Svenja Goltermann: Geschichte der Gegenwart gibt es nun seit fünf Jahren, mit einem wachsenden Kreis an Herausgeber:innen, die aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften kommen. Als wir im Januar 2016 anfingen, hatten wir kein Konzept, auch wenn es vielleicht so schien. Was uns aber einte, waren das Interesse an Gegenwart, das Bedürfnis, dieser analytisch zu begegnen, sowie die Gewissheit, dass wir als Geisteswissenschaftler:innen etwas Substanzielles zur öffentlichen Debatte beisteuern können. Das Format aber, das wir uns für Geschichte der Gegenwart vorstellten – der lesbare, aber durchaus anspruchsvolle, gut argumentierende Text auf begrenztem Raum – war für uns eine Herausforderung. Was reizt uns fünf Jahre später noch an diesem Projekt?
Sylvia Sasse: Es ist die Gegenwart selbst, die mich reizt. Als wir vor fünf Jahren begonnen haben, war der rechtspopulistische, zum Teil rechtsradikale oder einfach politisch desinformative Eingriff in die Wahrnehmung der Gegenwart und die Sprache der Öffentlichkeit massiv. Wir wollten mit unserer Perspektive zu einer historischen Grundierung und zu einer sprachlichen Sensibilisierung beitragen. Wir wissen ja, dass es nicht egal ist, wie man etwas herleitet oder benennt, sondern dass dieses Herleiten und Benennen unmittelbare Effekte auf die Gegenwart hat. Seither hat sich die Unsicherheit, die Unvorhersehbarkeit der Zukunft durch z.B. Corona, den Klimawandel und auch durch unvorhersehbar agierende Politiker noch verstärkt.
Svenja Goltermann: Die Sprache im Auge zu behalten, unsere vorherrschenden Kategorien oder die Verwendungsweisen von Wörtern und Begriffen, bleibt meines Erachtens zentral, um durch ihre Analyse politischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf die Spur zu kommen. Mich reizt es zum Beispiel schon länger, das Sprechen über „Meinung“ zu untersuchen. Mein Eindruck ist, dass seit etwa zwei, drei Jahren viel öfter von „Meinung“ die Rede ist, vor allem werden auch wissenschaftliche Beiträge so behandelt, als ginge es um bloße Meinungen – und dies trifft nicht nur die Geisteswissenschaften. Diese Sprechweise hat den Effekt, wissenschaftliche Aussagen zu delegitimieren (was von manchen ja auch dezidiert so gewollt ist) und sie verstärkt die Tendenz, Fakten in den Wind zu schießen, kurz: ein solches Sprechen desensibilisiert auch gegenüber Fake News.
Philipp Sarasin: Das würde gut zu unserer Kategorie „Reizwörter“ passen. Dort haben wir ja immer wieder analysiert, wie bestimmte Begriffe oder vielmehr ihre gegenwärtigen Verwendungsweisen das öffentliche Sprechen formatieren, es in eine bestimmte Richtung lenken, etwa wenn man im Zusammenhang mit Migration von „Wurzeln“ spricht, angesichts von kulturellem Wandel von „Tradition“, oder welche Funktion der billige Spott über die „Postmoderne“ hat, etc. Solche Artikel schreiben sich aber auch nicht von alleine. Doch der zeitliche und analytische Einsatz, der auch ein politischer ist, lohnt sich, weil auf diese Weise scheinbare Selbstverständlichkeiten und angebliche Wahrheiten kritisch geprüft werden.
Sylvia Sasse: Gerade lässt sich quasi live verfolgen, was es politisch, journalistisch und juristisch bedeutet, wie man das, was gerade in Washington passiert ist, eigentlich bezeichnet. Ich kann mich erinnern, dass das Schweizer Fernsehen SRF zuerst noch recht hilflos von einem „Einbruch“ sprach und ich vor dem Fernseher die Augen verdrehte. Inzwischen geht es um einen justiziablen Begriff – „incitement of insurrection“ – für das Impeachment. Über diesen Wording-Wandel innerhalb kürzester Zeit hätte ich gerne geschrieben. Und was die Meinungen angeht, da kommt der andere Aspekt ins Spiel. Hannah Arendt hat 1968 schon davon gesprochen, dass ständig Meinungen als Fakten und Fakten als Meinungen umkodiert werden. Es geht also auch darum, das, was schon mal gewusst worden ist, was schon mal diskutiert worden ist, in die jetzigen Debatten einzufügen.
Gesine Krüger: Über Allgemeinplätze wie Augenhöhe, Tellerrand und Achtsamkeit hinaus, oder auch beiläufige Schrecklichkeiten aus dem NS-Vokabular wie Nacht und Nebel oder Selektion, interessieren mich die mitgeschleppten Begriffe und Konzepte wie Naturvolk, Stammeskonflikte, Erschließung Afrikas oder Kulturkreis. Es geht mir aber nicht darum, aus dem Elfenbeinturm heraus – noch so ein interessantes „Reizwort“ – zu belehren oder sich aufzuregen, sondern darum, zugänglich und analytisch zu zeigen, woher diese Sprache kommt und was sie im Denken anrichtet, anrichten kann.
Philipp Sarasin: Man könnte doch eigentlich denken, dass diese Begriffe längst disqualifiziert sind und man das niemandem mehr sagen muss…
Gesine Krüger: In der Tat! Manchmal bin ich über die grosse und meist positive Resonanz auf meine – und andere – Texte aus dem Bereich Kolonialismus oder Afrika erstaunt, und denke, das habe ich doch schon immer gesagt. Aber ich habe es eben nicht für dieses Publikum gesagt bzw. sagen können, weil die “Plattform” dafür fehlte.
Brigitta Bernet: Genau, und das finde ich an GdG nach wie vor so attraktiv: Die Möglichkeit, mit einem Publikum jenseits der eigenen Scientific Community zu kommunizieren – ohne Fachjargon und Fussnoten, aber mit dem Anspruch, zum Weiterdenken anzuregen.
Gleb Albert: Für ein breiteres Publikum zu schreiben, ist dabei für Wissenschaftler:innen auch ein Wagnis: Einerseits bezieht man innerhalb einer gesellschaftlichen Debatte deutlich Stellung; andererseits tut man dies als Wissenschaftler:in und ist dem Ethos der eigenen akademischen Disziplin verpflichtet. Das ist ein Spagat, den sich nicht alle einzugehen trauen – aber letztendlich ist es doch etwas, was man als für die Öffentlichkeit tätige:r Wissenschaftler:in tun sollte. Und es lohnt sich auch, wenn man sieht, wie unsere Texte zirkulieren: Sei es, dass ein bekannter Politiker einen Text retweetet; sei es, dass Lehrer:innen berichten, sie hätten einen Text von uns im Leistungskurs Geschichte besprechen lassen; sei es, dass wir von Menschen aufmerksam gelesen werden, die sowohl jenseits der akademischen Bubble als auch der Welt der sozialen Medien stehen.
Gesine Krüger: Schreiben für die Öffentlichkeit bedeutet auch Übersetzung, obwohl wir ja ohnehin permanent übersetzen: für fachfremde Kolleg:innen, für Studierende, bei Vorträgen und in den Weiterbildungen etc. Allerdings hat sich hier der Kreis erweitert und Geschichte der Gegenwart ist auch mit den Leserinnen und Lesern entstanden. Es hat uns von Anfang an beeinflusst, dass wir verstanden werden wollen, aber auch ganz profan das Format von ca. 12.000 Zeichen hat sich als richtige Länge zum Online-Lesen erwiesen. Und das hat mit dem Publikum zu tun und nicht so sehr mit dem Medium eines Online-Journals an sich, da könnte man ja sehr viel mehr schreiben.
Christine Lötscher: Wenn man einmal anfängt, über Reizwörter nachzudenken, eröffnet sich ein Reflexionsraum, der uns noch viel Arbeit abverlangen wird. Es gibt nämlich auch Begriffe, die plötzlich in einer verstörenden Ambivalenz präsent sind. Zum Beispiel „Querdenker“. Auf der einen Seite wird das Etikett, das sich die Gegner:innen der Corona-Massnahmen selbst gegeben haben, in der medialen Berichterstattung fraglos und unreflektiert übernommen, während Friedrich Dürrenmatt auf denselben Kanälen als wichtiger Querdenker zelebriert wird.
Das Sprechen über „Meinung“ ist etwas, das mich auch im universitären Alltag stark umtreibt. Mir scheint, dass durch die Rede über Meinung nicht nur die Tendenz verstärkt wird, Fakten zu negieren und zu delegitimieren. Für viele Studierende ist der Unterschied zwischen einer auf Argumenten und Analysen beruhenden These und einer Meinung schwer zu verstehen.
Sandro Zanetti: Ich erinnere mich in dem Zusammenhang an einen Kollegen, der mir zu Beginn unseres ‚Auftritts‘ mit Geschichte der Gegenwart sagte, er sei froh, dass es jetzt eine Plattform gebe, auf der Wissenschaftler:innen ihre ‚Meinung‘ kundtun können. So etwas habe gefehlt. Er meinte also mit ‚Meinung‘ etwas Positives (wie im ‚opinion piece‘). Ich habe dann deutlich zu machen versucht, dass es uns eigentlich gerade nicht um ‚Meinung‘ geht, sondern um Einschätzungen, die wir für wahr, für wichtig und richtig halten, auch und gerade unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das entspricht, wie mir scheint, eher einer Haltung, die man früher vielleicht mit dem Begriff des intellektuellen Engagements belegt hätte. Dass sich diese Art von Haltung mit einem wissenschaftlichen Anspruch nicht nur verträgt, sondern doch eigentlich decken müsste, kommt mir wie eine Selbstverständlichkeit vor. Aber es bleibt die Frage, wie sich diese Haltung in Texte umsetzen lässt.
Philipp Sarasin: Stimmt – aber ich möchte doch nochmals kurz auf das Problem der „bloßen Meinung“ zurückkommen. Daran ist noch ein anderer Punkt interessant. Zum Beispiel zeigen die Anti-Corona-Demonstrationen und die jetzt in so erschreckendem Maße verbreitete Impfskepsis ein Phänomen, das der Religionssoziologe Roy Wallis schon 1979 angesichts der damals aufkommenden New Age-Bewegung „individuelle Epistemologien“ nannte. Damit meinte er, dass sich jeder seine Weltsicht und Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst zusammenbastelt, wie das Esoteriker damals lehrten und wie das heute so verbreitet scheint (die Querdenker:innen denken ja auch nicht alle gleich, sondern immer auch wieder, je nach Gusto, ein wenig anders – als ‚Beweis‘, gleichsam, dass man eben ‚selbst‘ denkt). Ich frage mich wirklich, wie man als Geisteswissenschaftler:in und eben auch als GdG-Herausgeber:in oder -Autor:in dagegen angehen kann. Welche Funktion haben wir? Und welches Rezept?
Sylvia Sasse: „Individuelle Epistemologien“ finde ich auch als aktuelle Beschreibungsfigur sehr gut. Weil es nicht (mehr) darum geht, einer gemeinsamen Ideologie zu folgen, sondern „Meinung“ selbst zur Ideologie zu machen, zum scheinbaren Ausdruck von Selbstständigkeit, wie du sagst, oder zum angeblichen Ausdruck von Vielfalt, wie das in derjenigen Presse stattfindet, die alle möglichen Meinungen druckt. Dabei soll in letzterem Fall ja nur verborgen werden, dass man sich bei Meinungen anscheinend nicht um Fakten kümmern müsse.
Janosch Steuwer: Die Frage ist natürlich, ob das Meinen sich verändert hat oder ob heute nur öffentlich mehr Meinungen sichtbar sind als früher. Ich glaube man darf nicht unterschätzen, wie sehr sich die Struktur unserer Öffentlichkeit derzeit wandelt, indem heute jede:r vom eigenen Smartphone zu einem breiten Publikum sprechen kann. Das ist toll, weil damit Perspektiven und Erfahrungen in die Debatte eingehen, die früher kaum repräsentiert waren. Aber zugleich erodieren Mindeststandards der Debattenkultur, weil implizite Zugangshürden verblassen, die klassische Medien einfach dadurch gesetzt haben, dass sie ihre Beiträge lektorierten. Sichtbar werden so auch Faktenresistenz, Irrationalität, Lügen, Pöbelei und Debattenverweigerung, weil man über „seine Meinung“ nicht diskutiert. Dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit spiegelt sich auch in dem Streit darüber, welchen Positionen man „keine Plattform“ geben sollte, ob es mehr „Ambiguitätstoleranz“ bräuchte, ob Social Media stärker reguliert werden müsste usw. Wie schwierig so etwas dann in der Praxis ist, zeigt sich ja gerade am Twitter-Bann von Donald Trump. Wichtig finde ich aber auch: Geschichte der Gegenwart gäbe es ohne die neuen digitalen Möglichkeiten nicht, und die Antwort auf die Probleme liegt für mich mindestens ebenso darin, in der neuen, digitalen Öffentlichkeit Räume zu bewahren, in denen rationales und komplexes Denken weiter gelebt werden kann. Und dafür braucht es dort unsere Fähigkeiten als Geisteswissenschaftler:innen.
Christine Lötscher: Ein Rezept gibt es wohl nicht, nur ein permanentes Analysieren und Aushandeln. Einen Zugang bietet – aus der Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin, die sich mit populären Medien beschäftigt – das Handwerk: nämlich die zurzeit vielbeschworenen und vielgeschmähten ‚Erzählungen‘ und ‚Narrative‘ zu untersuchen und auf ihre Gemachtheit hinzuweisen; aufzuzeigen, wie Erzählen formal funktioniert und was in seinen Strukturen an Denkweisen mittransportiert wird, die wir auf den ersten Blick nicht erkennen können.
Svenja Goltermann: Das sehe ich auch so, ein einfaches „Rezept“, wie wir gegen die beschriebene Entwicklung angehen können, gibt es nicht. Ich denke sogar, dass wir gerade als Geisteswissenschaftler:innen auch die Aufgabe haben, „Rezepte“ kritisch zu prüfen. Damit meine ich nicht, dass wir, salopp gesagt, dauernd herummäkeln müssen. Aber wir verfügen als Geisteswissenschaftler:innen über die spezifische Kompetenz, politische Initiativen und Entscheidungen auf ihre nicht immer gleich sichtbaren Implikationen und Effekte zu prüfen. Ein Beispiel dazu: In jüngerer Zeit sind wiederholt Forderungen nach neuen Gesetzen laut geworden, um gegen verletzende Äußerungen besser vorgehen zu können. Ich glaube, wir alle kennen Momente, in denen wir einem solchen Anliegen gerne zustimmen würden. Allerdings zeigt der Blick ins 19. und 20. Jahrhundert eben auch, dass Gesetze, die freies öffentliches Sprechen regulieren wollen, zu einem Bumerang werden können, der sich gegen eine demokratische Opposition richtet. Auch Gesetze, die sich dazu eignen, Sprache zu reglementieren, um Identitäten nicht zu verletzen, können eine solche unintendierte Kehrseite haben. Dies im Auge zu behalten, und zwar gerade in dem Moment, wo uns diskriminierendes Sprechen auf die Palme bringt, halte ich für zentral.
Philipp Sarasin: Es gibt Geschichte der Gegenwart jetzt seit fünf Jahren. Ich habe oben nach unserem „Rezept“ gefragt. Ich möchte das nochmals aufgreifen: Was haben wir eigentlich mit unserer Plattform für einen Weg gefunden, um in die öffentliche Debatte zu intervenieren? Wie haben wir angefangen, und wie hat sich unsere Form verändert und wo stehen wir heute?
Brigitta Bernet: Das Erinnern der Anfänge finde ich nach wie vor erhellend. Es gibt ja so etwas wie eine Gründungsszene von GdG: die Durchsetzungsinitiative, über die die Schweiz im Februar 2016 abgestimmt hat. Mit dieser Initiative wollte die SVP in der Verfassung festschreiben, dass in der Schweiz wohnhafte Ausländer:innen auch bei geringfügigen Vergehen automatisch abgeschoben werden können – ohne Einzelfallprüfung und ohne Ermessensspielraum für eine:n Richter:in. Das hätte zu einer kompletten Ungleichbehandlung von Menschen mit und ohne Schweizer Pass geführt. Zum Glück wurde die Initiative mit 59% Nein-Stimmen abgewehrt. Diese Konstellation jedenfalls gehörte zum Ausgangspunkt von GdG. Sie beinhaltete – mit einigen Ausnahmen – auch eine Medienlandschaft, die sich immer weniger gegen politische und intellektuelle Strömungen weit rechts im politischen Spektrum abgrenzt oder sogar bewusst desinformiert. Gegen diese Entwicklungen, die noch vor dem Erstarken der AfD in Deutschland stattfanden, hat sich GdG von Anfang an gestellt.
Sylvia Sasse: Ja, und wir können, wenn wir die letzten fünf Jahre vorbeiziehen lassen, interessante Verschiebungen feststellen. Als ich in die Schweiz kam, fünf Jahre vor Beginn von GdG, hielt ich es für undenkbar, dass die Rhetorik der SVP auf Deutschland übertragbar wäre – die konsequenten Verkehrungen, der Opferstatus trotz Macht, das Elitenbashing trotz Elitendasein etc. Ich höre mich noch sagen: „In Deutschland würde eine solche Rhetorik der Verdrehung sofort diskutiert und lächerlich gemacht“. Und die Rhetorik kam schneller und radikaler, als ich dachte und hat trotz permanenter Kritik auch zu einem schleichenden unreflektierten Gebrauch von Wörtern wie „Mainstreammedien“ oder „alternative Medien“ oder neuerdings „Cancel Culture“ geführt.
Svenja Goltermann: Diese Entwicklung wird uns wahrscheinlich noch eine Weile begleiten. Da wird es durchaus manchmal heißen, die Nerven zu bewahren und sich nicht die Fähigkeit zur klaren Analyse nehmen zu lassen. Ich glaube, das ist uns bisher ganz gut gelungen, zudem hat es uns glücklicherweise nicht daran gehindert, uns auch ganz anderen Themen und Problemen zuzuwenden – und auch anderen Weltregionen, wie Osteuropa, Asien und Afrika. Dies ist ja in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: etwa um mögliche Verflechtungen zwischen Entwicklungen in unterschiedlichen geografischen Teilen der Welt zu erkennen, aber ebenso, um die Spezifik der eigenen Denkweisen schärfer in den Blick und nicht zuletzt auch andere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten vor Augen geführt zu bekommen. Ich sehe das als einen ungeheuren Gewinn, den ich auch in den nächsten Jahren bei GdG nicht missen möchte.
Sandro Zanetti: Bestenfalls geht man ja nach der Lektüre unserer Artikel mit offeneren Augen, mit einem geschärften Blick durch die Welt. Das wäre dann die Perspektive der Lektüre, der Rezeption, die wir immer auch haben, wenn wir Artikel lesen, redigieren, kommentieren. Das Format der im Schnitt etwa 12.000 Zeichen ist dafür ideal, wie mir immer deutlicher wird. Denn dieser Rahmen zwingt einen – jetzt vom Schreiben her gedacht – dazu, die eigenen Überlegungen, die Argumente und Kontextualisierungen auf den Punkt zu bringen. Diesen Punkt zu finden oder zu machen, hat nichts mit Trivialisierung oder Komplexitätsreduktion zu tun, sondern mit einem Prozess der Klärung, der Benennung, auch der Verantwortlichkeit im basalsten Sinne, dass man sich nicht hinter dem viel zu oft gezogenen Vorhang eines bloßen Differenzierungsanspruchs zurückziehen kann.
Brigitta Bernet: Klärung und Kritik, würde ich ergänzen. Geschichte der Gegenwart heisst ja auch, einen Sachverhalt historisierend zu betrachten in dem Sinne, dass man einen Schritt zurücktritt, dass man den Präsentismus und die Faktizität eines Gegenstandes hintergeht. In diesem distanzierenden Gestus liegt ein Moment der Kritik – auch im griechischen Wortsinn einer „Kunst der Beurteilung“ (kritikḗ téchnē) –, das für GdG zentral ist.
Gesine Krüger: Für mich sind diejenigen Texte unserer Autor:innen und von uns selbst am besten gelungen, wenn sie nicht „alt“ werden. D.h. wenn sie über die Anknüpfung an aktuelle Phänomene hinaus Fragen der Gegenwart so behandeln, dass sie auch nach ein paar Jahren noch etwas zu sagen haben. Dass es funktioniert, sieht man an unseren „Freitagstexten“ aus dem Archiv. Ich denke z.B. an den Text von Bettina Grimmer über die Rückkehr der Figur der „unwürdigen Armen“ angesichts der Kürzung von Sozialhilfe in der Schweiz. Hier wird auch ein zweiter Aspekt deutlich, der mir wichtig ist: Geschichte ist nicht einfach die Vorgeschichte der Gegenwart und auch kein Reservoir von moralischen Lernangeboten. Vielmehr lässt sich etwa zeigen, dass die Koppelung von Arbeit und Einkommen keineswegs selbstverständlich ist oder dass Arbeitslosigkeit ein relativ neues Phänomen ist. Außerdem zeigen die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten von Menschen in der Vergangenheit, dass die Gegenwart nicht die logische Konsequenz von Prozessen ist, sondern verändert werden kann.
Christian Geulen: Was am Schreiben auf GdG nach wie vor reizt, ist das Format des Einspruchs: auf vier bis fünf Seiten freihändig und ‚ohne Geländer‘ einen Gedanken zu entwickeln, der versucht, am Thema, an der Sache etwas Neues freizulegen. Wissenschaftliches oder journalistisches Schreiben, politisches oder alltägliches Sprechen ebenso wie das Dauerrauschen der sozialen Medien – sie alle kommentieren Gegenwart, indem sie eben das fortführen und laufend vollziehen, was man die öffentliche Debatte nennt. Im Rahmen dieser Vollzugslogik ist oft absehbar, was bestimmte Medienformate, was bestimmte Parteien, Wissenschaftler oder öffentliche Kommentatoren zur Debatte beitragen. Denn die Debatte ist ihr Geschäft. Auch GdG reiht sich hier ein – aber eben nicht oder zumindest nicht immer als Vollzug und Fortführung der Debatte, sondern als Unterbrechung; als Versuch, auf genau das hinzuweisen, was die öffentliche Debatte an ihrem eigenen Thema und in ihrer eigenen Aufregung übersieht. Das „Substanzielle“, was GdG zur öffentlichen Debatte beisteuert, liegt für mich darin, Gegenwartsthemen von der öffentlichen Diskurslogik zu befreien und auf ihre anderen, übersehenen Seiten hinzuweisen: in diesem Sinne also Einspruch zu erheben.
Janosch Steuwer: Ich glaube, das Wort „Einspruch“ passt nicht so recht. Häufig formulieren unsere Texte ja gar nicht einen direkten Protest, den man mit diesem Begriff verbindet. Es geht vor allem um Blickschärfung, wie Sandro so schön gesagt hat. Ich würde es deshalb als ein Einmischen beschreiben: in dem Sinne, dass wir und unsere Autor:innen sich in aktuellen Diskussionen zu Wort melden, aber auch, dass wir Gedanken, Argumente, Perspektiven in die Debatte „einmischen“. Wir haben ja auch auf unserer Seite bewusst keinen Kommentarbereich, sondern schicken die Texte hinaus in die neuen Öffentlichkeiten von Facebook und Twitter zum Teilen, Loben und Kritisieren. Und ich finde es noch immer ganz faszinierend, den einzelnen Texten dabei zuzusehen, wie sie sich – über unsere treuen Abonnent:innen hinaus – in den Sozialen Medien ihr eigenes Publikum suchen. Bei manchen Texten ist das größer, bei manchen kleiner. Manche finden Wege in andere Öffentlichkeiten; wenn sie von Zeitungen zitiert werden oder unsere Autor:innen ihre für uns entwickelten Gedanken woanders vorstellen. Und wieder andere finden lange nach ihrer Veröffentlichung noch einmal neue Aufmerksamkeit, weil sie in einer veränderten Situation plötzlich neue Relevanz entfalten. Geschichte der Gegenwart beschreibt nicht nur das Heute, es lebt darin. Und für mich ist das die schönste Eigenheit unseres Projektes.
Alle Herausgeber:innen: Um zum Schluss jetzt aber noch das Offensichtliche zu sagen, das so leicht übersehen wird: Unser Online-Magazin gäbe es nicht ohne das Design und die Architektur der Seite, die Jascha Goltermann entworfen und jetzt noch einmal weiterentwickelt und in ein ganz neues Layout gekleidet hat. Er hat uns gewissermaßen auf die Beine gestellt und gibt uns jetzt wieder einen neuen Impuls. Und für die Leserinnen und Leser meist unsichtbar, für GdG aber unverzichtbar, ist die Arbeit unserer Redakteurin Sabrina Habel. Sie ist selbst auch Autorin, meist aber verhandelt sie mit Autor:innen, redigiert Texte, organisiert unser manchmal etwas flatterhaftes Team… Daher ein großes Dankeschön an Euch beide!
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Am 5. Februar, Freitagabend um 19 Uhr, werden wir in einer für alle Leserinnen und Leser öffentlichen Zoom-Veranstaltung 5 Jahre GdG feiern (mit virtuellem Anstoßen…) und gemeinsam mit Ihnen diese Diskussion fortsetzen. Achten Sie auf unsere Ankündigung auf Social Media!
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