In Zeiten, die als unsicher und krisenhaft erfahren werden, steigt die Nachfrage nach Geschichte. So auch in der Schweiz: Das Fernsehen strahlt Geschichte zu den besten Sendezeiten mittels neuer Formate des Historytainment aus, die Neue Zürcher Zeitung produziert seit zwei Jahren ein hauseigenes Geschichtsmagazin, und mit dem Blog History Reloaded setzt jetzt auch der Tages-Anzeiger auf den Newswert von Vergangenem. HistorikerInnen beteiligen sich selbst rege an dieser Entwicklung – und das ist gut so.
Geschichte ist indessen stets auch ein politisch umkämpftes Terrain, und historische Forschungsergebnisse werden nicht selten so übersetzt, bewertet und gefiltert, dass sie bestimmten politischen Anforderungen entsprechen. Besonders häufig werden sie in ein Korsett gezwängt, das sich mit dem Begriff der patriotic correctness beschreiben lässt. Dieser Begriff wurde in kritischer Absicht in den USA nach 9/11 geprägt, als Aufforderungen zur patriotischen Geschlossenheit den Raum akzeptierter Meinungen einschränkten.
Vor dem Hintergrund des neuen Nationalismus, wie er in jüngster Zeit in den USA und Europa aufflammt, erhält der Begriff eine unmittelbare Aktualität. Bezüglich der Geschichtspolitik lässt sich patriotic correctness als ein Zusammenspiel von sprachlichen Regulierungen, normativen Deutungen, partiellen Auslassungen und politischen Imaginationen bezeichnen, die darauf abzielen, Erzählungen eines nationalen Exzeptionalismus zu stabilisieren, die eigene Nation in einem politisch erwünschten Licht erscheinen zu lassen und ambivalente Aspekte der Nationalgeschichte auszublenden. Diese patriotische Korrektur von Geschichte geht mit der Diffamierung von politisch nicht genehmen Intellektuellen und HistorikerInnen einher, die als ‚unpatriotisch‘, ‚masochistisch‘ oder – so ein besonders beliebtes Schlagwort – als ‚politisch korrekt‘ bezeichnet werden. Gerade in der Schweiz gehörte – wie kürzlich der Kulturwissenschaftler David Eugster herausgearbeitet hat – die Unterstellung einer „politisch korrekten Vergangenheitsaufarbeitung“ zu den Standardvorwürfen der sich in den 1990er Jahren formierenden nationalistischen Rechten. Der Vorwurf einer ‚politisch korrekten‘ Denkzensur dient dabei der Kaschierung des eigenen Bestrebens, Geschichte gemäss den Anforderungen der patriotic correctness umzuschreiben.
Patriotisch korrekte Geschichtsdarstellungen können unterschiedliche Formen annehmen und divergierenden ideologischen Zielen dienen. Gegenwärtig dominieren in der Schweiz zwei patriotische Nationalnarrative, die als verfeindete Brüder miteinander konkurrieren. Das erste lässt sich – mit dem Ideenhistoriker Mark Lilla – als reaktionär bezeichnen. Es will in der Vergangenheit ein wohl geordnetes und klug geführtes Gemeinwesen erkennen, dessen Prinzipien – Neutralität, Unabhängigkeit, Wehrhaftigkeit – in der Gegenwart verraten worden seien. Da die Vergangenheit stets glanzvoller als die Gegenwart erscheint, folgt diese Form der Geschichte im Wesentlichen einem Narrativ des Niedergangs, der – so die reaktionäre Botschaft – in der Zukunft nur durch eine radikale Umkehr, die als Rückkehr imaginiert wird, aufgehalten werden könne.
Die Schweiz als ‚Erfolgsmodell‘

Igor Kravarik: „Histoire suisse“, in: L’Hebdo, April 2015
Schweizer HistorikerInnen haben diesem reaktionären Narrativ öffentlich schon oft die Stirn geboten. Auffallend wenig interessierten sie sich bislang für die zweite Ausprägung einer patriotisch korrekten Nationalgeschichte – vielleicht, weil sie stärker mit Auslassungen, Vereinfachungen, Hyperbeln und Euphemismen als mit offensichtlichen Unwahrheiten arbeitet. Diese zweite Ausprägung folgt dem Modell der Schweiz als ‚Erfolgsgeschichte‘.
Das Erfolgsnarrativ erzählt nicht von Verrat und Niedergang, sondern von einem kontinuierlichen Aufstieg. Es verspricht, den Topos eines ‚Erfolgsmodells Schweiz‘ historisch zu untermauern, und ist deshalb sowohl ideologisch als auch als Vehikel des Standortmarketings attraktiv. Zugleich erweist es sich als politisch flexibel, da sich der Erfolg auf demokratische Institutionen, auf einen wenig regulierten Arbeitsmarkt oder auch auf christlich-konservative Werte beziehen lässt. Dem narrativen Plot einer nationalen Erfolgserzählung folgen daher nicht nur Rechtskonservative und Wirtschaftsliberale, sondern auch jene Linksliberalen, die sich seit einigen Jahren darum bemühen, das Revolutionsjahr 1848 als Ausgangspunkt einer neuen Nationalerzählung stark zu machen.
Besonders beliebt ist die Erfolgsgeschichte indes bei Akteuren, die Affinitäten zur politischen und wirtschaftlichen Elite aufweisen. Im Unterschied zum reaktionären Nationalnarrativ bezieht sich die Erfolgsgeschichte denn auch positiv auf den Status Quo, dessen Bewahrung sie legitimieren will. Imaginiert die reaktionäre Erzählung ein ‚einfaches Volk‘ von Tellen und Winkelrieds, das sie zugleich mit dem ‚Volk‘ als Abstammungsgemeinschaft identifiziert, neigt das Erfolgsnarrativ zu einer ,Geschichte von oben‘, die den ‚Erfolg‘ der Elite als Erfolg für alle ausgibt. Die Erfolgsgeschichte bezieht sich dabei gerne auf Zahlen und Statistiken. Weisen diese nicht alle steil nach oben, von der Lebenserwartung bis zum Bruttoinlandprodukt?
Doch so sehr Erfolgsgeschichten einzelne ‚Fakten‘ hervorheben, so stark blenden sie wesentliche Zusammenhänge aus. Erstens homogenisiert das Erfolgsnarrativ unterschiedliche Erfahrungen auf unzulässige Weise. Es blendet die Ausschluss- und Verlusterfahrungen jener aus, welche die Schweiz nicht oder nur bedingt als Erfolgsgeschichte erlebten. Zweitens führt das Erfolgsnarrativ – und darin besteht im Wesentlichen sein patriotischer Mehrwert – Erfahrungen von Gewinn oder erspartem Leid auf intentionales Handeln vorausschauender Akteure zurück, die als erfolgreiche Vollstrecker nationaler Prinzipien erscheinen. Es negiert die Kontingenz historischer Ereignisse und Entwicklungen und stellt damit – mit Reinhard Koselleck gesprochen – „zu hohe Konsistenzansprüche“ an die Geschichte. Und vor allem blenden nationale Erfolgsgeschichten die Verflochtenheit der Welt aus und bleiben damit in einem selbstreferentiellen System gefangen, indem jede Leistung stets auf sich selbst verweist. Dies nährt Illusionen der Souveränität, so etwa die hartnäckige Vorstellung, es sei der Neutralität zu verdanken, dass die Schweiz von den beiden Weltkriegen verschont blieb, oder es sei unser Arbeitsethos, der uns Wohlstand beschert habe.
Das Erfolgsnarrativ als NZZ-Code

Ganz schön selbstbewusst: NZZ-Werbung der Agentur Roth&Maerchy, 2015
Als eigentliches Sprachrohr des helvetischen Erfolgsnarrativs fungiert die Neue Zürcher Zeitung. Sie folgt dabei weitgehend dem politischen Programm der FDP. Ihr 2014 verfasstes, programmatisches Leitpapier mit dem Titel „Zukunftsstrategie“ ist ganz der Schweiz als „Erfolgsgeschichte“ gewidmet, die gegenwärtig nicht nur von den linken und rechten Polen, sondern auch „von aussen durch den Druck von weniger erfolgreichen Staaten“ bedroht sei. Analog dazu schreibt Chefredaktor Eric Gujer unermüdlich gegen angebliche Schwarzmaler von links und rechts an, die nicht einsehen würden, was die Schweizer Geschichte im 20. Jahrhundert „eigentlich“ sei, nämlich eine „grosse Erfolgsgeschichte einer Nation“, die sich positiv vom übrigen, weniger erfolgreichen Europa abhebe. Der ideologische Kern von Gujers Geschichtsbetrachtung steckt im „eigentlich“: Es geht nicht um eine Gewichtung, um eine stärkere Betonung von Erfolgen; auf dem Spiel steht vielmehr die Essenz dessen, was Schweizer Geschichte sei. Eine solche geschichtsideologische Position erweist sich als unvereinbar mit Widersprüchen und Ambivalenzen. So rüffelt Gujer denn auch alle „Mahner und Warner“, die „auf die dunklen Episoden fixiert“ seien, „auf Raubgold und Judenstempel“.
Wie sich am Beispiel von NZZ Geschichte zeigen lässt, liefert das Modell der Erfolgsgeschichte nicht selten auch den patriotisch korrekten Deutungsrahmen für populär präsentierte Geschichtsdarstellungen. Hinsichtlich vieler Themen erweist sich das meistverkaufte Geschichtsmagazin der Schweiz als offen und auf der Höhe der Forschung. Einfältiger und forschungsferner gestaltet sich der Inhalt jedoch bei zentralen Themen der modernen Schweizer Geschichte: In welchem Verhältnis stand die Schweiz zum europäischen Kolonialismus? Und: Welche Beziehungen pflegte sie zum zunehmend faschistisch und nationalsozialistisch dominierten Europa der 30er und frühen 40er Jahre? Zu beiden Fragen existiert eine breite Forschungsliteratur. Sie zeigt, wie die Schweiz nicht einfach ausserhalb eines expansionsorientierten Europas der Gewalt stand, sondern vielfältig in dieses involviert war. Aus den Befunden der Forschung wird klar: Diese beiden Kapitel lassen sich weder in eine nationale Erfolgsgeschichte integrieren noch als „dunkle Episoden“ miniaturisieren. Wie also geht NZZ Geschichte mit den zwei Themen um, denen das Magazin lange Artikel und mehrere Kommentare widmet?
„patriotic correctness“ in der NZZ Geschichte
Der Rolle von Schweizer Akteuren im Kolonialismus widmete das Magazin eine Titelstory (Nr. 5, April 2016). Eine Rezeption der aktuellen Forschung zum Thema hielten die Heftmacher für unnötig, da diese durch politische Korrektheit und einen „Wettbewerb der nachträglichen Selbstkasteiung“ geprägt sei. Die Historiker Harald Fischer-Tiné und Bernhard C. Schär sowie die Philosophin Patricia Purtschert, die zu den bedeutendsten ForscherInnen auf diesem Gebiet zählen, kritisierten die Heftnummer fundiert. Sie wiesen faktische Fehler, quellenkritische Versäumnisse und sogar eine – ziemlich haarsträubende – Bildmanipulation nach, die alle dem Zweck dienten, die Schweiz im kolonialen Kontext „als neutral und unschuldig erscheinen zu lassen“.

Bundesrat Philipp Etter, BR 1924-1959 [ohne Jahr]; Quelle: m.bote.ch
Die Reputation der politischen Elite in der Schweiz liegt auch Marco Jorio am Herzen, der in jeder Ausgabe eine Kolumne mit dem Titel „Stunde der Wahrheit“ schreibt. Mit Vorliebe widmet er sich der Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus und vor allem der Flüchtlingspolitik – ein Thema, das sich besonders schwer in eine schweizerische Erfolgsgeschichte integrieren lässt. Der schweizerische Vizekonsul Carl Lutz, der von 1942 bis 1945 in Ungarn Zehntausenden von Juden Schutzpässe ausstellte und dadurch vor der Deportation rettete, wird kritisch beurteilt (Nr. 7, Oktober 2016). Dieser sei „ein schwieriger Mensch“ gewesen, der nach 1945 „verbissen“ für eine Anerkennung seiner Taten gekämpft und die Schweiz zu Unrecht des „Undankes“ beschuldigt habe. Wesentlich milder fällt das Urteil über Heinrich Rothmund aus (Nr. 5, April 2016). Der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei wird als ein „ethisch“ handelnder Gegner des Antisemitismus dargestellt, was nachweislich falsch ist. Rothmund, der nach eigenen Aussagen eine „Verjudung der Schweiz“ verhindern wollte, teilte einen Antisemitismus, wie er in der Schweiz der 1930er Jahre verbreitet war.
Dieses Ausblenden eines schweizerischen Antisemitismus bildet den Auftakt für eine Apologie der bundesrätlichen Flüchtlingspolitik. Im Jahr 1938 habe zur restriktiven Politik keine Alternative bestanden, behauptet der Beitrag. Dementsprechend wird die schweizerische Flüchtlingspolitik mit einer „griechischen Tragödie“ verglichen, in der man „der Schuld nicht entrinnen“ könne. Damit mündet die „Stunde der Wahrheit“ in einer Argumentationsfigur, die patriotische Nationalerzählungen stets bemühen, um ‚dunkle Kapitel‘ narrativ zu verdauen.
Bildmanipulationen, Auslassungen und Verharmlosungen
Argumentationsmuster der patriotic correctness folgen einem einfachen Prinzip: Erfolge werden als eigene Leistungen herausgestrichen und auf das intentionale Handeln nationaler Akteure zurückgeführt, Verfehlungen der nationalen Elite werden demgegenüber als nichtintendierte Folgen anonymer, schicksalhafter Prozesse externalisiert. Im ersten Fall wächst der zugeschriebene Handlungsspielraum nationaler Akteure ins Unermessliche, im zweiten Fall tendiert er gegen Null.
NZZ Geschichte erweist sich hier als safe space einer patriotisch korrekten Geschichtsschreibung. Um das politisch erwünschte Narrativ der Schweizer Erfolgsgeschichte von Widersprüchen und Inkonsistenzen abzuschirmen, bedient sie sich des ganzen Instrumentariums der patriotic correctness, von Bildmanipulationen über Auslassungen und Verharmlosungen bis zu Polemiken gegen diejenigen, die sich um eine historische Aufarbeitung verdient machen. Die Redaktoren lassen sich in ein politisches Projekt einspannen, das den Topos des ‚Erfolgsmodells Schweiz‘ mental verankern und ideologisch absichern will. Der Gewinn öffentlich dargestellter Geschichte wandelt sich so in einen Verlust um: Während der kritische Blick in die Vergangenheit Illusionen der Gegenwart zu erhellen vermag, verführt die Brille der patriotischen Korrektheit dazu, die Illusionen der Souveränität zu befeuern.