„Geschichte der Gegenwart” wird heute fünf Jahre alt! Die Herausgeber:innen sprechen in diesem längeren Gespräch darüber, wie sie und die vielen Autor:innen von GdG sich als Wissenschaftler:innen ganz ohne akademisches Geländer in die öffentliche Debatte einmischen. Zusammengefasst: Es reizt uns immer noch sehr!

  • GdG-Team

    Dies ist das gemeinsame Profil des Teams von Geschichte der Gegenwart. Die Liste aller Mitglieder finden Sie hier.

Svenja Golter­mann: Geschichte der Gegen­wart gibt es nun seit fünf Jahren, mit einem wach­senden Kreis an Herausgeber:innen, die aus den Geschichts- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaften kommen. Als wir im Januar 2016 anfingen, hatten wir kein Konzept, auch wenn es viel­leicht so schien. Was uns aber einte, waren das Inter­esse an Gegen­wart, das Bedürfnis, dieser analy­tisch zu begegnen, sowie die Gewiss­heit, dass wir als Geisteswissenschaftler:innen etwas Substan­zi­elles zur öffent­li­chen Debatte beisteuern können. Das Format aber, das wir uns für Geschichte der Gegen­wart vorstellten – der lesbare, aber durchaus anspruchs­volle, gut argu­men­tie­rende Text auf begrenztem Raum – war für uns eine Heraus­for­de­rung. Was reizt uns fünf Jahre später noch an diesem Projekt?

Sylvia Sasse: Es ist die Gegen­wart selbst, die mich reizt. Als wir vor fünf Jahren begonnen haben, war der rechts­po­pu­lis­ti­sche, zum Teil rechts­ra­di­kale oder einfach poli­tisch desin­for­ma­tive Eingriff in die Wahr­neh­mung der Gegen­wart und die Sprache der Öffent­lich­keit massiv. Wir wollten mit unserer Perspek­tive zu einer histo­ri­schen Grun­die­rung und zu einer sprach­li­chen Sensi­bi­li­sie­rung beitragen. Wir wissen ja, dass es nicht egal ist, wie man etwas herleitet oder benennt, sondern dass dieses Herleiten und Benennen unmit­tel­bare Effekte auf die Gegen­wart hat. Seither hat sich die Unsi­cher­heit, die Unvor­her­seh­bar­keit der Zukunft durch z.B. Corona, den Klima­wandel und auch durch unvor­her­sehbar agie­rende Poli­tiker noch verstärkt.

Svenja Golter­mann: Die Sprache im Auge zu behalten, unsere vorherr­schenden Kate­go­rien oder die Verwen­dungs­weisen von Wörtern und Begriffen, bleibt meines Erach­tens zentral, um durch ihre Analyse poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Verän­de­rungen auf die Spur zu kommen. Mich reizt es zum Beispiel schon länger, das Spre­chen über „Meinung“ zu unter­su­chen. Mein Eindruck ist, dass seit etwa zwei, drei Jahren viel öfter von „Meinung“ die Rede ist, vor allem werden auch wissen­schaft­liche Beiträge so behan­delt, als ginge es um bloße Meinungen – und dies trifft nicht nur die Geis­tes­wis­sen­schaften. Diese Sprech­weise hat den Effekt, wissen­schaft­liche Aussagen zu dele­gi­ti­mieren (was von manchen ja auch dezi­diert so gewollt ist) und sie verstärkt die Tendenz, Fakten in den Wind zu schießen, kurz: ein solches Spre­chen desen­si­bi­li­siert auch gegen­über Fake News.

Philipp Sarasin: Das würde gut zu unserer Kate­gorie „Reiz­wörter“ passen. Dort haben wir ja immer wieder analy­siert, wie bestimmte Begriffe oder viel­mehr ihre gegen­wär­tigen Verwen­dungs­weisen das öffent­liche Spre­chen forma­tieren, es in eine bestimmte Rich­tung lenken, etwa wenn man im Zusam­men­hang mit Migra­tion von „Wurzeln“ spricht, ange­sichts von kultu­rellem Wandel von „Tradi­tion“, oder welche Funk­tion der billige Spott über die „Post­mo­derne“ hat, etc. Solche Artikel schreiben sich aber auch nicht von alleine. Doch der zeit­liche und analy­ti­sche Einsatz, der auch ein poli­ti­scher ist, lohnt sich, weil auf diese Weise schein­bare Selbst­ver­ständ­lich­keiten und angeb­liche Wahr­heiten kritisch geprüft werden.

Sylvia Sasse: Gerade lässt sich quasi live verfolgen, was es poli­tisch, jour­na­lis­tisch und juris­tisch bedeutet, wie man das, was gerade in Washington passiert ist, eigent­lich bezeichnet. Ich kann mich erin­nern, dass das Schweizer Fern­sehen SRF zuerst noch recht hilflos von einem „Einbruch“ sprach und ich vor dem Fern­seher die Augen verdrehte. Inzwi­schen geht es um einen justi­zia­blen Begriff – „inci­te­ment of insur­rec­tion“ – für das Impeach­ment. Über diesen Wording-Wandel inner­halb kürzester Zeit hätte ich gerne geschrieben. Und was die Meinungen angeht, da kommt der andere Aspekt ins Spiel. Hannah Arendt hat 1968 schon davon gespro­chen, dass ständig Meinungen als Fakten und Fakten als Meinungen umko­diert werden. Es geht also auch darum, das, was schon mal gewusst worden ist, was schon mal disku­tiert worden ist, in die jetzigen Debatten einzufügen.

Gesine Krüger: Über Allge­mein­plätze wie Augen­höhe, Teller­rand und Acht­sam­keit hinaus, oder auch beiläu­fige Schreck­lich­keiten aus dem NS-Vokabular wie Nacht und Nebel oder Selek­tion, inter­es­sieren mich die mitge­schleppten Begriffe und Konzepte wie Natur­volk, Stam­mes­kon­flikte, Erschlie­ßung Afrikas oder Kultur­kreis. Es geht mir aber nicht darum, aus dem Elfen­bein­turm heraus – noch so ein inter­es­santes „Reiz­wort“ – zu belehren oder sich aufzu­regen, sondern darum, zugäng­lich und analy­tisch zu zeigen, woher diese Sprache kommt und was sie im Denken anrichtet, anrichten kann.

Philipp Sarasin: Man könnte doch eigent­lich denken, dass diese Begriffe längst disqua­li­fi­ziert sind und man das niemandem mehr sagen muss…

Gesine Krüger: In der Tat! Manchmal bin ich über die grosse und meist posi­tive Reso­nanz auf meine – und andere – Texte aus dem Bereich Kolo­nia­lismus oder Afrika erstaunt, und denke, das habe ich doch schon immer gesagt. Aber ich habe es eben nicht für dieses Publikum gesagt bzw. sagen können, weil die “Platt­form” dafür fehlte.

Brigitta Bernet: Genau, und das finde ich an GdG nach wie vor so attraktiv: Die Möglich­keit, mit einem Publikum jenseits der eigenen Scien­tific Commu­nity zu kommu­ni­zieren – ohne Fach­jargon und Fuss­noten, aber mit dem Anspruch, zum Weiter­denken anzuregen.

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Gleb Albert: Für ein brei­teres Publikum zu schreiben, ist dabei für Wissenschaftler:innen auch ein Wagnis: Einer­seits bezieht man inner­halb einer gesell­schaft­li­chen Debatte deut­lich Stel­lung; ande­rer­seits tut man dies als Wissenschaftler:in und ist dem Ethos der eigenen akade­mi­schen Diszi­plin verpflichtet. Das ist ein Spagat, den sich nicht alle einzu­gehen trauen – aber letzt­end­lich ist es doch etwas, was man als für die Öffent­lich­keit tätige:r Wissenschaftler:in tun sollte. Und es lohnt sich auch, wenn man sieht, wie unsere Texte zirku­lieren: Sei es, dass ein bekannter Poli­tiker einen Text retweetet; sei es, dass Lehrer:innen berichten, sie hätten einen Text von uns im Leis­tungs­kurs Geschichte bespre­chen lassen; sei es, dass wir von Menschen aufmerksam gelesen werden, die sowohl jenseits der akade­mi­schen Bubble als auch der Welt der sozialen Medien stehen.

Gesine Krüger: Schreiben für die Öffent­lich­keit bedeutet auch Über­set­zung, obwohl wir ja ohnehin perma­nent über­setzen: für fach­fremde Kolleg:innen, für Studie­rende, bei Vorträgen und in den Weiter­bil­dungen etc. Aller­dings hat sich hier der Kreis erwei­tert und Geschichte der Gegen­wart ist auch mit den Lese­rinnen und Lesern entstanden. Es hat uns von Anfang an beein­flusst, dass wir verstanden werden wollen, aber auch ganz profan das Format von ca. 12.000 Zeichen hat sich als rich­tige Länge zum Online-Lesen erwiesen. Und das hat mit dem Publikum zu tun und nicht so sehr mit dem Medium eines Online-Journals an sich, da könnte man ja sehr viel mehr schreiben.

Chris­tine Lötscher: Wenn man einmal anfängt, über Reiz­wörter nach­zu­denken, eröffnet sich ein Refle­xi­ons­raum, der uns noch viel Arbeit abver­langen wird. Es gibt nämlich auch Begriffe, die plötz­lich in einer verstö­renden Ambi­va­lenz präsent sind. Zum Beispiel „Quer­denker“. Auf der einen Seite wird das Etikett, das sich die Gegner:innen der Corona-Massnahmen selbst gegeben haben, in der medialen Bericht­erstat­tung fraglos und unre­flek­tiert über­nommen, während Fried­rich Dürren­matt auf denselben Kanälen als wich­tiger Quer­denker zele­briert wird.
Das Spre­chen über „Meinung“ ist etwas, das mich auch im univer­si­tären Alltag stark umtreibt. Mir scheint, dass durch die Rede über Meinung nicht nur die Tendenz verstärkt wird, Fakten zu negieren und zu dele­gi­ti­mieren. Für viele Studie­rende ist der Unter­schied zwischen einer auf Argu­menten und Analysen beru­henden These und einer Meinung schwer zu verstehen.

Sandro Zanetti: Ich erin­nere mich in dem Zusam­men­hang an einen Kollegen, der mir zu Beginn unseres ‚Auftritts‘ mit Geschichte der Gegen­wart sagte, er sei froh, dass es jetzt eine Platt­form gebe, auf der Wissenschaftler:innen ihre ‚Meinung‘ kundtun können. So etwas habe gefehlt. Er meinte also mit ‚Meinung‘ etwas Posi­tives (wie im ‚opinion piece‘). Ich habe dann deut­lich zu machen versucht, dass es uns eigent­lich gerade nicht um ‚Meinung‘ geht, sondern um Einschät­zungen, die wir für wahr, für wichtig und richtig halten, auch und gerade unter wissen­schaft­li­chen Gesichts­punkten. Das entspricht, wie mir scheint, eher einer Haltung, die man früher viel­leicht mit dem Begriff des intel­lek­tu­ellen Enga­ge­ments belegt hätte. Dass sich diese Art von Haltung mit einem wissen­schaft­li­chen Anspruch nicht nur verträgt, sondern doch eigent­lich decken müsste, kommt mir wie eine Selbst­ver­ständ­lich­keit vor. Aber es bleibt die Frage, wie sich diese Haltung in Texte umsetzen lässt.

Philipp Sarasin: Stimmt – aber ich möchte doch noch­mals kurz auf das Problem der „bloßen Meinung“ zurück­kommen. Daran ist noch ein anderer Punkt inter­es­sant. Zum Beispiel zeigen die Anti-Corona-Demonstrationen und die jetzt in so erschre­ckendem Maße verbrei­tete Impf­skepsis ein Phänomen, das der Reli­gi­ons­so­zio­loge Roy Wallis schon 1979 ange­sichts der damals aufkom­menden New Age-Bewegung „indi­vi­du­elle Epis­te­mo­lo­gien“ nannte. Damit meinte er, dass sich jeder seine Welt­sicht und Wahr­neh­mung der Wirk­lich­keit selbst zusam­men­bas­telt, wie das Esote­riker damals lehrten und wie das heute so verbreitet scheint (die Querdenker:innen denken ja auch nicht alle gleich, sondern immer auch wieder, je nach Gusto, ein wenig anders – als ‚Beweis‘, gleichsam, dass man eben ‚selbst‘ denkt). Ich frage mich wirk­lich, wie man als Geisteswissenschaftler:in und eben auch als GdG-Herausgeber:in oder -Autor:in dagegen angehen kann. Welche Funk­tion haben wir? Und welches Rezept?

Sylvia Sasse: „Indi­vi­du­elle Epis­te­mo­lo­gien“ finde ich auch als aktu­elle Beschrei­bungs­figur sehr gut. Weil es nicht (mehr) darum geht, einer gemein­samen Ideo­logie zu folgen, sondern „Meinung“ selbst zur Ideo­logie zu machen, zum schein­baren Ausdruck von Selbst­stän­dig­keit, wie du sagst, oder zum angeb­li­chen Ausdruck von Viel­falt, wie das in derje­nigen Presse statt­findet, die alle mögli­chen Meinungen druckt. Dabei soll in letz­terem Fall ja nur verborgen werden, dass man sich bei Meinungen anschei­nend nicht um Fakten kümmern müsse.

Janosch Steuwer: Die Frage ist natür­lich, ob das Meinen sich verän­dert hat oder ob heute nur öffent­lich mehr Meinungen sichtbar sind als früher. Ich glaube man darf nicht unter­schätzen, wie sehr sich die Struktur unserer Öffent­lich­keit derzeit wandelt, indem heute jede:r vom eigenen Smart­phone zu einem breiten Publikum spre­chen kann. Das ist toll, weil damit Perspek­tiven und Erfah­rungen in die Debatte eingehen, die früher kaum reprä­sen­tiert waren. Aber zugleich erodieren Mindest­stan­dards der Debat­ten­kultur, weil impli­zite Zugangs­hürden verblassen, die klas­si­sche Medien einfach dadurch gesetzt haben, dass sie ihre Beiträge lekto­rierten. Sichtbar werden so auch Fakten­re­sis­tenz, Irra­tio­na­lität, Lügen, Pöbelei und Debat­ten­ver­wei­ge­rung, weil man über „seine Meinung“ nicht disku­tiert. Dieser Struk­tur­wandel der Öffent­lich­keit spie­gelt sich auch in dem Streit darüber, welchen Posi­tionen man „keine Platt­form“ geben sollte, ob es mehr „Ambi­gui­täts­to­le­ranz“ bräuchte, ob Social Media stärker regu­liert werden müsste usw. Wie schwierig so etwas dann in der Praxis ist, zeigt sich ja gerade am Twitter-Bann von Donald Trump. Wichtig finde ich aber auch: Geschichte der Gegen­wart gäbe es ohne die neuen digi­talen Möglich­keiten nicht, und die Antwort auf die Probleme liegt für mich mindes­tens ebenso darin, in der neuen, digi­talen Öffent­lich­keit Räume zu bewahren, in denen ratio­nales und komplexes Denken weiter gelebt werden kann. Und dafür braucht es dort unsere Fähig­keiten als Geisteswissenschaftler:innen.

Chris­tine Lötscher: Ein Rezept gibt es wohl nicht, nur ein perma­nentes Analy­sieren und Aushan­deln. Einen Zugang bietet – aus der Perspek­tive einer Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin, die sich mit popu­lären Medien beschäf­tigt – das Hand­werk: nämlich die zurzeit viel­be­schwo­renen und viel­ge­schmähten ‚Erzäh­lungen‘ und ‚Narra­tive‘ zu unter­su­chen und auf ihre Gemacht­heit hinzu­weisen; aufzu­zeigen, wie Erzählen formal funk­tio­niert und was in seinen Struk­turen an Denk­weisen mittrans­por­tiert wird, die wir auf den ersten Blick nicht erkennen können.

Svenja Golter­mann: Das sehe ich auch so, ein einfa­ches „Rezept“, wie wir gegen die beschrie­bene Entwick­lung angehen können, gibt es nicht. Ich denke sogar, dass wir gerade als Geisteswissenschaftler:innen auch die Aufgabe haben, „Rezepte“ kritisch zu prüfen. Damit meine ich nicht, dass wir, salopp gesagt, dauernd herum­mä­keln müssen. Aber wir verfügen als Geisteswissenschaftler:innen über die spezi­fi­sche Kompe­tenz, poli­ti­sche Initia­tiven und Entschei­dungen auf ihre nicht immer gleich sicht­baren Impli­ka­tionen und Effekte zu prüfen. Ein Beispiel dazu: In jüngerer Zeit sind wieder­holt Forde­rungen nach neuen Gesetzen laut geworden, um gegen verlet­zende Äuße­rungen besser vorgehen zu können. Ich glaube, wir alle kennen Momente, in denen wir einem solchen Anliegen gerne zustimmen würden. Aller­dings zeigt der Blick ins 19. und 20. Jahr­hun­dert eben auch, dass Gesetze, die freies öffent­li­ches Spre­chen regu­lieren wollen, zu einem Bume­rang werden können, der sich gegen eine demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion richtet. Auch Gesetze, die sich dazu eignen, Sprache zu regle­men­tieren, um Iden­ti­täten nicht zu verletzen, können eine solche unin­ten­dierte Kehr­seite haben. Dies im Auge zu behalten, und zwar gerade in dem Moment, wo uns diskri­mi­nie­rendes Spre­chen auf die Palme bringt, halte ich für zentral.

Philipp Sarasin: Es gibt Geschichte der Gegen­wart jetzt seit fünf Jahren. Ich habe oben nach unserem „Rezept“ gefragt. Ich möchte das noch­mals aufgreifen: Was haben wir eigent­lich mit unserer Platt­form für einen Weg gefunden, um in die öffent­liche Debatte zu inter­ve­nieren? Wie haben wir ange­fangen, und wie hat sich unsere Form verän­dert und wo stehen wir heute?

Brigitta Bernet: Das Erin­nern der Anfänge finde ich nach wie vor erhel­lend. Es gibt ja so etwas wie eine Grün­dungs­szene von GdG: die Durch­set­zungs­in­itia­tive, über die die Schweiz im Februar 2016 abge­stimmt hat. Mit dieser Initia­tive wollte die SVP in der Verfas­sung fest­schreiben, dass in der Schweiz wohn­hafte Ausländer:innen auch bei gering­fü­gigen Vergehen auto­ma­tisch abge­schoben werden können – ohne Einzel­fall­prü­fung und ohne Ermes­sens­spiel­raum für eine:n Richter:in. Das hätte zu einer kompletten Ungleich­be­hand­lung von Menschen mit und ohne Schweizer Pass geführt. Zum Glück wurde die Initia­tive mit 59% Nein-Stimmen abge­wehrt. Diese Konstel­la­tion jeden­falls gehörte zum Ausgangs­punkt von GdG. Sie beinhal­tete – mit einigen Ausnahmen – auch eine Medi­en­land­schaft, die sich immer weniger gegen poli­ti­sche und intel­lek­tu­elle Strö­mungen weit rechts im poli­ti­schen Spek­trum abgrenzt oder sogar bewusst desin­for­miert. Gegen diese Entwick­lungen, die noch vor dem Erstarken der AfD in Deutsch­land statt­fanden, hat sich GdG von Anfang an gestellt.

Sylvia Sasse: Ja, und wir können, wenn wir die letzten fünf Jahre vorbei­ziehen lassen, inter­es­sante Verschie­bungen fest­stellen. Als ich in die Schweiz kam, fünf Jahre vor Beginn von GdG, hielt ich es für undenkbar, dass die Rhetorik der SVP auf Deutsch­land über­tragbar wäre – die konse­quenten Verkeh­rungen, der Opfer­status trotz Macht, das Eliten­bas­hing trotz Eliten­da­sein etc. Ich höre mich noch sagen: „In Deutsch­land würde eine solche Rhetorik der Verdre­hung sofort disku­tiert und lächer­lich gemacht“. Und die Rhetorik kam schneller und radi­kaler, als ich dachte und hat trotz perma­nenter Kritik auch zu einem schlei­chenden unre­flek­tierten Gebrauch von Wörtern wie „Main­stream­m­e­dien“ oder „alter­na­tive Medien“ oder neuer­dings „Cancel Culture“ geführt.

Svenja Golter­mann: Diese Entwick­lung wird uns wahr­schein­lich noch eine Weile begleiten. Da wird es durchaus manchmal heißen, die Nerven zu bewahren und sich nicht die Fähig­keit zur klaren Analyse nehmen zu lassen. Ich glaube, das ist uns bisher ganz gut gelungen, zudem hat es uns glück­li­cher­weise nicht daran gehin­dert, uns auch ganz anderen Themen und Problemen zuzu­wenden – und auch anderen Welt­re­gionen, wie Osteu­ropa, Asien und Afrika. Dies ist ja in mehr­fa­cher Hinsicht aufschluss­reich: etwa um mögliche Verflech­tungen zwischen Entwick­lungen in unter­schied­li­chen geogra­fi­schen Teilen der Welt zu erkennen, aber ebenso, um die Spezifik der eigenen Denk­weisen schärfer in den Blick und nicht zuletzt auch andere Wahrnehmungs- und Hand­lungs­mög­lich­keiten vor Augen geführt zu bekommen. Ich sehe das als einen unge­heuren Gewinn, den ich auch in den nächsten Jahren bei GdG nicht missen möchte.

Sandro Zanetti: Besten­falls geht man ja nach der Lektüre unserer Artikel mit offe­neren Augen, mit einem geschärften Blick durch die Welt. Das wäre dann die Perspek­tive der Lektüre, der Rezep­tion, die wir immer auch haben, wenn wir Artikel lesen, redi­gieren, kommen­tieren. Das Format der im Schnitt etwa 12.000 Zeichen ist dafür ideal, wie mir immer deut­li­cher wird. Denn dieser Rahmen zwingt einen – jetzt vom Schreiben her gedacht – dazu, die eigenen Über­le­gungen, die Argu­mente und Kontex­tua­li­sie­rungen auf den Punkt zu bringen. Diesen Punkt zu finden oder zu machen, hat nichts mit Trivia­li­sie­rung oder Komple­xi­täts­re­duk­tion zu tun, sondern mit einem Prozess der Klärung, der Benen­nung, auch der Verant­wort­lich­keit im basalsten Sinne, dass man sich nicht hinter dem viel zu oft gezo­genen Vorhang eines bloßen Diffe­ren­zie­rungs­an­spruchs zurück­ziehen kann.

Brigitta Bernet: Klärung und Kritik, würde ich ergänzen. Geschichte der Gegen­wart heisst ja auch, einen Sach­ver­halt histo­ri­sie­rend zu betrachten in dem Sinne, dass man einen Schritt zurück­tritt, dass man den Präsen­tismus und die Fakti­zität eines Gegen­standes hinter­geht. In diesem distan­zie­renden Gestus liegt ein Moment der Kritik – auch im grie­chi­schen Wort­sinn einer „Kunst der Beur­tei­lung“ (kritikḗ téchnē) –, das für GdG zentral ist.

Gesine Krüger: Für mich sind dieje­nigen Texte unserer Autor:innen und von uns selbst am besten gelungen, wenn sie nicht „alt“ werden. D.h. wenn sie über die Anknüp­fung an aktu­elle Phäno­mene hinaus Fragen der Gegen­wart so behan­deln, dass sie auch nach ein paar Jahren noch etwas zu sagen haben. Dass es funk­tio­niert, sieht man an unseren „Frei­tags­texten“ aus dem Archiv. Ich denke z.B. an den Text von Bettina Grimmer über die Rück­kehr der Figur der „unwür­digen Armen“ ange­sichts der Kürzung von Sozi­al­hilfe in der Schweiz. Hier wird auch ein zweiter Aspekt deut­lich, der mir wichtig ist: Geschichte ist nicht einfach die Vorge­schichte der Gegen­wart und auch kein Reser­voir von mora­li­schen Lern­an­ge­boten. Viel­mehr lässt sich etwa zeigen, dass die Koppe­lung von Arbeit und Einkommen keines­wegs selbst­ver­ständ­lich ist oder dass Arbeits­lo­sig­keit ein relativ neues Phänomen ist. Außerdem zeigen die Entscheidungs- und Hand­lungs­mög­lich­keiten von Menschen in der Vergan­gen­heit, dass die Gegen­wart nicht die logi­sche Konse­quenz von Prozessen ist, sondern verän­dert werden kann.

Chris­tian Geulen: Was am Schreiben auf GdG nach wie vor reizt, ist das Format des Einspruchs: auf vier bis fünf Seiten frei­händig und ‚ohne Geländer‘ einen Gedanken zu entwi­ckeln, der versucht, am Thema, an der Sache etwas Neues frei­zu­legen. Wissen­schaft­li­ches oder jour­na­lis­ti­sches Schreiben, poli­ti­sches oder alltäg­li­ches Spre­chen ebenso wie das Dauer­rau­schen der sozialen Medien – sie alle kommen­tieren Gegen­wart, indem sie eben das fort­führen und laufend voll­ziehen, was man die öffent­liche Debatte nennt. Im Rahmen dieser Voll­zugs­logik ist oft absehbar, was bestimmte Medi­en­for­mate, was bestimmte Parteien, Wissen­schaftler oder öffent­liche Kommen­ta­toren zur Debatte beitragen. Denn die Debatte ist ihr Geschäft. Auch GdG reiht sich hier ein – aber eben nicht oder zumin­dest nicht immer als Vollzug und Fort­füh­rung der Debatte, sondern als Unter­bre­chung; als Versuch, auf genau das hinzu­weisen, was die öffent­liche Debatte an ihrem eigenen Thema und in ihrer eigenen Aufre­gung über­sieht. Das „Substan­zi­elle“, was GdG zur öffent­li­chen Debatte beisteuert, liegt für mich darin, Gegen­warts­themen von der öffent­li­chen Diskurs­logik zu befreien und auf ihre anderen, über­se­henen Seiten hinzu­weisen: in diesem Sinne also Einspruch zu erheben.

Janosch Steuwer: Ich glaube, das Wort „Einspruch“ passt nicht so recht. Häufig formu­lieren unsere Texte ja gar nicht einen direkten Protest, den man mit diesem Begriff verbindet. Es geht vor allem um Blick­schär­fung, wie Sandro so schön gesagt hat. Ich würde es deshalb als ein Einmi­schen beschreiben: in dem Sinne, dass wir und unsere Autor:innen sich in aktu­ellen Diskus­sionen zu Wort melden, aber auch, dass wir Gedanken, Argu­mente, Perspek­tiven in die Debatte „einmi­schen“. Wir haben ja auch auf unserer Seite bewusst keinen Kommen­tar­be­reich, sondern schi­cken die Texte hinaus in die neuen Öffent­lich­keiten von Face­book und Twitter zum Teilen, Loben und Kriti­sieren. Und ich finde es noch immer ganz faszi­nie­rend, den einzelnen Texten dabei zuzu­sehen, wie sie sich – über unsere treuen Abonnent:innen hinaus – in den Sozialen Medien ihr eigenes Publikum suchen. Bei manchen Texten ist das größer, bei manchen kleiner. Manche finden Wege in andere Öffent­lich­keiten; wenn sie von Zeitungen zitiert werden oder unsere Autor:innen ihre für uns entwi­ckelten Gedanken woan­ders vorstellen. Und wieder andere finden lange nach ihrer Veröf­fent­li­chung noch einmal neue Aufmerk­sam­keit, weil sie in einer verän­derten Situa­tion plötz­lich neue Rele­vanz entfalten. Geschichte der Gegen­wart beschreibt nicht nur das Heute, es lebt darin. Und für mich ist das die schönste Eigen­heit unseres Projektes.

Alle Herausgeber:innen: Um zum Schluss jetzt aber noch das Offen­sicht­liche zu sagen, das so leicht über­sehen wird: Unser Online-Magazin gäbe es nicht ohne das Design und die Archi­tektur der Seite, die Jascha Golter­mann entworfen und jetzt noch einmal weiter­ent­wi­ckelt und in ein ganz neues Layout gekleidet hat. Er hat uns gewis­ser­maßen auf die Beine gestellt und gibt uns jetzt wieder einen neuen Impuls. Und für die Lese­rinnen und Leser meist unsichtbar, für GdG aber unver­zichtbar, ist die Arbeit unserer Redak­teurin Sabrina Habel. Sie ist selbst auch Autorin, meist aber verhan­delt sie mit Autor:innen, redi­giert Texte, orga­ni­siert unser manchmal etwas flat­ter­haftes Team… Daher ein großes Danke­schön an Euch beide!

 

Die Diskus­sion geht weiter:

Am 5. Februar, Frei­tag­abend um 19 Uhr, werden wir in einer für alle Lese­rinnen und Leser öffent­li­chen Zoom-Veranstaltung 5 Jahre GdG feiern (mit virtu­ellem Anstoßen…) und gemeinsam mit Ihnen diese Diskus­sion fort­setzen. Achten Sie auf unsere Ankün­di­gung auf Social Media!

Anmel­dung per mail auf info@geschichtedergegenwart.ch