Der Künstler Vadim Zakharov wird dieses Jahr mit dem Kaiserring der Stadt Goslar ausgezeichnet (zusammen mit Yuri Albert). Zakharov, ein Vertreter der zweiten Generation des Moskauer Konzeptualismus, hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Künstler in einem totalitären Land zu sein. Einer der Grundsätze des sowjetischen Undergrounds war die Ablehnung jeglicher Form der Zusammenarbeit mit den offiziellen Strukturen. Zakharov ist der Meinung, dass diese Erfahrung für russische Künstler:innen heute wieder aktuell ist.
Das Gespräch ist am 5.6. auf svoboda.org erschienen und wurde von Andrej Archangelskij geführt. (https://www.svoboda.org/a/vadim-zaharov-russkaya-kultura-dolzhna-nauchitsya-molchat-/32438581.html)
Die Verleihung von Preisen an russische Künstler:innen in Europa sieht heute nicht nur wie eine Anerkennung von Verdiensten aus, sondern auch wie ein symbolischer Akt der Unterstützung.
Vadim Zakharov: Wenn heute Preise an Russ:innen verliehen werden, auch wenn sie Russland verlassen haben oder lange Zeit außerhalb Russlands leben, ist das ein Akt der moralischen Unterstützung. In diesem Jahr gingen die europäischen Preise an die Schriftstellerinnen Ljudmila Ulitzkaja und Maria Stepanova – ich freue mich, dass ich in dieser Gesellschaft bin.
Ich lebe seit den 1990er Jahren in Deutschland und stelle hier regelmäßig aus, aber Yuri Albert und ich waren hier nie das, was man prominent nennt. Es ist wichtig zu wissen: Die Europäer:innen verstehen, dass nicht alle Russinnen und Russen gleich sind. Für Deutschland ist es generell unmöglich, Menschen nach ihrer „Nationalität“ im Sinne einer Ethnie einzuteilen. Das ist ein Tabu. Deshalb haben die Deutschen Verständnis für die Russen und Russinnen, die wie ich schon lange in Deutschland leben, und für diejenigen, die vor dem heutigen Regime geflohen sind. Als der Krieg begann, waren meine deutschen Freunde und Kolleg:innen die ersten, die mir Worte der Unterstützung und Solidarität schrieben. Natürlich sympathisieren sie in erster Linie mit der Ukraine, aber sie verstehen auch die persönliche Katastrophe der Menschen aus Russland, für die sich alles in Moder verwandelte, auch unsere Kultur, auf die wir alle so stolz waren. Der Massenmord an den Ukrainer:innen legte sich wie ein schwarzer Schatten über ihre Vergangenheit und Zukunft. Die Deutschen verstehen sehr wohl, um was für eine Last es sich handelt. Das Trauma des Nationalsozialismus ist seit 80 Jahren nicht verheilt; so viel zu der Frage, wie viele Jahre Russland brauchen wird, um um Vergebung zu bitten. Und Buße zu tun.
Eines Ihrer bekanntesten Werke ist das Theodor-Adorno-Denkmal in Frankfurt am Main, ein „Arbeitszimmer des Philosophen“ in einem Glaskubus (2003). Die Kontroverse um das Denkmal begann am Tag der Enthüllung – und ist bis heute nicht abgeklungen. Die einen protestieren, die anderen halten rund um die Uhr Wache um das Denkmal. Ganze analytische Abhandlungen sind darüber geschrieben worden. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese Kontroverse?

Vadim Zakharov: Adorno-Denkmal in Frankfurt am Main (Copyright: Vadim Zakharov)
Vadim Zakharov: Meine Idee war es, die Transparenz zu zeigen, die Transparenz des heutigen Lebens. Es geht nicht einmal so sehr um das Adorno-Denkmal – sondern um jeden Autor, jede Autorin. Was braucht ein:e Philosoph:in? Einen Tisch, einen Stuhl und eine Lampe. Ein traditionelles Set, auf das man nicht verzichten kann. Alles Geniale wird hier geboren – am Arbeitsplatz, der normalerweise vor den Blicken Außenstehender verborgen ist. Ich habe beschlossen, den privaten Raum des Philosophen und Denkers durch die Transparenz öffentlich zu machen. Wir haben keine Privatsphäre mehr, auch Künstler:innen nicht, denn wir laden selbst jede Minute Informationen über uns in soziale Netzwerke. Gleichzeitig werden wir selbst ständig gelesen, werden in unseren Häusern hinter verschlossenen Türen sitzend zu Avataren, ob wir wollen oder nicht. Um diese Transparenz zu vermitteln, habe ich bewusst Elemente der klassischen und minimalistischen Kunst verwendet – den Kubus, das Labyrinth, das Quadrat, das Wort. Kunst, Philosophie und Psychologie sind hier zu einem einzigen, ganz einfachen Bild verdichtet. Es war mir auch wichtig, dass das Leben des Philosophen durch die Kunst weitergeht. Es ist ein lebendiges Denkmal. Abends geht im Inneren des Denkmals das Licht an, das Metronom schlägt 62 Schläge pro Minute, den Puls des Herzens. Es ist, als hätte ich den Mechanismus des Lebens angeschaltet – Adornos Herz arbeitet. Die Leute, die dieses Denkmal nicht mögen, scheinen sich an der Privatheit anderer zu stören, an dem öffentlich zur Schau gestellten Herzschlag anderer. Und sie versuchen, diese Privatheit zu zerstören, sie brechen in den Blutkreislauf des Autors ein. Das ist ein interessantes psychologisches Moment, das viel Raum für Interpretationen schafft. Ich dachte, dass ich durch Einfachheit und Minimalismus für viele Menschen verständlich sein würde. Heute denke ich jedoch, dass dieses Denkmal für die Öffentlichkeit zu komplex war. Vielleicht ist der Tod als solcher für den Menschen psychologisch verständlicher als die Idee der Unendlichkeit des Lebens, die schwer vorstellbar ist. Es kann sein, dass das laufende Metronom und die Lichter am Abend deshalb so irritierend sind.
Die Kontroverse um das Adorno-Denkmal ist u.a. eine verblüffende Metapher für die Moderne. Schließlich geht es um die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des Intellekts im 21. Jahrhundert.
Vadim Zakharov: Ja, aber das Problem ist, dass man für diese Metapher bezahlen muss. Die Glasscheiben des Kubus – sie sind seit der Eröffnung regelmäßig zerschlagen worden. Die Proportionen dieses Denkmals sind genau auf einen kleinen Raum zugeschnitten. Bäume, Büsche, ein Café in der Nähe. Das Denkmal stand in der Mitte einer Grünanlage, die Anwohner interagierten mit ihm – sie übernachteten sogar auf den Bänken und führten so eine Art Dialog – das hat mir gefallen. Vor fünf Jahren wurde der Platz von der Stadtverwaltung umbenannt, und nun befindet sich der Adorno-Platz vor der Frankfurter Universität. Auch das Denkmal wurde dorthin verlegt. Die Rechte an dem Denkmal liegen seit langem bei der Stadt – es ist ihre Entscheidung und ich will darüber nicht diskutieren; aber durch die Verlegung hat das Denkmal technische Probleme bekommen – dies funktioniert nicht, jenes funktioniert nicht. Aber jetzt habe ich mich, ehrlich gesagt, völlig davon distanziert.
Aus Protest gegen den Krieg haben Sie russischen Museen, darunter der Tretjakov-Galerie, verboten, Ihre Werke auszustellen. Haben sie Ihrer Forderung entsprochen?
Vadim Zakharov: Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur auf die offiziellen Räume bezogen. Die drängendste Frage in der Kulturszene heute ist: Kann Kunst in Russland noch so existieren wie vorher? Ist es akzeptabel, ein Fleckchen für Ausstellungen zu finden, das noch nicht vom Staat besetzt worden ist? Viele meinen, man darf und soll: „Wir werden trotz allem eine gute Ausstellung machen!“ – damit das Publikum das Gefühl hat, dass etwas Gutes übrigbleibt. Darüber habe ich in Berlin mit einigen Leuten, die aus Moskau kamen, gestritten. Sie meinen, man solle so lange Ausstellungen machen, wie es ein Minimum an Möglichkeiten gibt. Mein Standpunkt ist, dass in siebzig Jahren Sowjetmacht und zwanzig Jahren Putinsystem all unsere Anstrengungen zu keinen fundamentalen Änderungen am System geführt haben. Auch der Kompromiss mit dem Staat hat nichts verändert. Denn nun kennen wir den Preis für diesen Kompromiss. Jetzt darf es keine Kompromisse mehr geben, es muss Lösungen geben. Heute ist der Kompromiss mit dem Staat nur noch vulgär. Dazu nochmals Adorno: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch…“ Wie wäre es mit: „Kann die russische Kultur nach Butscha weiterexistieren?“

Vadim Zakharov vor dem russischen Pavillon 2022 in Venedig. Credits: Konstantin Akinsha
Vielleicht sollten wir nachdenken und still sein, fragen, was haben wir falsch gemacht? Vielleicht ist es für Künstlerinnen und Künstler nicht der richtige Zeitpunkt, sich kopfüber in all diese Vernissagen zu stürzen? Und die Schriftsteller:innen sollten vielleicht wenigstens ein Jahr lang die Klappe halten… Die russische Kultur muss lernen zu schweigen. Aber ich spreche vom Schweigen als Künstler:in, nicht vom Schweigen als Bürger:in. Jede:r russische Künstler:in oder Schriftsteller:in sollte heute seine bzw. ihre Haltung zur Aggression artikulieren und nicht versuchen, auf zwei Stühlen zu sitzen. Denn in Kriegszeiten funktionieren Zwischentöne nicht. Und deshalb sollte man nicht beleidigt sein, wenn ukrainische Künstler:innen uns „canceln“, uns aus der Weltkultur „werfen“. Manchmal ist es ungerecht, aber Putins Regime tötet weiter ukrainische Frauen und Kinder. Von welcher Gerechtigkeit kann man da reden? In der gegenwärtigen Situation ist es taktvoller, zu schweigen – anstatt weiterhin alle von oben herab zu belehren, seine Moskauer Arroganz zu zeigen und bei jedem Streit das letzte Wort haben zu wollen.
Nun steht Russland vielleicht eine gewisse vorkulturelle Periode bevor, die einem Umdenken vorausgehen sollte – nicht nur in Bezug auf die Kultur, sondern auf die Idee des Lebens in Russland selbst. Das Regime ist dabei, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu zerstören; alle früheren Grundlagen der Existenz – philosophische, menschliche, moralische – sind nun verloren. Man kann also jetzt nichts aufbauen. Es gibt nicht einmal Elemente, aus denen man heute ein Haus bauen könnte. Alles ist mit Dreck besudelt. Und so muss man, bevor man wieder Ziegel für ein neues Fundament baut, herausfinden, aus welchem Material man sie machen kann. In solchen Zeiten ist Geschwätz überflüssig.
Ist Nichtteilnahme in diesem Fall auch eine Handlung?
Vadim Zakharov: Ich lebe in Berlin, und ich gebe den Menschen, die in Russland leben, nie Ratschläge, schon gar nicht heute. Ich habe kein Recht, das zu tun. Ich sage nur meine Meinung. Es ist klar, dass die Tretjakovka die Arbeit nicht einstellen kann. Und das Puschkin-Museum kann es auch nicht. Dort sind die Direktoren inzwischen ausgetauscht worden. Aber ich spreche vor allem von den jungen Leuten. Die wiederum schauen mich erstaunt an, wenn ich ihnen von der Wiederbelebung asketischer Existenzformen erzähle, z.B. von Wohnungsausstellungen. Zu unserer Zeit war das die einzige Form der Öffentlichkeit. Aber die jungen Künstler:innen von heute sind schon auf den Geschmack von Aufmerksamkeit und Anerkennung gekommen. Sie stellen in riesigen Räumen wie GES-2 oder im Garazh aus, und ihre Werke werden von Sammler:innen und europäischen Kurator:innen angeschaut. Und plötzlich wieder Wohnungsausstellungen… wozu? Es ist schwer zu verstehen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, sich als unabhängige:r Künstler:in zu retten. Sie verstehen nicht, dass sie moralisch scheitern, ihren Ruf und ihre Karriere verlieren werden, wenn sie dem System nicht trotzen. Wenn sie die Energie der Unabhängigkeit – der Arbeit, des Denkens, der Ideen – nicht gegen das System nutzen, könnte dies katastrophale Folgen für die Zukunft der russischen Kunst haben. Es ist wichtig, sich vorzustellen, wo man selbst in 30 Jahren sein wird. Wie wird man dann aussehen? Diese Perspektive öffnet einem die Augen für vieles. Man muss sich schon heute an der Gestaltung einer Sprache der Zukunft beteiligen, indem man sich auf seine eigene unabhängige Position stützt.
Sie sind 1977 in den Underground gegangen. Zwei Jahre später begann der Krieg in Afghanistan. Wurden Sie damals von seinem Echo erreicht? Und wie wirkte sich der Krieg beispielsweise auf die unabhängige Künstlerszene aus?
Vadim Zakharov: Wir waren in der inneren Emigration. Alles, was der Staat tat, sahen wir als verabscheuungswürdig und feindlich an. Aber für die meisten Sowjetmenschen war der ganze Raum buchstäblich mit Watte zugestopft. Zwischen den Menschen und der Realität lag eine riesige Schicht aus Watte. Natürlich hörten wir westliche Stimmen – aber sie klangen gedämpft, wie es eben in einem Land ohne unabhängige Presse der Fall ist. Heute ist es in Russland mehr oder weniger dasselbe. Nur dass die aktuelle Watte jetzt jeden Ton der Rationalität, geschweige denn Ethik, schluckt. Auch vor 40 Jahren herrschte wie heute eine öffentliche Taubheit. Und um etwas herauszuhören, muss man hinhören können. Die Olympischen Spiele 1980 waren das Know-how des damaligen Systems. Erinnern Sie sich, wie alle weinten, als das Bärchen, das Maskottchen der Spiele, zum Himmel hinaufflog? Zur gleichen Zeit tötete das Regime in Afghanistan Menschen. Eine monströse Mischung aus Weinerlichkeit und aggressiver Gefühllosigkeit. Putins Propaganda ist eine logische Fortsetzung des alten Systems. Auch heute, bei den offiziellen Eröffnungen von Ausstellungen in Moskau, laufen viele meiner Bekannten lachend herum, halten Gläser in der Hand und, was am wichtigsten ist, stellen dann diese Fotos ins Internet. Da möchte ich fragen: „Seid ihr völlig übergeschnappt?“
Ihr Duo mit Viktor Skersis – die 1980 gegründete Gruppe SZ – wurde durch ihre absurden Aktionen berühmt: Sie schrieben auf Pfosten und Wände „Huch!“, „Autsch!“, „Hier!“, „Wie!“, „Hut!“. Wie wurde dies wahrgenommen, wie funktionierte es zu Sowjetzeiten? Wie der Witz über das leere Blatt Papier („warum etwas schreiben – es ist doch eh schon allen alles klar“)?
Vadim Zakharov: Übrigens wird man heute auch für ein leeres Blatt Papier mit Geldbußen und Gefängnis bestraft. Das heißt, das Niveau der öffentlichen Freiheit ist noch geringer als in den letzten Jahren der Sowjetmacht. Die Sicherheitskräfte von heute wissen, was ein Künstler meint, auch wenn er mit einem leeren Blatt Papier hinausgeht. Sie sind in dieser Hinsicht informierter – was ihre Grausamkeit nicht geringer macht. Was heute geschieht, ist nicht nur die Abschaffung der Äußerung – sondern die Abschaffung der Sprache selbst. So wird es bald zur Abschaffung des Denkens kommen, wie bei Orwell.

Vadim Zakharov: War is peace. Orwell, Courtesy: Vadim Zakharov
Natürlich gab es auch schon zu unserer Zeit genug Orwelleskes. Wir haben selbstverständlich nicht „Nieder mit den Sowjets“ geschrieben. Wir haben, wie Sie richtig bemerkten, Zwischenrufe auf Pfosten hinterlassen. Unser „Hier!“ (Vot!) sollte den Automatismus im Denken des Sowjetmenschen stören. Ihn verwirren. In der sowjetischen visuellen Aufstellung war alles rationiert, alles musste an seinem Platz sein. Daher war es paradoxerweise einfacher, den Sowjetmenschen zu verwirren und in Sackgassen zu führen. Da lief er gegen unser „Autsch!“ – Es gab einen kurzen Zusammenstoß. Er verstand, dass diese Aufschrift, auch wenn keine sichtbare Revolte erkennbar war, etwas Gefährliches und Bedrohliches an sich hatte. Das Wort stand im „falschen“ Kontext, am falschen Ort. Es war eine Art Koan für das sowjetische Denken. Genau darin bestand auch unsere Aufgabe: den Menschen die Idee zu vermitteln, dass „hier etwas nicht stimmt“. Wir nannten diese ersten Graffiti „Signalanlagen“. Später in Moskau, in den 2010er Jahren, sagten mir Studierende: „Sie erzählen uns von den Durchsuchungen, dass Sie vor allem Angst hatten – aber man kann auf den Fotos der Gruppe SZ, der Gruppe Gnezdo (Nest) oder der Kollektiven Aktionen nicht erkennen, dass überall Angst herrschte. Im Gegenteil, diese Arbeiten sehen sehr frei aus.“ In Wirklichkeit verlangte diese Freiheit Risiko und Anstrengung.
1983 zum Beispiel hatten Viktor Skersis und ich eine Ausstellung in der Wohnung von Nikita Alekseev. Damals hieß der Ort noch APTART (vom englischen appartment art). Und dann kam der KGB dorthin, nahm einige Werke mit und begann, uns ein Verfahren anzuhängen. Dann, mit dem Beginn der Perestroika, schien es so, als ob sich alles verändert – aber nichts dergleichen! 1983 schufen Georgiy Kizevalter und ich ein handgefertigtes Buch Through the Workshops, und 1986 überreichten wir diese seltene Ausgabe der britischen Galeristin Phyllis Kind (europäische Galeristen kamen bereits nach und nach in die Sowjetunion). Und diese Ausgabe wurde ihr gestohlen – aus dem Hotel, in dem sie untergebracht war. Dann erschien in der Zeitung Sovetskaja kul’tura ein riesiger Artikel mit dem Titel „Fische in trüben Gewässern“, der uns als Autoren, Herausgeber und inoffizielle Künstler bloßstellte. Und wir begannen in aller Eile, unsere Wohnungen auszuräumen, neue Verstecke für Solschenizyn und andere antisowjetische Literatur zu suchen, denn wir bereiteten uns gedanklich darauf vor, aus Moskau verbannt zu werden. Dabei schrieben wir bereits das Jahr 1986!
Waren Sie auf alles vorbereitet?
Vadim Zakharov: Bis 1977 war ich ein naiver Junge, der im sowjetischen Paradigma lebte. Aber 1977 lernte ich Yuri Albert in der Grafikabteilung des Pädagogischen Instituts kennen, und er brachte mich in den Kreis der Moskauer Konzeptualisten. Die Welt änderte sich für mich drastisch. Seitdem war ich in einem Umfeld, wo Menschen sich als Gleichgesinnte verstanden. Meine Generation kam Ende der 1970er Jahre und löste die großen Künstler ab, die emigriert waren. Zu diesem Zeitpunkt haben drei Generationen unabhängiger Künstler:innen eine Mikrokultur mit eigenen Traditionen geschaffen. Wir waren Anfang zwanzig, neben uns waren aber auch die Alten dabei: Vladimir Nemukhin, geboren 1928; Ilya Kabakov und Erik Bulatov, geboren 1933; Ivan Chuikov, geboren 1935; Eduard Steinberg, geboren 1937. Sie alle waren unterschiedlich. Alle waren Individualisten, jeder war der Anführer seiner eigenen Bewegung, aber ohne Schüler:innen. Mikhail Shvartsman war eine Ausnahme. Der Lehrer von Nemuchin hatte Malewitsch noch erlebt – wir haben Nemuchin noch erlebt: Die Verbindung zwischen den Generationen dauerte fast ein Jahrhundert an. All dies schuf eine starke Energie, obwohl zum Kreis der Künstler.innen immer ca. dreißig Personen gehörten. Es gab auch ein Bewusstsein für die historisches Bedeutung des Moments, in dem wir uns befanden. Meine Generation hatte sehr wenig Kontakt zur offiziellen Welt; der sowjetische Raum war für uns ein Territorium, das grundsätzlich uninteressant und unsichtbar war. Wir mussten damit im Leben in Berührung kommen – als Hausmeister oder Nachtwächter oder später, in den Verlagen, als Illustratoren von Büchern. Auch die sowjetischen Zuschauer machte einen Bogen um uns. Wenn ein Passant eine Aktion der damaligen Künstler sah, verstand er entweder nicht, was vor sich ging, und ging weiter, oder bekam auf seine verwirrte Frage die Antwort: „Wir drehen hier einen Film“. Die erste Begegnung mit der Außenwelt fand zu Beginn der Perestroika statt, als die ersten Ausstellungen eröffnet wurden und die ersten sowjetischen Menschen von außen eintrafen. In diesem Moment wurde mir klar, dass es Andere gab und dass wir unterschiedliche Sprachen sprachen.
Das System eines Zirkels, die die „das Haus nicht verlassen“.
Vadim Zakharov: Nein, das ist eine Fehlinterpretation. Erstens haben wir diese Insellage nicht selbst geschaffen, sie ist gegen unseren Willen und gegen unseren Wunsch entstanden. Zweitens bestand der Kreis der inoffiziellen Künstler:innen aus denjenigen, die durch Zufall überlebt hatten, die in den vergangenen Jahren nicht von der Sense der Macht niedergemäht worden waren. Jene Sprossen, die gegen jede Logik durch den Asphalt gedrungen waren. Das heißt, dieser Zirkel war eher das Ergebnis tragischer äußerer Umstände als einer persönlichen Entscheidung. Aber soweit ich mich erinnern kann, gab es kein Gefühl von Elitismus, keine Verachtung für andere. Von welcher Art von Elitismus könnte man sprechen, wenn niemand zu dieser „Insel“ segeln wollte? Für viele war es gefährlich, sich dieser Insel zu nähern. Im Gegenteil, wir waren auf unsere Weise offen, kein geschlossener Kreis – wir lebten in einem Käfig, aber wir orientierten uns an der freien westlichen Kultur und lebten mit dem Gefühl, dass es in der Kultur keine Grenzen geben kann.
Inwiefern ist die heutige Generation russischer Künstler:innen anders?
Vadim Zakharov: Ich mag mich irren, aber es sieht so aus, dass die jungen Leute auf die neue Situation nicht vorbereitet waren. Sie sind in einer anderen Lebenssituation aufgewachsen als ich zum Beispiel. Ich kenne viele Menschen, die heute aus Moskau, aus anderen Städten hierhin kommen; das wichtigste Ergebnis dieser Gespräche ist: „Wir müssen das aussitzen“. „Bald geht dort alles vorbei, in ein oder zwei Jahren komme ich zurück und alles ist wieder wie vorher“. Sie verstehen nicht, wie tief Russland dieses Mal gesunken ist. Und wir mit ihm. Sie sind moralisch nicht bereit, für lange Zeit außerhalb des Systems zu existieren. Und das wird sich auf die allgemeine Situation in der Kultur auswirken.
Zum Beispiel auf die Kontinuität der Generationen: Wenn früher durch die Auswanderung aus der UdSSR die Bindungen abgerissen waren, dann haben wir, die jüngere Generation, diese Risse Ende der 1970er Jahre wieder überwunden. Und jetzt verlassen sowohl die jungen Leute das Land als auch die ältere und die mittlere Generation. Man muss wieder lernen, trotz des Systems weiterzuleben. Mit den eigenen Ängsten und Einstellungen weiterzuleben, ist das Einzige, was den heute in Russland lebenden Menschen bleibt. Trotz des aggressiven und dummen Regimes weiterleben. Dieses „Trotz“ sollte sich auf die gesamte Existenz erstrecken. Man wird seine Unabhängigkeit neu behaupten müssen.
Wenn ich jetzt ein junger Künstler wäre, der in Russland lebt, würde ich zumindest keine offiziell organisierten Ausstellungen besuchen. Ich würde nicht einmal in die Tretjakov-Galerie gehen. Nicht, weil ich zu stolz bin, sondern weil man diese Dinge nicht mehr voneinander trennen kann: die Tretjakov-Galerie, das Puschkin-Museum oder irgendein GES-2 von dieser ganzen Mechanik der Lüge. Von der Zensur. Von dieser Situation, in der man in keinem Fall das tut, was man tun möchte. Ich kenne diesen ganzen Mechanismus der totalitären Utopie sehr gut aus der Sowjetzeit – und er nimmt jetzt wieder Gestalt an. Junge Menschen müssen sich ihre eigene alternative Welt schaffen, sich von der Außenwelt abgrenzen – und sich von diesem von Lügen überflutetem Epizentrum fernhalten. Lügen, die nichts mit dem künstlerischen Schaffen zu tun haben und gefährlich sind.
Worüber Sie jetzt sprechen, ist eine wörtliche Illustration von Adornos Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ aus Minima Moralia. Sehen Sie in der Rückkehr in den Underground den einzigen Ausweg für die russischen Künstler:innen?
Vadim Zakharov: Es handelt sich um eine neue Realität, für die die richtige Lösung gefunden werden muss. Die Realität selbst drängt kreative Menschen ins Ausland oder in den Underground. Es ist nicht mehr ihre persönliche Entscheidung, sondern die Macht selbst, die Sie dorthin drängt. Kürzlich wurde eine Anti-Kriegs-Ausstellung in St. Petersburg aufgelöst, und es war eine Wohnungsausstellung. Es werden also auch schon Wohnungsausstellungen aufgelöst. Man muss sich nach anderen Formen umsehen. Aber selbst unter diesen monströsen Bedingungen kann man noch etwas tun. Wir alle – unabhängig davon, ob wir in Russland sind oder es verlassen haben – fliegen heute hinunter, in die Dunkelheit. Auch hier spreche ich von Menschen, denen klar ist, dass das, was in der Ukraine geschieht, ein Schmerz und ein Trauma ist, das niemals heilen wird. Aber dieses Trauma kann nicht einmal annähernd mit der Tragödie der Ukrainer verglichen werden.
Jetzt reden wir über die russische Kultur – während des laufenden Krieges in der Ukraine. Das ist eigentlich Unsinn. Darin liegt eine Art von Gefühllosigkeit. Ich habe ein konkretes Beispiel dafür, wie man sich als Russ:in in dieser Situation verhalten sollte: Viktoria Ivleva, eine wunderbare Journalistin und Fotografin, die ich unendlich liebe und respektiere, begann schon lange vor dem Krieg, der Ukraine als Freiwillige zu helfen. Und am dritten Tag des Krieges ging sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen in die Ukraine. Nicht um zu fliehen, sondern um den Menschen zu helfen, indem sie sie aus den Krisenherden herausholte. Als ich sie fragte: „Wie konntest du dich so schnell entscheiden, alles stehen und liegen zu lassen und zu gehen – nicht nach Europa, sondern in die Ukraine?“, antwortete sie, dass es für sie „die einzig richtige Entscheidung“ war. Übrigens zeigt die Universität Bochum jetzt eine Ausstellung ihrer Fotografien – „Bachmut in Bochum“.
Viele Jahre lang schuf das Regime besondere Reservate der Freiheit für Kulturschaffende. Manchmal sogar komplexer gestaltete als zu Sowjetzeiten. Doch mit dem Beginn des Krieges fegte das Regime selbst alles weg, was es über Jahrzehnte mühsam zusammengetragen hatte. Wie ein buddhistisches Mandala.
Vadim Zakharov: Ich würde es nicht mit einem Mandala vergleichen, sondern mit Schach. Die Macht hat das Brett umgeworfen, hat alle Figuren auf einmal weggefegt. Während der Perestroika hatte Russland die kolossale Chance, den historischen Vektor der Entwicklung zu ändern. Ein anderes Denken zu etablieren. Aber nein: Das Spielbrett wurde umgekippt, und alles kehrte zum bekannten Drehbuch zurück. Und man versteht: Wenn Russland eine weitere Chance erhalten sollte, wird dies nicht sehr bald passieren. Die Propaganda wird sich unter negativen Umständen sehr schnell umkehren – das haben wir schon durchgemacht. Aber das Problem ist, dass Propaganda kein externes Werkzeug ist. Propaganda liegt uns im Blut. Ich ziehe zu diesem Thema eine Parallele zu Alien (dem Film von 1979 über einen biologischen Schadorganismus, der die Menschen infiltriert). Irgendein ekliges Ding blieb auf dem Gesicht des Mannes hängen und fiel dann ab – aber in Wirklichkeit hatte es sich bereits in ihm eingenistet. Dies ist eine absolute Metapher für das Sowjetische; seit 1917 sind wir alle infiziert. Langsam drang dieses Übel nicht nur in unsere Köpfe, sondern auch in unsere Zellen ein. In den siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft entwickelte es sich weiter und veränderte die Menschen von innen heraus, veränderte die Zusammensetzung unseres Blutes und ein neues Wesen, der Homo Sovieticus, entstand. Wir waren naiv zu glauben, dass dieses monströse Gen während der Perestroika in den Mülleimer der Geschichte abgeschüttelt werden könnte. Aber das war nicht der Fall. Während der Perestroika fühlte sich dieses Bakterium bedroht – und begann mit der Mimikry. Es passte sich an, tarnte sich. Es tat so, als würde es verschwinden. Es kämpfte ums Überleben. Sehen Sie sich Sergey Loznitsas Film The Event über den Staatsstreich von 1991 an. Man sieht aufgeklärte Gesichter bei den Demonstrationen. Und es ist, als ob der sowjetische Bazillus nie da gewesen wäre. Es gab eine Infektion – und plötzlich gibt es sie nicht mehr. Aber es hat sich herausgestellt, dass es nur eine weitere Illusion war. Putin hat diesen Bazillus wieder aktiviert – und heute hat dieses eklige Ding, das in uns zu gigantischen Ausmaßen herangewachsen ist, seine Hülle aufgerissen. Und alles ist herausgeflossen. Und statt eines Menschen gibt es jetzt eine tote Hülle. Totes Gewebe. Es kann nicht mehr wiederhergestellt werden. Und wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Denn jeder ist dieser Infektion ausgesetzt. Ich, du. Es gibt Dinge in uns Sowjets, denen wir uns nicht bewusst sind. Dieser Bazillus ist in unserem Blut. Wir können ihn nicht spüren, aber er schwimmt dort. Die wichtigste Frage ist, wie und wo wir das richtige Gegenmittel finden.
Was ist die Wurzel dieses Sowjetismus?
Vadim Zakharov: Der Kern des sowjetischen und dieses Systems ist der fehlende Wunsch nach Wahrheit, daher die Verlogenheit und Korruption, die imperialen Komplexe und daher die Aggression gegen alles, was anders ist. Und dann ist da natürlich noch das Leben in der Vergangenheit. Nehmen wir zum Beispiel die wunderbaren sowjetischen Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie werden auch heute noch nach ein paar Gläsern Wodka gesungen. Es gibt keine Distanz zu dieser Zeit, sie ist nie entstanden. Die Menschen, die jedes Jahr am 9. Mai im Treptower Park zum Beispiel „Katjuscha“ oder „Kalinka“ singen, spüren diese Distanz nicht. Sie singen, als ob sich die Welt seit 1945 nicht verändert hätte. Es ist eine absichtliche Abstumpfung der Sinne. Die Propaganda hat dieses künstliche, aufgesparte, außerzeitliche Leben in Russland geschaffen – ein Land, in dem es keine Gegenwart gibt. Es gibt nur die Vergangenheit und die Zukunft für die Kinder der Oligarchen. Das ist Irrsinn. Und die gegenwärtige Aggression ist unter anderem das Ergebnis dieses aufgesparten Lebens. Erinnern wir uns an das Hauptmotiv der Propaganda: „Russland muss sich von seinen Knien erheben“. Tatsächlich ist Russland aber noch nie niedergekniet. Das hätte es in den 1990er Jahren tun sollen, als Buße für die sowjetischen Verbrechen.
Ich denke, was jetzt in Russland aufgedeckt wird, ist nicht nur der Sowjetismus, sondern sein stalinistischer Kern. Der Massenterror, die Unterdrückung, wurde nie aufgearbeitet, nie in der Gesellschaft ausgesprochen. Dieses Trauma und gleichzeitig die Unfähigkeit, dem Bösen zu widerstehen, klingen heute noch nach.
Vadim Zakharov: In den 1990er Jahren hätte es eine Art Anstoß geben müssen, es hätte eine Lustration geben müssen. Aber das ist nie geschehen. Die KGB-Archive waren für eine sehr kurze Zeit geöffnet – und dann wieder geschlossen. Als Putin an die Macht kam, sagten mir viele Leute: „Vadim, du verstehst nicht: Die Zeiten haben sich geändert; du betrachtest die Dinge aus den alten Perspektiven. Heute entscheidet das Geld über alles. Es wird kein Zurück in die Vergangenheit geben.“ In Wirklichkeit war diese Formel über „Geld“ nur ein Deckmantel für einen grundlegenden Zynismus. Und dieser Zynismus ist heute wieder rausgekrochen. Natürlich war es wichtig, sich mit der Wirtschaft zu befassen – damit die Menschen nicht bettelarm sind (viele von ihnen hatten damals alles verloren). Aber man hätte mit der Ethik und dem Lustrationsgesetz beginnen müssen. Ich glaube, das war ein großer Fehler der liberalen Intelligenz der 1990er Jahre. Sie hielten die Wirtschaft für wichtiger als die Moral. Sie glaubten, der Markt würde alles regeln. Und deshalb ist die heutige russische Gesellschaft reicher als die sowjetische, aber sie ist innen hohl, ein Koloss auf tönernen Füßen.
Vor kurzem wurden Zhenja Berkovich und Svetlana Petrijchuk verhaftet: Kulturelle Persönlichkeiten wurden in Russland bisher zwar verfolgt, aber nicht inhaftiert. Wie würden Sie diese neue Phase charakterisieren?
Vadim Zakharov: Es ist die Rache des gesamten Systems. Es hat heute seinen Höhepunkt erreicht. Es spürt, dass sich jetzt auch sein Schicksal entscheidet: Entweder geht alles weiter – oder es bricht mit großer Wucht zusammen. Das System ist von innen vergiftet. In diesem Zustand reagiert es auf alles mögliche. Wir erleben fast unverhohlene Ausbrüche des Hasses gegen alles, was anders ist. Aber es ist nicht persönlich, weil es keine Persönlichkeiten mehr gibt. 1990 gab es einen Film mit Schwarzenegger, Remember Everything, und da gab es diese Figur – einen Mann, auf dessen Brust ein anderes Wesen lebte. So eine Pathologie, ein Tumor. Propaganda und diejenigen, die sie verbreiten, sind ein Krebsgeschwür. Es gibt dort keine Persönlichkeiten. Es sind Krebsgeschwüre, die aus dem Inneren der Krankheit schreien. Ich bin in vielen Dingen ein Pessimist, aber was dieses System in seiner jetzigen Form betrifft, ist mir klar: So kann es nicht lange weitergehen. Und der Maßstab für das künftige Russland wird die Ukraine sein, die ihre Freiheit verteidigt hat.