaates Russland deuten und sich dementsprechend an ihn erinnern und beschwören. Es die Beschwörung jenes Geschichtsbildes, das er durch die strenge Kontrolle eines militarisierten und gesäuberten Geschichtslehrplans und durch die staatlich geförderten Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai mit immer größerem Nachdruck propagiert hat. Es ist eine Kriegserklärung an diejenigen, deren Erinnerung anders ist – und die daher per Definition der Feind sind. In der Kriegspolitik gibt es kein Grau und schon gar nicht in Putins Weltanschauung. Der Feind war und bleibt ein Faschist.
„Stalins Geschenk“
Dieser Krieg um die Erinnerung hat sich bereits in den frühen 2000er Jahren im Kleinen in den heftigen Kontroversen um Denkmäler für sowjetische Soldaten in Riga und Tallinn abgespielt. Doch in der Ukraine geht es um ganz andere Dimensionen. Von der Ukraine wurde nie nur passive Akzeptanz eines staatsstiftenden Erinnerungsnarrativ erwartet. Die Ukraine sollte dieses Narrativ, aktiv unterstützen und Teil des russischen Selbstverständnisses sein. Und Teil dieses Narratives war, und ist, eine gewisse positive Belegung der Sowjetunion – hier ganz explizit als Union verschiedener Ethnien und Republik. Nicht die Ukraine und auch nicht Russland hat den Krieg gewonnen, sondern die Sowjetunion. Die Behauptung der ukrainischen Souveränität als solche ist eine Provokation gegen dieses Geschichtsbild, weil sie die 1944/45 etablierte Nachkriegsordnung und ihre Grenzen in Frage stellt. Sie verlagert die Akteursebene vom Staat – der in Putins Augen ein heiliges Gebilde ist – auf das Volk, das 1991 mit über 92 % für die Unabhängigkeit gestimmt hat. Dies ist die Legitimität des ukrainischen Staates und sein Selbstverständnis.
In Putins Augen existiert die Ukraine in ihrer jetzigen Form jedoch nur aufgrund dessen, was er als „Stalins Geschenke“ bezeichnet (neben weiteren sogenannten ‚Geschenken‘ aus der Zaren- und Revolutionszeit). Damit ist der nach 1945 ethnisch gereinigte ukrainische Westen der Ukraine gemeint (die zahlenmäßig große jüdische Bevölkerung wurde von den Nazis getötet und die noch größere polnische Bevölkerung war Teil eines Bevölkerungsaustauschs mit Polen). In Putins Weltbild wurde die ukrainische Nachkriegsrepublik somit 1945 von Stalin geschaffen und damit als Teil des Sieges über den Faschismus moralisch legitimiert; sie schulde daher Putin, der sich als den rechtmäßigen Erben von Stalins Mission und Macht sieht, Bündnistreue – auch im Jahre 2022.
Es ist aufschlussreich, sich an dieser Stelle an den Begriff zu erinnern, den Putin zu Beginn der Militärinvasion eingeführt hat: die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Auch dies ist ein stalinistischer Begriff. Während vor dem Krieg die gängige Floskel zur politischen Verfolgung „Volksfeind“ lautete, mutierte sie in den Nachkriegsjahren zu „Faschist“ oder „Kollaborateur“. Beide Kategorien waren dehnbar und dienten dazu, Rechnungen auf vielen Ebenen zu begleichen. Auch nur der Hauch eines Kontakts mit den deutschen Besatzern – ja schon der reine Aufenthalt auf besetzten Gebiet – hatte negative Konsequenzen für Millionen von Sowjetbürgern, besonders für die Tausende von Ostarbeiter:innen, die zumeist gegen ihren Willen verschleppt wurden. Diese Leute wurden sozial ausgegrenzt, durften nicht studieren, durften keine leistenden Positionen innehaben und sich nicht kulturell betätigen. Auch ihre Kriegserinnerung kam in der offiziellen Erzählung nicht vor. Wie die Säuberungen in den 1930er Jahren bedeutete Entnazifizierung im sowjetischen Kontext keinen Versuch zu differenzieren oder Mittäterschaft zu analysieren; sie folgte vielmehr einer Ausgrenzungs-, ja einer Vernichtungslogik. Sie knüpfte an Bilder der Kontamination an (eine weitere Obsession, die Stalin und Putin teilen) und wurde sowohl kollektiv als auch individuell verstanden. Putins Verwendung des Begriffs „Entnazifizierung“ lässt erahnen, was für eine Ukraine er sich nach seinem Krieg vorstellt. Unter dem Deckmantel eines Begriffs, der in der ganzen Welt als Zeichen für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit verstanden wird, plant Putin für die Ukrainer:innen nicht nur, die physische Realität eines Lebens im eigenen Staat zu zerstören, sondern auch ihr Selbstverständnis als Volk zu vernichten. Ihr Selbstverständnis als eine unabhängige Nation ist in seiner Wahrnehmung per se unmoralisch und deshalb den Verbrechen der Nazis gleichzusetzen.
Fehleinschätzungen
Die letzten Tage haben aber auch gezeigt, dass sich Putin hinsichtlich der emotionalen Kraft seiner Rhetorik und ihrer Wirkung auf sein hauptsächliches Zielpublikum, die russische Bevölkerung, zum Teil geirrt hat. Der Mangel an Gegenwärtigkeit in den offiziellen Verlautbarungen ist besonders für die jüngere Generation in schmerzlicher Weise offensichtlich. Putins Reden stehen in krassem Gegensatz zu der Vision eines modernen Staates, die Selenskyi in den letzten Tagen in seinen Reden auf Russisch an russische Staatsbürger skizziert hat. Zudem hat der Begriff „Faschist“, wie ich bereits angedeutet habe, schon zu Sowjetzeiten seinen Glanz und damit auch seine Kraft verloren. Er hat zumeist bei der älteren Generation eine gewisse Resonanz. Bei den unter 30-jährigen ist diese Resonanz allenfalls performativ. Aber es ist schwer, die offizielle Propaganda mit den eigenen Lebenserfahrungen zu vereinbaren. Zu viele Russen haben Freunde und Familie in der Ukraine, um eine solche Quadratur des Kreises mit Leichtigkeit zu schaffen. Nichtsdestotrotz gibt es auch viele Berichte von ukrainischen Bürgern, die erzählen, dass ihre Verwandten ihnen auch noch unter russischem Bombenbeschuss erzählen, dass sie bald von den „ihrigen“ (d.h. den Russen) gerettet würden.
Das russische Narrativ hat Kraft, aber auch Schwachstellen. Putin hat die Feierlichkeiten zum 9. Mai im Laufe der Jahre zu einem militarisierten Zirkus mit Kleinkindern degradiert, die in Uniformen der Sowjetarmee herumlaufen. Aber in den letzten dreißig Jahren fand parallel dazu auch eine Auseinandersetzung auf sehr persönlicher Ebene mit dem Krieg statt. Dazu gehören Initiativen wie „Das unsterbliche Regiment“, bei der Menschen bei Paraden die Bilder ihrer Väter und Großväter tragen und den Krieg auf diese Weise als Teil der Familiengeschichte zu verstehen versuchen. Diese Art des Gedenkens eignet sich wenig für kriegerische Zwecke, da ihre emotionale Botschaft von Trauer und Verlust geprägt ist und damit eher eine Art Pazifismus fördert. Man sollte nicht vergessen, dass schon im 1. Tschetschenienkrieg es die Vereinigung der Soldatenmütter war, die den stärksten Druck auf die damalige Regierung Jeltzin ausübte. Die Tatsache, dass Selenskyi jüdisch ist und daher ein Opfer des Faschismus gewesen wäre und kein Täter, unterstreicht die Absurdität der Anschuldigungen gegen seine Regierung als „Nazijunta“, auch wenn dieser Aspekt im Westen wahrscheinlich stärker beachtet wird als in Russland.
In den nächsten Tagen, Wochen oder sogar Monaten wird viel Blut vergossen werden und es werden viele Verletzungen entstehen, die wiederum Potential für weitere Konflikte schaffen. So wie sich die Sowjetunion nie von dem äußeren und inneren Imperium erholt hat, das sie 1945 geschaffen hat, wird die Ukraine, auch eine unterworfene Ukraine, für die russische Politik eine eiternde Wunde bleiben. Sie wird als Lackmustest für Loyalität dienen (wie wir es schon jetzt in den Unterstützerbriefen der russischen Universitäten sehen), gleichzeitig aber auch Banner des innerrussischen Widerstands werden. Und es hat Russland in der Welt bereits gezeichnet. Als Deutsche weiß ich, was es heißt, sich für die Taten des eigenen Landes zu schämen, lange nachdem sie geschehen sind und auch ohne persönliche Beteiligung. Als Kind habe ich meine Eltern angefleht, im Urlaub nicht zu laut zu sprechen. Der militärische Sieg mag vielleicht an Russland gehen. Aber Scham ist ein hoher Preis, der noch lange zu zahlen sein wird.
Postscriptum
Nachdem ich den vorstehenden Artikel verfasst hatte, wurde mir klar, dass er zwar meine Gedanken als Historikerin widerspiegelt, aber keineswegs angemessen wiedergibt, was ich als Expertin, Besucherin und Freundin der Ukraine und Russlands empfinde. Ich bin vor allem wegen der Menschen in der Ukraine zutiefst verzweifelt. Es gab für mich so viele glückliche Stunden in den letzten dreissig Jahren, in denen ich durch Kiew, Odessa, Lemberg, Czernowitz und Simferopol streifte. Auf der Krim verbrachte ich den größten Teil des Jahres 1999. Hier lernte ich alles mögliche Sowjetische, Russische, Ukrainische, Tatarische und Karaitische – und noch einiges mehr. Es bricht mir das Herz, wenn ich Aufnahmen von diesen Orten und ihren Bewohner:innen sehe, die beschossen, bedroht oder besetzt werden. Als Historikerin, die zur Sowjetunion forscht, ist man es gewohnt, viel Leid zu sehen, nicht nur in der Geschichte, sondern auch im heutigen postsowjetischen Raum. Doch die Bösartigkeit und Unnötigkeit dessen, was jetzt geschieht, übersteigt dieses Ausmaß. In gewisser Weise macht eine historische Betrachtung im Moment wenig Sinn, denn es gibt keine Analyse, die einen unprovozierten Angriff mit Tausenden von Opfern erklären kann. Ich muss zugeben, dass ich auch Angst habe, denn obwohl Putins Russland von Anfang an repressiv und aggressiv war (Putin begann seine Amtszeit als Präsident mit dem zweiten Tschetschenienkrieg), gab es immer gewisse Grenzen. Jetzt scheint es so, dass es keine Grenzen gibt, die nicht überschritten werden könnten. Die umfassende „Säuberungsaktion“ begann im November mit der Liquidierung von Memorial – einer der Säulen des Perestroika-Wandels. Sie setzt sich fort mit einer angestrebten Liquidierung der Ukraine als Staat. Die rhetorischen Drohungen haben Schweden und Finnland erreicht. Putin ist dabei, die Uhr zurückzudrehen. Und niemand weiß, wo er sie stoppen will. Schon jetzt ist klar, dass er bereit ist, für dieses Vorhaben sowohl die Ukrainer als auch die eigenen Leute zu opfern.