Entspricht die Neutralität der Schweiz noch den völkerrechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten der Gegenwart? Wie eigennützig war und ist diese Neutralität? Und wie müsste sie neu konzipiert werden, damit die Schweiz sich wirklich für eine friedliche internationale Ordnung einsetzen kann?

  • Jakob Tanner

    Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. 2015 erschien seine „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“.

Die Schweiz steckt in einer Selbst­be­schrei­bungs­krise. Dies deshalb, weil die Politik viele Probleme nicht mehr auf die Reihe kriegt. Diese werden nämlich durch die Aussen­be­zie­hungen und äusseren Abhän­gig­keiten des Landes mitver­ur­sacht, während die Berner Macht­me­chanik binnen­zen­trisch konstru­iert ist. Kein Wunder, dass dauernd über Druck von aussen geklagt wird und dass die Regie­rung regel­mässig zum Notrecht greift. In dieser Krisen­lage wurde die Neutra­lität nach jahr­zehn­te­langem Dämmer­schlaf erneut zur Zauber­formel aufer­weckt, welche in einer von Kata­stro­phen heim­ge­suchten, raschem Wandel unter­wor­fenen Welt feste Orien­tie­rung verspricht.

Doch auch dies funk­tio­niert nicht mehr. Neutra­lität ist heute nicht mehr ein natio­nal­in­te­gra­tiver Mythos, sondern eine pola­ri­sie­rende Maxime. Die Zustim­mungs­raten befinden sich im Sink­flug, für viele ist sie zum Anachro­nismus verkommen, während andere, vorzug­weise am rechten Rand des poli­ti­schen Spek­trums (SVP, Pro Schweiz), ein Glau­bens­be­kenntnis aus ihr machen und sie in einer beson­ders engen Fassung per Volks­in­itia­tive in der Verfas­sung veran­kert wollen.

Einsei­tige Neutralität

Die «koope­ra­tive Neutra­lität», die Bundesrat Ignazio Cassis im Früh­jahr 2022 lancierte, sollte den vertrackten inter­na­tio­nalen und euro­päi­schen Verflech­tungs­zu­sam­men­hängen, in denen die Schweiz operiert, Rech­nung tragen. Das Konzept stürzte umge­hend ab. Es hatte ein Glaub­wür­dig­keits­lücke, weil der neutrale Klein­staat faktisch genau auf das Gegen­teil zusteuern wollte, nämlich auf eine maximal auf Eigen­nutz und damit einseitig ausge­rich­tete Neutra­li­täts­po­litik. Nach der mili­tä­ri­schen Inva­sion der russi­schen Streit­kräfte in die Ukraine vor nun schon fast andert­halb Jahren verband die Regie­rung ihre neutrale Posi­tio­nie­rung mit der Ableh­nung von Wirt­schafts­sank­tionen. Das wurde aller­dings weder in der Aussen­wahr­neh­mung noch in der Schweiz selbst akzep­tiert. Als durch die Medi­en­be­richt­erstat­tung bekannt wurde, dass 150 bis 200 Milli­arden russi­sche Olig­ar­chen­ver­mögen auf dem helve­ti­schen Finanz­platz verwaltet werden, dass der neutrale Klein­staat als opera­tive Dreh­scheibe für mehr als die Hälfte des russi­schen Rohstoff­han­dels fungiert und dass viele Tycoons von Putins Gnaden sich hier­zu­lande eines sorg­losen Lebens erfreuen, stieg der Druck auf die Schweizer Regie­rung an. Nach Tagen des Zögerns und Zauderns lenkt der Bundesrat ein und über­nahm am 28. Februar 2023 die Sank­tionen der Euro­päi­schen Union.

Obwohl das neutra­li­täts­po­li­tisch und -recht­lich völlig in Ordnung war, berich­tete die New York Times in den «Brea­king News», die Schweiz habe nun ihre 500-jährige «tief verwur­zelte Tradi­tion der Neutra­lität» aufge­geben. Das russi­sche Aussen­mi­nis­te­rium erklärte fast gleich­lau­tend, die Schweiz habe bedau­er­li­cher­weise ihren Status als neutraler Staat einge­büsst und sei nun ein «feind­li­cher Staat». Im Inland liess Chris­toph Blocher in Über­bie­tung des Kreml-Statements verlauten, sein Land sei jetzt «leider Kriegs­partei».

Diese «Zeitenwende»-Statements sahen darüber hinweg, dass die Sank­tionen in der Schweiz nur sehr zaghaft umge­setzt werden. Obwohl, wie die Fina­nical Times berichtet, «Dubai das neue Genf» des Ölhan­dels zu werden sich anschickt, bleibt die Vertre­tung russi­scher Inter­essen in den Berei­chen Vermö­gens­ver­wal­tung und Rohstoff­ge­schäfte in der Schweiz intakt. Diese anhal­tende, unneu­trale Unter­stüt­zung des Aggres­sors wird im mili­tä­ri­schen Bereich über­kom­pen­siert. Weit herum Kopf­schüt­teln löste im Herbst 2022 die Weige­rung des Bundes­rates aus, eine Bewil­li­gung für den Re-Export von Luftabwehr-Munition und die Liefe­rung von 96 in Italien einge­mot­teten Leopard-Panzern via Deutsch­land an die Ukraine zu erteilen. Exeku­tive und Admi­nis­tra­tion verschanzten sich hinter einer engen Ausle­gung der Haager Abkommen von 1907. Im Parla­ment suchte die Sozi­al­de­mo­kratie zusammen mit dem Frei­sinn vergeb­lich nach einem gesetz­li­chen Weg, um diese Blockie­rung zu über­winden. So blieb es beim Nein.

Neutra­lität und Nützlichkeit

Als das Völker­recht seit dem 16. Jahr­hun­dert die Bezie­hungen zwischen Staaten zu regu­lieren begann, war das Recht auf Neutral­sein die Kehr­seite des Rechts auf Krieg. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahr­hun­derts liessen sich drei Effekte der Neutra­lität erkennen: Erstens schwächten sich, wie etwa Jean Bodin fest­hielt, die Kriegs­par­teien gegen­seitig, woraus für einen neutralen Staat ohne weiteres Zutun ein rela­tiver Gewinn resul­tiert. Die faktisch neutrale Haltung der Eidge­nos­sen­schaft im Dreis­sig­jäh­rigen Krieg (1618-48) hatte wesent­lich dazu beigetragen, dass sie – so Grim­mels­hausen im Simpli­zis­simus – als ein «irdisch Para­dies» erschien. Zwei­tens liess sich ein neutraler Status nur mit Unter­stüt­zung der grossen Mächte absi­chern. Indem die Eidge­nos­sen­schaft auf Kriege verzich­tete, konnte sie zahlungs­kräf­tige krieg­füh­rende Mächte mit Soldaten versorgen, was für die regie­renden Fami­li­en­ver­bände beträcht­li­chen Reichtum brachte und gleich­zeitig das Profil eines nütz­li­chen Puffer­staates schärfte. Drit­tens zeugte die Selbst­be­zeich­nung als «ein Neutral Standt» (so im «Defen­sio­nale von Wyl» 1647) vom Willen, die im Corpus Helve­ticum wirkenden Antago­nismen zu neutra­li­sieren. Bis ins 20. Jahr­hun­dert dienten Neutra­li­täts­er­klä­rungen dazu, innere Span­nungen zu moderieren.

Die Schweiz als Insel des Frie­dens und ihre Werke der Wohl­tä­tig­keit; Post­karte 1917; Quelle: 14-18.ch

„Vexier­bild: Wenn die den Frieden wollten / Sie fänden ihn bei mir / Wo ist er? Post­karte, o.J.; Quelle: 14-18.ch

Die Verbin­dung von Neutra­lität und Nütz­lich­keit durchzog in der Folge die Geschichte der Schweiz. Im ausge­henden 19. Jahr­hun­dert vermochten schwei­ze­ri­sche Unter­nehmen, die einen Kolo­nia­lismus ohne Kolo­nien betrieben, als Go between zwischen riva­li­sie­renden impe­ria­lis­ti­schen Gross­mächten eine Neutra­li­täts­di­vi­dende zu reali­sieren. Dass der frei­sin­nige Parla­men­ta­rier und spätere Bundesrat Hermann Obrecht 1917, mitten im Ersten Welt­krieg, die neutrale Schweiz als «Lieb­lings­auf­ent­halt der Kapi­ta­listen» charak­te­ri­sierte, gehört ins selbe Kapitel wie die «neutrale» Ausnut­zung aller Geschäfts­mög­lich­keiten mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land während des Zweiten Welt­krieges. Im histo­ri­schen Rück­blick fällt auf, dass die wich­tigsten «Neutra­li­täts­er­klä­rungen» der Schweiz zu Beginn des Ersten Welt­krieges (am 3. August 1914) und des Zweiten Welt­krieges (am 30. August 1939) mit dem Über­gang zu einem extra­kon­sti­tu­tio­nellen Notrechts­re­gime einher­gingen. Beide Male setzte eine lang andau­ernde «Implo­sion des Verfas­sungs­rechts» und eine gegen­läu­figen «Explo­sion des sekun­dären Voll­mach­ten­rechts» ein (wie der Staats­rechtler Andreas Kley in seiner Verfas­sungs­ge­schichte der Schweiz schreibt).

Die Verrecht­li­chung der Neutra­lität durch­wirkte diese poli­ti­schen Vorgänge und wirt­schaft­li­chen Stra­te­gien. 1815 wurde die Neutra­lität der Eidge­nos­sen­schaft von den Gross­mächten sowohl aner­kannt wie auch garan­tiert. Das Neutralisierungs-Design von aussen und der Hang zum Neutral­sein im Innern ergänzten sich situativ perfekt. Im Zweck­ar­tikel der Bundes­ver­fas­sung von 1848 wurde die Neutra­lität jedoch nicht erwähnt, weil man in ihr ein Mittel zum Zweck sah. Die Haager Abkommen von 1907, welche die Schweiz rati­fi­ziert hat, kodi­fi­zierten das bishe­rige Völker­ge­wohn­heits­recht. An eine Wirt­schafts­kriegs­füh­rung, wie sie im 20. Jahr­hun­dert prak­ti­ziert wurde, dachten die Vertrags­par­teien damals noch nicht. Die Rege­lung von Waffen­lie­fe­rungen durch neutrale Staaten blieb unterbelichtet.

Kollek­tive Sicher­heit und Gewaltverbot

Nach dem Ersten Welt­krieg entstand eine neue Rechts­lage. Mit Artikel 435 des Versailler Frie­dens­ver­trages wurde die schwei­ze­ri­sche Neutra­lität 1919 ein weiteres Mal bestä­tigt; ein Jahr darauf trat die Schweiz dem Völker­bund bei und inte­grierte sich erst­mals in ein System kollek­tiver Sicher­heit. Sie war stolz darauf, dass Genf zum Sitz der ersten inter­na­tio­nalen Orga­ni­sa­tion von Staaten auser­koren wurde. Mit der Londoner Erklä­rung vom 13. Februar 1920 willigte sie ein in wirt­schaft­liche Sank­tionen gegen Staaten, die Angriffs­kriege auslösten. Für den (mehr­heit­lich vom Frei­sinn gestellten) Bundesrat war es klar, dass die Rechts­gü­ter­ab­wä­gung zwischen einem sturen «inte­gralen» Neutra­li­täts­ver­ständnis und der neuen Frie­dens­ord­nung nur zugunsten der letz­teren ausgehen konnte. Er argu­men­tierte «in der Fort­dauer des Zustandes der Schutz­lo­sig­keit des Rechtes und der daraus folgenden Feind­schaft der Völker» liege «die grösste, wenn auch viel­leicht nicht unmit­tel­barste Gefahr für unser Land». Der neutrale Klein­staat prak­ti­zierte fortan (bis 1938) eine «diffe­ren­zi­elle Neutralität».

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Der Völker­bund gewährte den einzelnen Staaten noch immer ein «Recht auf Krieg». Dies änderte sich mit dem Brian-Kellog-Pakt von 1928, der in der erhel­lenden Studie von Oona A. Hathaway und Scott. J. Shapiro als «the most trans­for­ma­tive event of human history» inter­pre­tiert wird. Das erste Mal in der Welt­ge­schichte sollte der Grund­satz Si vis pacem, para pacem durch­ge­setzt werden. Mit der Nega­tion des ius ad bellum geriet unwei­ger­lich auch das ius ad neutra­litatem in die stra­te­gi­sche Defen­sive. Die Schweiz unter­zeich­nete den Pakt 1929 dennoch, weil sie zwischen Neutra­li­täts­po­litik und univer­seller Kriegs­äch­tung eine klare Ziel­kon­ver­genz erkannte.

Gegen den aggressiv-expansionistischen Natio­nal­so­zia­lismus verfügten weder der Völker­bund noch der Kriegs­äch­tungs­pakt über geeig­nete Abwehr­mittel. Doch nach dem Ende des Zweiten Welt­krieges wurde 1945 ein erwei­tertes allge­meines Gewalt­verbot in die UN-Charta aufge­nommen. Diesem entspricht das Recht auf kollek­tive Selbst­ver­tei­di­gung im Falle eines Angriffs­krieges. Unter diesen Bedin­gungen erodierte das Neutra­li­täts­recht weiter. Am Ende des Kalten Krieges veröf­fent­lichte der öster­rei­chi­sche Völker­rechtler Karl Zemanek einen Aufsatz mit dem Titel «The Chaotic Status of the Laws of Neutra­lity», in dem er auf die «allge­meine Unord­nung», d.h. die vielen Unge­wiss­heiten, Lücken und Unschärfen des völker­recht­li­chen Neutra­li­täts­status hinwies.

Damit schlug Zemanek Töne an, in die Schweizer Völker­rechtler einstimmten. In Zürich konsta­tierte Dieter Schindler jr. 1992 «Anzei­chen eines Verlusts an univer­seller Geltung»; seit 1945 sei kein Staat mehr den Haager Neutra­li­täts­ab­kommen beigetreten, selbst solche nicht, die sich, wie Irland, Laos oder Malta als «neutral» bezeich­neten. Es finde eine «Verdrän­gung des Neutra­li­täts­rechts durch Frie­dens­völ­ker­recht» statt, das die Rechte und Pflichten neutraler Länder verän­dere. 2015 schrieb der Völker- und Verfas­sungs­rechtler Daniel Thürer, in der völker­recht­li­chen Lite­ratur sei es «still geworden um die Neutra­lität». Als Stich­wort in Lehr­bü­chern sei diese «prak­tisch ganz verschwunden». Bei ihrem UN-Beitritt 2002 strebte die Schweiz gar keinen Neutra­li­täts­vor­be­halt mehr an, sondern depo­nierte bloss eine Neutralitätserklärung.

Bundes­ver­fas­sung, Völker­recht und die Aufgaben der Schweiz

In einer Welt, in der es Dutzende von bewaff­neten Konflikten um Ressourcen und Macht­po­si­tionen gibt, kann eine neutrale Haltung für ein Land wie die Schweiz, das Depo­si­tar­staat der Genfer Konven­tionen von 1949 und damit der Kern­ab­kommen des huma­ni­tären Völker­rechts ist, auch heute durchaus sinn­voll sein. Die Haager Abkommen von 1907, welche die im Zeichen eines Rechts auf Krieg stehende Welt des 19. Jahr­hun­derts reprä­sen­tieren, haben als Refe­renz­rahmen ausge­dient. Es gilt, die neutrale Haltung auf die eigene Verfas­sung und den Wandel völker­recht­li­cher Grund­sätze abzu­stimmen. Dazu drei abschlies­sende Überlegungen.

Erstens muss die Schweiz den Frie­dens­auf­trag, der in ihrer eigenen Bundes­ver­fas­sung von 1999 formu­liert ist, weit ernster nehmen als bisher. In diesem staats­fun­die­renden Doku­ment wird die Neutra­lität nur zweimal erwähnt, nämlich in den Kompe­tenz­ar­ti­keln der Bundes­ver­samm­lung Art. 173) und des Bundes­rates (Art. 185). Hingegen stipu­liert Zweck­ar­tikel 2, die Schwei­ze­ri­sche Eidge­nos­sen­schaft «setzt sich ein für (…) eine fried­liche und gerechte inter­na­tio­nale Ordnung». Dies korre­spon­diert mit der UN-Charta. Diese ist zwar reform­be­dürftig, stellt aber doch die zukunfts­träch­tigste Richt­schnur der schwei­ze­ri­schen Aussen- und Frie­dens­po­litik dar.

Zwei­tens gilt es zu sehen, dass das Insis­tieren auf einer totalen, inte­gralen, umfas­senden Neutra­lität schon in der Zwischen­kriegs­zeit das Wohl­ge­fallen mäch­tiger Dikta­toren gefunden hat, während die Schweiz damit ihr natio­nales Geschäfts­mo­dell absi­chern konnte. Unab­hängig von der Moral­frage, die eine solche unheim­liche Allianz von Aggres­soren und Neutralen aufwirft, ist ein solches Vorgehen heute nicht mehr prak­ti­kabel. Es verhin­dert zudem ein verstärktes Enga­ge­ment der Schweiz in supra­staat­li­chen sowie inter­na­tio­nalen Orga­ni­sa­tionen sowie eine sicher­heits­po­li­ti­sche Öffnung nach Europa und es sabo­tiert die konstruk­tive Klärung des Verhält­nisses der Schweiz zur Euro­päi­schen Union.

Drit­tens sollte die Schweiz mit einer auf die UN-Charta Bezug nehmenden Ausnah­me­re­ge­lung Waffen­lie­fe­rungen – seien sie direkt oder indi­rekt – an die Ukraine ermög­li­chen. Eine gene­relle Locke­rung des Kriegs­ma­te­ri­al­ge­setzes wäre hingegen kontra­pro­duktiv. Dass das Parla­ment kurz vor dem russi­schen Angriffs­krieg das Waffen­aus­fuhr­ge­setz noch­mals verschärfte, hatte seinen Grund keines­wegs in einer «Frie­dens­il­lu­sion», wie dies Rüstungs­lob­by­isten behaupten. Viel­mehr lieferte die Schweiz laut dem Uppsala Conflict Data Program zwischen 2000 und 2017 Waffen an 32 Staaten, die in Konflikte invol­viert waren. 2017 betraf das mehr als 30 Prozent der Rüstungs­güter. Dies ohne Einbezug der sog. Dual use-Güter, die direkt kriegs­re­le­vant sind. Ein ETH-Militärforscher erklärte unlängst, solche von der Schweiz in beträcht­li­chem Ausmass getä­tigten Liefe­rungen spielten «für die Kampf­kraft der russi­schen Armee eine grös­sere Rolle als die Einfuhr von fertigen Waffen­sys­temen».

Wenn der Histo­riker Marco Jorio, Verfasser eines neuen Über­blicks­werks zur schwei­ze­ri­schen Neutra­lität, pole­mi­siert, das «Verbot, an Krieg­füh­rende Rüstungs­ma­te­rial zu liefern» sei «Ausdruck eines moralisch-pazifistischen Main­streams in unserem Land», so verdreht er die Geschichte. Viel­mehr zeigt sich, dass die Schweiz den Geist ihrer Verfas­sung doppelt verletzt, indem sie ohne Rück­sicht auf die inter­na­tio­nale Frie­dens­ord­nung «an Krieg­füh­rende Rüstungs­ma­te­rial» expor­tierte, um sich anschlies­send in schein­hei­liger Neutra­li­täts­pose gegen Liefe­rungen an die Ukraine zu stellen, von deren Vertei­di­gungs­krieg die künf­tige Sicher­heit Europas und der Schweiz mass­geb­lich abhängt. Verant­wort­lich für dieses Versagen ist ein bürgerlich-rechtsnationalistisch domi­niertes Parla­ment, das mit Pazi­fismus wenig am Hut hat.

Auch wenn die Schweiz doch noch Waffen liefern würde, wäre dies nicht kriegs­ent­schei­dend. Die Fixie­rung auf die mili­tä­ri­sche Frage verstellt den Blick auf die Aufgaben, auf die sich der neutrale Klein­staat mit seiner beträcht­li­chen wirtschaftlich-finanziellen Kapa­zität konzen­trieren sollte. Ange­sagt ist eine massive Betei­li­gung der Schweiz am wirt­schaft­li­chen Wieder­aufbau und an der medi­zi­ni­schen Versor­gung der Ukraine. Zur Finan­zie­rung könnte eine Kriegs­ge­winn­steuer einge­führt werden. Wichtig ist zudem eine dynamisch-umsichtige Rolle der Schweiz als Mitglied des UNO-Sicherheitsrates in diesem und nächsten Jahr. Drin­gend ist die umge­hende Rati­fi­ka­tion des Atom­waf­fen­ver­bots­ver­trages, der auf der Kippe steht. Gegen eine despa­rate Vari­ante der «Zeiten­wende», die sich Putins Gewalt­prinzip will­fährig anver­wan­delt und auf allge­meine Aufrüs­tung setzt, sollte sich eine neutrale Schweiz weiterhin «verstärkt für Abrüs­tung und Rüstungs­be­schrän­kung» stark machen, wie das der Völker- und Staats­rechtler Daniel Thürer 2015 anmahnte. Si vis pacem, para pacem ist eine Maxime mit Zukunft, auch wenn sie in bestimmten Konstel­la­tionen wider­sprüch­lich bleiben muss.