Frage: Herr Hermann, Ihr Artikel zur „tektonischen“ Verschiebung des politischen Spektrums in der Schweiz im Tages-Anzeiger vom 21. Dezember 2015 und die dazugehörende Grafik, die wir hier noch einmal publizieren, hat Aufsehen erregt. Sie zeigen, dass sich die politische Mitte in der Schweiz nicht in der nominellen Mitte zwischen links und rechts befindet, sondern deutlich rechts davon zu verorten ist. Ihre Daten basieren, wie Sie schreiben, auf der Tamedia-Wahlstudie, bei der sich „40’000 stimmberechtigte Schweizerinnen und Schweizer auf einer Skala zwischen links und rechts mit einem grafischen Regler selber positioniert“ haben.

Wie sich Schweizer Wählende im Oktober 2015 politisch selbst positionierten (Quelle: Tamedia Wahlstudie 2015/Sotomo)
Dabei stellt sich eine erste Frage: Wie stabil ist die Verknüpfung zwischen der Einordung auf der Skala zwischen links und rechts einerseits und den Partei-Präferenzen (oder -Mitgliedschaften?) andrerseits? Wie wurden die Parteipräferenzen oder Parteizuordnungen erhoben? Geht die Untersuchung davon aus, dass diese stabil genug sind, damit die aktuelle Einschätzung der eigenen Position zwischen links und rechts unter der ceteris paribus-Voraussetzung funktioniert, dass die Parteipräferenz sich nicht wandelt, wenn die Selbstpositionierung sich verschiebt? – dass also eine SP-Wählerin eine SP-Wählerin bleibt, auch wenn sie sich deutlich rechts von der Mitte positioniert? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass sie bei einer in dieser Weise gewandelten politischen Selbsteinschätzung dann auch die Wahlliste einer rechten Partei in die Urne legt?
MH: Die Umfrage wurde am Wahlwochenende im letzten Oktober durchgeführt. Sie bezieht sich also ganz konkret auf die Partei, die bei den Nationalratswahlen gewählt wurde. Der Zusammenhang zwischen Wahlentscheid und der Selbstpositionierung auf der Links-rechts-Achse ist bemerkenswert stark. Nur 4 Prozent der Anhängerschaft von SP und Grünen positioniert sich rechts der Mitte. Umgekehrt stufen sich nur 1 Prozent der SVP- und 4 Prozent der FDP-Wählerschaft als links der Mitte ein.
Michael Hermann ist Geograph und Politologe. Er leitet das Forschungsinstitut Sotomo in Zürich
Dieser klare Zusammenhang zwischen Parteienwahl und ideologischer Selbsteinschätzung zeugt von einem starken Bewusstsein für das Links-rechts-Schema und für die politische Ausrichtung der Parteien. Wer seine Positionierung von links nach rechts verschiebt, wird deshalb mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mehr SP, sondern eine bürgerliche Partei wählen. Generell lässt sich damit sagen, dass sich ein Rechtsrutsch bei den Positionen auch auf die Parteienstärken auswirkt. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass hier eine ideologische Selbsteinschätzung abgefragt wird. Es ist möglich, dass eine Person sich zwar als „links“ identifiziert, jedoch bei konkreten Sachvorlagen häufig andere Positionen einnimmt. So lange sie diese Identifikation beibehält, dürfte sie aber weiterhin links wählen.
Frage: Die Grafik unterscheidet nicht zwischen Jungen und Alten, Stadt und Land oder zwischen den Landesteilen. Haben Sie dazu Daten, die die Diagnose der tektonischen Rechtsverschiebung noch vertiefen würden – zum Beispiel, wenn man zeigen könnte, dass die jungen Wähler sich stärker rechts positionieren als die älteren, und Ähnliches?
MH: Insgesamt haben die Parteien rechts der Mitte zugelegt, während der rotgrüne Wähleranteil zurückgegangen ist. Dieser Trend zeigte sich bei jüngeren Wählenden etwas stärker als bei älteren und bei Frauen mehr als bei Männern. Dies führte aber bloss zu einer Annäherung der Profile. Da die Befragung das erste Mal durchgeführt wurde und ein direkter Vergleich mit anderen Umfragen nicht möglich ist, erlaubt sie keine Aussagen über Veränderungen. Grundsätzlich können wir aber davon ausgehen, dass es eine Asymmetrie schon immer gab. Schliesslich waren die linken Parteien im Vergleich zu den bürgerlichen in der Schweiz ja immer klar in der Minderheit.
Auch wenn wir mit unseren Daten nichts über die historische Veränderung sagen können, so liefern die Ergebnisse jedoch Erklärungsansätze für den Rechtsrutsch bei den vergangenen Wahlen. Deshalb lautete der Titel meiner Analyse eigentlich „Tektonik des Rechtsrutschs“. Das wurde dann durch den Tagesanzeiger zum „Tektonischen Rechtsrutsch“ verkürzt. Jedenfalls zeigt die Befragung, dass der Begriff „Mitte-Links“ offensichtlich nur eine Minderheit anspricht. Genau deshalb eignet er sich so gut als Kampfbegriff der Rechten. Im Parlament hat sich die rechte Seite zwar gleich häufig durchgesetzt wie die Linke. Man hätte also ebenso gut von einer Mitte-Rechts- wie von einer Mitte-Links-Mehrheit sprechen können. Doch dank konsequentem „Framing“ von rechts hat sich das Bild von Mitte-Links in der Öffentlichkeit festgesetzt und letztlich zum angestrebten Ziel geführt.
Was wir wissen, ist, dass es in den letzten zwanzig Jahren im Spektrum zwischen Mitte und Rechts starke Veränderungen gab. Das zeigen die Selects-Befragungen, die aufgrund einer etwas anderen Methodik nicht direkt vergleichbar sind, dafür aber langfristige Entwicklung abbilden. Bis in die frühen 1990er-Jahre verteilten sich die Wählenden der bürgerlichen Parteien gleichmässig im Spektrum zwischen Mitte und Rechts. Seither ist es dort zu einer ideologischen Sortierung gekommen. Ganz rechts steht die SVP-Wählerbasis, dann die der FDP. Am meisten eingemittet sind die Wählenden der CVP. Statt des soziokulturellen Milieus ist die ideologische Positionierung für die Wahl einer Partei wichtiger geworden.
Frage: Sie erwähnten hinsichtlich der Parteipräferenzen soeben die beobachtbare Verschiebung vom soziokulturellen Milieu hin zur ideologischen Positionierung als entscheidenden Faktor für die Wahl einer Partei. Woran machen Sie diese verschärfte Ideologisierung fest? Und was sind ihre Konsequenzen? Heisst das zum Beispiel, dass der politische Gegner nicht mehr als ebenso legitime Vertretung seiner Interessen und seines „Milieus“ wahrgenommen wird wie die eigene Partei – ich unterstelle jetzt mal, dass das in den Hochzeiten der „Milieu“-Parteien eher der Fall war als heute –, sondern grundsätzlich „unrecht“ hat, eine „Gefahr“ darstellt, daher zu bekämpfen ist – und von seinem Stück geteilter Macht verdrängt werden muss?
MH: Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Mein Vater war Drogist im Emmental und als Gewerbler bei der SVP. Meine Mutter sass als Gewerblersfrau für die SVP im Gemeinderat. Dort besetzte sie zusammen mit der Zahnarztfrau, die für die FDP politisierte, den linken Flügel. Während die beiden Sozialdemokraten, ein Bähnler und ein Schreiner, der in der Möbelfabrik arbeitete, eifrig mit den konservativen Bauern stimmten. Heute wäre so etwas nicht mehr denkbar, weil das ideologische Profil darüber entscheidet, wo jemand politisiert und nicht mehr die soziale Herkunft.
Die SVP wird gelegentlich als Catch-all-Partei bezeichnet, weil sie von der Bankerin über den Bauern bis zur Coiffeuse alle Schichten anzieht. Die Bezeichnung ist trotzdem falsch, weil die SVP sehr gezielt nur Menschen anspricht, die ihr rechtes Gedankengut teilen. Das ist der entscheidende Unterschied zu einer echten Catch-all-Partei wie der deutschen CDU, die sowohl in sozialer wie auch weltanschaulicher Hinsicht eine sehr breite Wählerschaft vertritt.
Anders als in der Zeit der Milieuparteien finden sich in den heutigen Weltanschauungsparteien nur noch Leute, die sich gegenseitig in ihrer Weltsicht bestärken. In diesen «Ghettos von Gleichgesinnten» sinkt, wie Sie richtig erwähnen, das Verständnis für die anderen. Während sich die Milieuparteien irgendwie als funktionale Glieder eines Ganzen gesehen haben, geht es heute ausschliesslich um die richtige oder falsche Weltsicht. Die Wirkung ist der von Sekten nicht ganz unähnlich.
Frage: Das ist doch aber, wenn man nach Europa schaut, keine schweizerische Besonderheit, nicht?
MH: Ja, sicher, aber in der Schweiz ist die Entwicklung hin zu Weltanschauungsparteien besonders stark vorangeschritten. Zunächst weil hier der berühmte Median-Wähler kein Faktor ist. Es müssen keine Mehrheitskoalitionen geschmiedet werden. Damit fehlt das Moment, welches in Deutschland zum Ausdruck kommt, wenn eine Partei, meistens die CDU, als „Kanzlerwahlverein“ verspottet wird. Der Premierminister oder die Kanzlerin sind ein wichtiger gemeinsamer Nenner. Damit geht es nie nur um Ideologie, sondern auch um die Persönlichkeit und die Frage, von wem die Regierung geführt werden soll. Dies alles fällt in der Schweiz aufgrund der personellen Entkopplung von Legislativ- und Exekutivwahl weg. Der öffentliche Wahlkampf der Kandidierenden für den Bundesrat beginnt bei uns typischerweise erst nach den Parlamentswahlen. Die Parteien können sich deshalb voll auf die Pflege ihres ideologischen Profils konzentrieren. Seit die SVP dies sehr erfolgreich betrieben hat, versuchen sich alle als klar unterscheidbare ideologische Marken im politischen Markt zu positionieren.
Frage: Es scheint einen deutlichen Unterschied zu geben zwischen der ideologischen Konsolidierung im rechten Teil des Spektrums einerseits und der Dissoziation zwischen linker Parteipräferenz und der Selbstpositionierung bis nach rechts hinein andererseits. Wenn ich recht sehe, hat auf Ihrer Grafik die SP von allen Parteien die breiteste Streuung der Selbsteinschätzungen zwischen links und rechts. Die Linke erscheint also deutlich weniger fokussiert, ihre Anhänger weit weniger um ein politisches Projekt herum gebündelt als dies die Rechte, namentlich die SVP, offenbar ist. Zwei Fragen stellen sich hier: Ist zu erwarten, dass der hier erkennbare rechte Rand der SP unter dem Druck der „Anziehungskraft“ von rechts abbrechen könnte oder schon abbröckelt? Und: Haben Sie den Eindruck, die Linke könnte diesen Trend umkehren?
MH: Die Unterscheide zwischen den Parteien lassen sich besser in der zweiten Abbildung erkennen. Hier ist das Links-rechts-Spektrum der Wählerbasis nach den einzelnen Parteien aufgeschlüsselt.
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Parteienprofile der politischen Selbstpositionierung Schweizer Wählender, Oktober 2015 (Quelle: Tamedia Wahlstudie 2015/Sotomo)
Auch wenn die Unterschiede nicht dramatisch sind, streuen die Wählenden der Grünen und der SP tatsächlich am stärksten auf der Links-rechts-Achse. Die Darstellungsform erweckt jedoch den Eindruck von mehr Breite als dies der Fall ist. Beim ersten Wert rechts der Mitte auf der siebenstufigen Skala finden sich praktisch keine Wählenden dieser beiden Parteien mehr. Das gleiche gilt mit umgekehrten Vorzeichen für SVP und FDP. Selbst BDP und CVP haben fast keine Anhänger, die sich links der Mitte positionieren. Die einzige Partei mit substanziellen Wähleranteilen auf beiden Seiten der Mitte ist die GLP. Entgegen ihrem eher rechten Ruf positionieren sich 35 Prozent ihrer Anhängerschaft links der Mitte und nur 23 Prozent rechts davon.
Frage: Also tatsächlich eine Mittepartei, allerdings mit geringem Gewicht.
MH: Allerdings. Doch zurück zu SP und Grünen: Hier fällt nicht nur die eher breite Streuung auf der Links-rechts-Achse, sondern vor allem auch die insgesamt eher gemässigte Positionierung auf. Der Mittelwert liegt auf der siebenstufigen Skala bei 1,7. Bei der SVP liegt der Mittelwert dagegen nur 1,0 vom rechten Rand entfernt. Dies zeigt vor allem, dass die SVP-Basis in ihrer Haltung keine Zweifel zu hegen scheint. Sie scheut sich nicht, sich mit dem gebrandmarkten Begriff «rechts» zu identifizieren. Auf der linken Seite, wo doch gerade im Nachgang der 1968er-Bewegung sehr starke Überzeugungen herrschten, zeigen sich dagegen vermehrte Zweifel.
Für mich werden da gewisse Parallelen zur Arbeiterschaft in der Nachkriegszeit sichtbar. Diese hatte bekanntlich mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, der Konsumgesellschaft und des Konsensmodells zunehmend kleinbürgerliche Werte angenommen. Heute sind es die Postmateriellen, die Verbürgerlichungstendenzen zeigen. Viele ihrer gesellschaftspolitischen Ziele sind erfüllt. Ökologie ist Mainstream und einige alte Illusionen alternativer Gesellschaftsmodelle sind zerbrochen. Viele haben es sich in ihrem urbanen, akademisch geprägten Milieu bequem gemacht. Auch wenn man grundsätzlich für Offenheit und Ausgleich einsteht, ertappt man sich hie und da dabei, das eigene postmaterielle Paradies durch Globalisierung und Zuwanderung bedroht zu sehen.
Das führt zwar zu einer gewissen politischen Ermattung, nicht jedoch automatisch zu einem massenhaften Einbrechen des rechten Rands. Politik hat immer etwas Dialektisches. Wenn das System nach rechts rückt, wie momentan, weckt dies auch die Gegenkräfte. Sehr schön liess sich dies bei den Nationalratswahlergebnissen der Städte beobachten. Man spürt hier zwar auf lokaler Ebene, dass die Euphorie gegenüber dem rotgrünen Projekt geschwunden ist. Auf nationaler Ebene nehmen sich die Städter und Städterinnen jedoch klar als Korrektiv zum rechten Mainstream wahr und haben wieder vermehrt der SP die Stimme gegeben.
Frage: Der abtretende FDP-Präsident Philipp Müller hat kürzlich in einem NZZ-Interview zwar davon gesprochen, dass die FDP als nationale Partei und in der Fraktion in Bern viel „homogener“ geworden sei – was Ihrer Analyse entspricht –; er hat aber auch betont, dass im Parlament von einem „Rechtsblock“ keine Rede sein könne. Das zum einen, weil die SVP konservativ und bremsend sei, die FDP hingegen fortschrittlich und reformorientiert; zum andern aber auch, weil in den Europa- und „Masseneinwanderungs“-Dossiers „keine gemeinsamen Schnittflächen“ bestünden. Wie jetzt also: Sind die ideologischen Fixierungen so stark, dass die im Oktober siegreiche Rechte sich selbst blockiert oder zumindest ihren eigenen Schwung bremst? Und was wären die mittelfristigen Konsequenzen aus dieser paradoxen Situation?
MH: Im Prinzip hat Philipp Müller Recht, und seine Diagnose der stärkeren Homogenität gilt auch für die Wählerbasis. Dabei überschneidet sich das ideologische Profil der FDP-Basis aber stärker mit jenem der CVP als mit dem der SVP. Der Begriff „Rechtsblock“ ist eine Verkürzung ebenso wie „Mitte-Links“ als Bezeichnung für die letzte Legislatur. Es wird in Zukunft zwar häufiger rechte, aber dennoch weiterhin wechselnde Mehrheiten geben. Niemand hindert die FDP daran, in der Europa- und der Migrationsfrage auf eine Allianz der Nicht-Konservativen zu setzen. Dass die FDP zu den Wahlsiegern gehört, hilft ihr, ihre neue Rolle als Mehrheitsmacherin selbstbewusst zu spielen.
Bei einem Teil der Stimmbevölkerung wird sich aber durchaus Enttäuschung einstellen. Das in unserem Diagramm dargestellte rechte Übergewicht bedeutet nämlich nicht, dass die Stimmbevölkerung in Wirtschaftsfragen die gemeinsame neoliberale Linie von FDP und SVP teilt. Die eher rechte Selbstwahrnehmung der Stimmbevölkerung ist alleine Ausdruck ihrer im Vergleich zur politischen Elite stärkeren Migrations- und Öffnungsskepsis. Die Stimmbevölkerung wollte ein nationalkonservativeres Parlament, hat nun aber ein wirtschaftsliberaleres bekommen. Ob sie dies in vier Jahren im Sinn der politischen Dialektik wieder korrigiert, ist aber nicht gewiss. Zumindest wenn das politische Bewusstsein weiterhin derart durch die Migrationsfrage in Beschlag genommen wird.
Das Interview wurde per Email geführt.