Über russische Kultur reden, während Russland Krieg gegen die Ukraine führt? Vadim Zakharov über zwei unterschiedliche Arten des Schweigens und über die Aktualität der Erfahrungen aus dem sowjetischen Underground.

  • Vadim Zakharov

    Vadim Zakharov gehört zur Gruppe der Moskauer Konzeptualisten, die seit den 1970er Jahren in der Sowjetunion im Underground künstlerisch tätig waren. 1980 gründet er mit Viktor Skersis die Gruppe SZ. Seit 1989 lebt er in Deutschland und hat seither international ausgestellt. 2022 führte er eine Reihe von Anti-Kriegs-Aktionen durch und verbot russischen Museen, seine Werke auszustellen. 2023 erhält er gemeinsam mit Yuri Albert den Goslaer Kaiserring.

Der Künstler Vadim Zakharov wird dieses Jahr mit dem Kaiser­ring der Stadt Goslar ausge­zeichnet (zusammen mit Yuri Albert). Zakharov, ein Vertreter der zweiten Gene­ra­tion des Moskauer Konzep­tua­lismus, hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Künstler in einem tota­li­tären Land zu sein. Einer der Grund­sätze des sowje­ti­schen Under­grounds war die Ableh­nung jegli­cher Form der Zusam­men­ar­beit mit den offi­zi­ellen Struk­turen. Zakharov ist der Meinung, dass diese Erfah­rung für russi­sche Künstler:innen heute wieder aktuell ist.

Das Gespräch ist am 5.6. auf svoboda.org erschienen und wurde von Andrej Arch­an­gelskij geführt. (https://www.svoboda.org/a/vadim-zaharov-russkaya-kultura-dolzhna-nauchitsya-molchat-/32438581.html)

Die Verlei­hung von Preisen an russi­sche Künstler:innen in Europa sieht heute nicht nur wie eine Aner­ken­nung von Verdiensten aus, sondern auch wie ein symbo­li­scher Akt der Unterstützung.

Vadim Zakharov: Wenn heute Preise an Russ:innen verliehen werden, auch wenn sie Russ­land verlassen haben oder lange Zeit außer­halb Russ­lands leben, ist das ein Akt der mora­li­schen Unter­stüt­zung. In diesem Jahr gingen die euro­päi­schen Preise an die Schrift­stel­le­rinnen Ljud­mila Ulitz­kaja und Maria Stepa­nova – ich freue mich, dass ich in dieser Gesell­schaft bin.

Ich lebe seit den 1990er Jahren in Deutsch­land und stelle hier regel­mäßig aus, aber Yuri Albert und ich waren hier nie das, was man promi­nent nennt. Es ist wichtig zu wissen: Die Europäer:innen verstehen, dass nicht alle Russinnen und Russen gleich sind. Für Deutsch­land ist es gene­rell unmög­lich, Menschen nach ihrer „Natio­na­lität“ im Sinne einer Ethnie einzu­teilen. Das ist ein Tabu. Deshalb haben die Deut­schen Verständnis für die Russen und Russinnen, die wie ich schon lange in Deutsch­land leben, und für dieje­nigen, die vor dem heutigen Regime geflohen sind. Als der Krieg begann, waren meine deut­schen Freunde und Kolleg:innen die ersten, die mir Worte der Unter­stüt­zung und Soli­da­rität schrieben. Natür­lich sympa­thi­sieren sie in erster Linie mit der Ukraine, aber sie verstehen auch die persön­liche Kata­strophe der Menschen aus Russ­land, für die sich alles in Moder verwan­delte, auch unsere Kultur, auf die wir alle so stolz waren. Der Massen­mord an den Ukrainer:innen legte sich wie ein schwarzer Schatten über ihre Vergan­gen­heit und Zukunft. Die Deut­schen verstehen sehr wohl, um was für eine Last es sich handelt. Das Trauma des Natio­nal­so­zia­lismus ist seit 80 Jahren nicht verheilt; so viel zu der Frage, wie viele Jahre Russ­land brau­chen wird, um um Verge­bung zu bitten. Und Buße zu tun.

Eines Ihrer bekann­testen Werke ist das Theodor-Adorno-Denkmal in Frank­furt am Main, ein „Arbeits­zimmer des Philo­so­phen“ in einem Glas­kubus (2003). Die Kontro­verse um das Denkmal begann am Tag der Enthül­lung – und ist bis heute nicht abge­klungen. Die einen protes­tieren, die anderen halten rund um die Uhr Wache um das Denkmal. Ganze analy­ti­sche Abhand­lungen sind darüber geschrieben worden. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese Kontroverse?

Vadim Zakharov: Adorno-Denkmal in Frank­furt am Main (Copy­right: Vadim Zakharov)

Vadim Zakharov: Meine Idee war es, die Trans­pa­renz zu zeigen, die Trans­pa­renz des heutigen Lebens. Es geht nicht einmal so sehr um das Adorno-Denkmal – sondern um jeden Autor, jede Autorin. Was braucht ein:e Philosoph:in? Einen Tisch, einen Stuhl und eine Lampe. Ein tradi­tio­nelles Set, auf das man nicht verzichten kann. Alles Geniale wird hier geboren – am Arbeits­platz, der norma­ler­weise vor den Blicken Außen­ste­hender verborgen ist. Ich habe beschlossen, den privaten Raum des Philo­so­phen und Denkers durch die Trans­pa­renz öffent­lich zu machen. Wir haben keine Privat­sphäre mehr, auch Künstler:innen nicht, denn wir laden selbst jede Minute Infor­ma­tionen über uns in soziale Netz­werke. Gleich­zeitig werden wir selbst ständig gelesen, werden in unseren Häusern hinter verschlos­senen Türen sitzend zu Avataren, ob wir wollen oder nicht. Um diese Trans­pa­renz zu vermit­teln, habe ich bewusst Elemente der klas­si­schen und mini­ma­lis­ti­schen Kunst verwendet – den Kubus, das Laby­rinth, das Quadrat, das Wort. Kunst, Philo­so­phie und Psycho­logie sind hier zu einem einzigen, ganz einfa­chen Bild verdichtet. Es war mir auch wichtig, dass das Leben des Philo­so­phen durch die Kunst weiter­geht. Es ist ein leben­diges Denkmal. Abends geht im Inneren des Denk­mals das Licht an, das Metronom schlägt 62 Schläge pro Minute, den Puls des Herzens. Es ist, als hätte ich den Mecha­nismus des Lebens ange­schaltet – Adornos Herz arbeitet. Die Leute, die dieses Denkmal nicht mögen, scheinen sich an der Privat­heit anderer zu stören, an dem öffent­lich zur Schau gestellten Herz­schlag anderer. Und sie versu­chen, diese Privat­heit zu zerstören, sie brechen in den Blut­kreis­lauf des Autors ein. Das ist ein inter­es­santes psycho­lo­gi­sches Moment, das viel Raum für Inter­pre­ta­tionen schafft. Ich dachte, dass ich durch Einfach­heit und Mini­ma­lismus für viele Menschen verständ­lich sein würde. Heute denke ich jedoch, dass dieses Denkmal für die Öffent­lich­keit zu komplex war. Viel­leicht ist der Tod als solcher für den Menschen psycho­lo­gisch verständ­li­cher als die Idee der Unend­lich­keit des Lebens, die schwer vorstellbar ist. Es kann sein, dass das laufende Metronom und die Lichter am Abend deshalb so irri­tie­rend sind.

Die Kontro­verse um das Adorno-Denkmal ist u.a. eine verblüf­fende Meta­pher für die Moderne. Schließ­lich geht es um die Zerbrech­lich­keit und Verwund­bar­keit des Intel­lekts im 21. Jahrhundert.

Vadim Zakharov: Ja, aber das Problem ist, dass man für diese Meta­pher bezahlen muss. Die Glas­scheiben des Kubus – sie sind seit der Eröff­nung regel­mäßig zerschlagen worden. Die Propor­tionen dieses Denk­mals sind genau auf einen kleinen Raum zuge­schnitten. Bäume, Büsche, ein Café in der Nähe. Das Denkmal stand in der Mitte einer Grün­an­lage, die Anwohner inter­agierten mit ihm – sie über­nach­teten sogar auf den Bänken und führten so eine Art Dialog – das hat mir gefallen. Vor fünf Jahren wurde der Platz von der Stadt­ver­wal­tung umbe­nannt, und nun befindet sich der Adorno-Platz vor der Frank­furter Univer­sität. Auch das Denkmal wurde dorthin verlegt. Die Rechte an dem Denkmal liegen seit langem bei der Stadt – es ist ihre Entschei­dung und ich will darüber nicht disku­tieren; aber durch die Verle­gung hat das Denkmal tech­ni­sche Probleme bekommen – dies funk­tio­niert nicht, jenes funk­tio­niert nicht. Aber jetzt habe ich mich, ehrlich gesagt, völlig davon distanziert.

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Aus Protest gegen den Krieg haben Sie russi­schen Museen, darunter der Tretjakov-Galerie, verboten, Ihre Werke auszu­stellen. Haben sie Ihrer Forde­rung entsprochen?

Vadim Zakharov: Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur auf die offi­zi­ellen Räume bezogen. Die drän­gendste Frage in der Kultur­szene heute ist: Kann Kunst in Russ­land noch so exis­tieren wie vorher? Ist es akzep­tabel, ein Fleck­chen für Ausstel­lungen zu finden, das noch nicht vom Staat besetzt worden ist? Viele meinen, man darf und soll: „Wir werden trotz allem eine gute Ausstel­lung machen!“ – damit das Publikum das Gefühl hat, dass etwas Gutes übrig­bleibt. Darüber habe ich in Berlin mit einigen Leuten, die aus Moskau kamen, gestritten. Sie meinen, man solle so lange Ausstel­lungen machen, wie es ein Minimum an Möglich­keiten gibt. Mein Stand­punkt ist, dass in siebzig Jahren Sowjet­macht und zwanzig Jahren Putin­system all unsere Anstren­gungen zu keinen funda­men­talen Ände­rungen am System geführt haben. Auch der Kompro­miss mit dem Staat hat nichts verän­dert. Denn nun kennen wir den Preis für diesen Kompro­miss. Jetzt darf es keine Kompro­misse mehr geben, es muss Lösungen geben. Heute ist der Kompro­miss mit dem Staat nur noch vulgär. Dazu noch­mals Adorno: „Nach Ausch­witz ein Gedicht zu schreiben, ist barba­risch…“ Wie wäre es mit: „Kann die russi­sche Kultur nach Butscha weiterexistieren?“

Vadim Zakharov vor dem russi­schen Pavillon 2022 in Venedig. Credits: Konstantin Akinsha

Viel­leicht sollten wir nach­denken und still sein, fragen, was haben wir falsch gemacht? Viel­leicht ist es für Künst­le­rinnen und Künstler nicht der rich­tige Zeit­punkt, sich kopf­über in all diese Vernis­sagen zu stürzen? Und die Schriftsteller:innen sollten viel­leicht wenigs­tens ein Jahr lang die Klappe halten… Die russi­sche Kultur muss lernen zu schweigen. Aber ich spreche vom Schweigen als Künstler:in, nicht vom Schweigen als Bürger:in. Jede:r russi­sche Künstler:in oder Schriftsteller:in sollte heute seine bzw. ihre Haltung zur Aggres­sion arti­ku­lieren und nicht versu­chen, auf zwei Stühlen zu sitzen. Denn in Kriegs­zeiten funk­tio­nieren Zwischen­töne nicht. Und deshalb sollte man nicht belei­digt sein, wenn ukrai­ni­sche Künstler:innen uns „canceln“, uns aus der Welt­kultur „werfen“. Manchmal ist es unge­recht, aber Putins Regime tötet weiter ukrai­ni­sche Frauen und Kinder. Von welcher Gerech­tig­keit kann man da reden? In der gegen­wär­tigen Situa­tion ist es takt­voller, zu schweigen – anstatt weiterhin alle von oben herab zu belehren, seine Moskauer Arro­ganz zu zeigen und bei jedem Streit das letzte Wort haben zu wollen.

Nun steht Russ­land viel­leicht eine gewisse vorkul­tu­relle Periode bevor, die einem Umdenken voraus­gehen sollte – nicht nur in Bezug auf die Kultur, sondern auf die Idee des Lebens in Russ­land selbst. Das Regime ist dabei, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu zerstören; alle früheren Grund­lagen der Exis­tenz – philo­so­phi­sche, mensch­liche, mora­li­sche – sind nun verloren. Man kann also jetzt nichts aufbauen. Es gibt nicht einmal Elemente, aus denen man heute ein Haus bauen könnte. Alles ist mit Dreck besu­delt. Und so muss man, bevor man wieder Ziegel für ein neues Funda­ment baut, heraus­finden, aus welchem Mate­rial man sie machen kann. In solchen Zeiten ist Geschwätz überflüssig.

Ist Nicht­teil­nahme in diesem Fall auch eine Handlung?

Vadim Zakharov: Ich lebe in Berlin, und ich gebe den Menschen, die in Russ­land leben, nie Ratschläge, schon gar nicht heute. Ich habe kein Recht, das zu tun. Ich sage nur meine Meinung. Es ist klar, dass die Tret­ja­kovka die Arbeit nicht einstellen kann. Und das Puschkin-Museum kann es auch nicht. Dort sind die Direk­toren inzwi­schen ausge­tauscht worden. Aber ich spreche vor allem von den jungen Leuten. Die wiederum schauen mich erstaunt an, wenn ich ihnen von der Wieder­be­le­bung aske­ti­scher Exis­tenz­formen erzähle, z.B. von Wohnungs­aus­stel­lungen. Zu unserer Zeit war das die einzige Form der Öffent­lich­keit. Aber die jungen Künstler:innen von heute sind schon auf den Geschmack von Aufmerk­sam­keit und Aner­ken­nung gekommen. Sie stellen in riesigen Räumen wie GES-2 oder im Garazh aus, und ihre Werke werden von Sammler:innen und euro­päi­schen Kurator:innen ange­schaut. Und plötz­lich wieder Wohnungs­aus­stel­lungen… wozu? Es ist schwer zu verstehen, dass dies die einzige Möglich­keit ist, sich als unabhängige:r Künstler:in zu retten. Sie verstehen nicht, dass sie mora­lisch schei­tern, ihren Ruf und ihre Karriere verlieren werden, wenn sie dem System nicht trotzen. Wenn sie die Energie der Unab­hän­gig­keit – der Arbeit, des Denkens, der Ideen – nicht gegen das System nutzen, könnte dies kata­stro­phale Folgen für die Zukunft der russi­schen Kunst haben. Es ist wichtig, sich vorzu­stellen, wo man selbst in 30 Jahren sein wird. Wie wird man dann aussehen? Diese Perspek­tive öffnet einem die Augen für vieles. Man muss sich schon heute an der Gestal­tung einer Sprache der Zukunft betei­ligen, indem man sich auf seine eigene unab­hän­gige Posi­tion stützt.

Sie sind 1977 in den Under­ground gegangen. Zwei Jahre später begann der Krieg in Afgha­ni­stan. Wurden Sie damals von seinem Echo erreicht? Und wie wirkte sich der Krieg beispiels­weise auf die unab­hän­gige Künst­ler­szene aus?

Vadim Zakharov: Wir waren in der inneren Emigra­tion. Alles, was der Staat tat, sahen wir als verab­scheu­ungs­würdig und feind­lich an. Aber für die meisten Sowjet­men­schen war der ganze Raum buch­stäb­lich mit Watte zuge­stopft. Zwischen den Menschen und der Realität lag eine riesige Schicht aus Watte. Natür­lich hörten wir west­liche Stimmen – aber sie klangen gedämpft, wie es eben in einem Land ohne unab­hän­gige Presse der Fall ist. Heute ist es in Russ­land mehr oder weniger dasselbe. Nur dass die aktu­elle Watte jetzt jeden Ton der Ratio­na­lität, geschweige denn Ethik, schluckt. Auch vor 40 Jahren herrschte wie heute eine öffent­liche Taub­heit. Und um etwas heraus­zu­hören, muss man hinhören können. Die Olym­pi­schen Spiele 1980 waren das Know-how des dama­ligen Systems. Erin­nern Sie sich, wie alle weinten, als das Bärchen, das Maskott­chen der Spiele, zum Himmel hinauf­flog? Zur glei­chen Zeit tötete das Regime in Afgha­ni­stan Menschen. Eine mons­tröse Mischung aus Weiner­lich­keit und aggres­siver Gefühl­lo­sig­keit. Putins Propa­ganda ist eine logi­sche Fort­set­zung des alten Systems. Auch heute, bei den offi­zi­ellen Eröff­nungen von Ausstel­lungen in Moskau, laufen viele meiner Bekannten lachend herum, halten Gläser in der Hand und, was am wich­tigsten ist, stellen dann diese Fotos ins Internet. Da möchte ich fragen: „Seid ihr völlig übergeschnappt?“

Ihr Duo mit Viktor Skersis – die 1980 gegrün­dete Gruppe SZ – wurde durch ihre absurden Aktionen berühmt: Sie schrieben auf Pfosten und Wände „Huch!“, „Autsch!“, „Hier!“, „Wie!“, „Hut!“. Wie wurde dies wahr­ge­nommen, wie funk­tio­nierte es zu Sowjet­zeiten? Wie der Witz über das leere Blatt Papier („warum etwas schreiben – es ist doch eh schon allen alles klar“)?

Vadim Zakharov: Übri­gens wird man heute auch für ein leeres Blatt Papier mit Geld­bußen und Gefängnis bestraft. Das heißt, das Niveau der öffent­li­chen Frei­heit ist noch geringer als in den letzten Jahren der Sowjet­macht. Die Sicher­heits­kräfte von heute wissen, was ein Künstler meint, auch wenn er mit einem leeren Blatt Papier hinaus­geht. Sie sind in dieser Hinsicht infor­mierter – was ihre Grau­sam­keit nicht geringer macht. Was heute geschieht, ist nicht nur die Abschaf­fung der Äuße­rung – sondern die Abschaf­fung der Sprache selbst. So wird es bald zur Abschaf­fung des Denkens kommen, wie bei Orwell.

Vadim Zakharov: War is peace. Orwell, Cour­tesy: Vadim Zakharov

Natür­lich gab es auch schon zu unserer Zeit genug Orwel­leskes. Wir haben selbst­ver­ständ­lich nicht „Nieder mit den Sowjets“ geschrieben. Wir haben, wie Sie richtig bemerkten, Zwischen­rufe auf Pfosten hinter­lassen. Unser „Hier!“ (Vot!) sollte den Auto­ma­tismus im Denken des Sowjet­men­schen stören. Ihn verwirren. In der sowje­ti­schen visu­ellen Aufstel­lung war alles ratio­niert, alles musste an seinem Platz sein. Daher war es para­do­xer­weise einfa­cher, den Sowjet­men­schen zu verwirren und in Sack­gassen zu führen. Da lief er gegen unser „Autsch!“ – Es gab einen kurzen Zusam­men­stoß. Er verstand, dass diese Aufschrift, auch wenn keine sicht­bare Revolte erkennbar war, etwas Gefähr­li­ches und Bedroh­li­ches an sich hatte. Das Wort stand im „falschen“ Kontext, am falschen Ort. Es war eine Art Koan für das sowje­ti­sche Denken. Genau darin bestand auch unsere Aufgabe: den Menschen die Idee zu vermit­teln, dass „hier etwas nicht stimmt“. Wir nannten diese ersten Graf­fiti „Signal­an­lagen“. Später in Moskau, in den 2010er Jahren, sagten mir Studie­rende: „Sie erzählen uns von den Durch­su­chungen, dass Sie vor allem Angst hatten – aber man kann auf den Fotos der Gruppe SZ, der Gruppe Gnezdo (Nest) oder der Kollek­tiven Aktionen nicht erkennen, dass überall Angst herrschte. Im Gegen­teil, diese Arbeiten sehen sehr frei aus.“ In Wirk­lich­keit verlangte diese Frei­heit Risiko und Anstrengung.

1983 zum Beispiel hatten Viktor Skersis und ich eine Ausstel­lung in der Wohnung von Nikita Alek­seev. Damals hieß der Ort noch APTART (vom engli­schen appart­ment art). Und dann kam der KGB dorthin, nahm einige Werke mit und begann, uns ein Verfahren anzu­hängen. Dann, mit dem Beginn der Pere­stroika, schien es so, als ob sich alles verän­dert – aber nichts derglei­chen! 1983 schufen Georgiy Kize­valter und ich ein hand­ge­fer­tigtes Buch Through the Work­shops, und 1986 über­reichten wir diese seltene Ausgabe der briti­schen Gale­ristin Phyllis Kind (euro­päi­sche Gale­risten kamen bereits nach und nach in die Sowjet­union). Und diese Ausgabe wurde ihr gestohlen – aus dem Hotel, in dem sie unter­ge­bracht war. Dann erschien in der Zeitung Sovets­kaja kul’tura ein riesiger Artikel mit dem Titel „Fische in trüben Gewäs­sern“, der uns als Autoren, Heraus­geber und inof­fi­zi­elle Künstler bloß­stellte. Und wir begannen in aller Eile, unsere Wohnungen auszu­räumen, neue Verstecke für Solsche­nizyn und andere anti­so­wje­ti­sche Lite­ratur zu suchen, denn wir berei­teten uns gedank­lich darauf vor, aus Moskau verbannt zu werden. Dabei schrieben wir bereits das Jahr 1986!

Waren Sie auf alles vorbereitet?

Vadim Zakharov: Bis 1977 war ich ein naiver Junge, der im sowje­ti­schen Para­digma lebte. Aber 1977 lernte ich Yuri Albert in der Grafik­ab­tei­lung des Pädago­gi­schen Insti­tuts kennen, und er brachte mich in den Kreis der Moskauer Konzep­tua­listen. Die Welt änderte sich für mich dras­tisch. Seitdem war ich in einem Umfeld, wo Menschen sich als Gleich­ge­sinnte verstanden. Meine Gene­ra­tion kam Ende der 1970er Jahre und löste die großen Künstler ab, die emigriert waren. Zu diesem Zeit­punkt haben drei Gene­ra­tionen unab­hän­giger Künstler:innen eine Mikro­kultur mit eigenen Tradi­tionen geschaffen. Wir waren Anfang zwanzig, neben uns waren aber auch die Alten dabei: Vladimir Nemukhin, geboren 1928; Ilya Kabakov und Erik Bulatov, geboren 1933; Ivan Chuikov, geboren 1935; Eduard Stein­berg, geboren 1937. Sie alle waren unter­schied­lich. Alle waren Indi­vi­dua­listen, jeder war der Anführer seiner eigenen Bewe­gung, aber ohne Schüler:innen. Mikhail Shvartsman war eine Ausnahme. Der Lehrer von Nemuchin hatte Male­witsch noch erlebt – wir haben Nemuchin noch erlebt: Die Verbin­dung zwischen den Gene­ra­tionen dauerte fast ein Jahr­hun­dert an. All dies schuf eine starke Energie, obwohl zum Kreis der Künstler.innen immer ca. dreißig Personen gehörten. Es gab auch ein Bewusst­sein für die histo­ri­sches Bedeu­tung des Moments, in dem wir uns befanden. Meine Gene­ra­tion hatte sehr wenig Kontakt zur offi­zi­ellen Welt; der sowje­ti­sche Raum war für uns ein Terri­to­rium, das grund­sätz­lich unin­ter­es­sant und unsichtbar war. Wir mussten damit im Leben in Berüh­rung kommen – als Haus­meister oder Nacht­wächter oder später, in den Verlagen, als Illus­tra­toren von Büchern. Auch die sowje­ti­schen Zuschauer machte einen Bogen um uns. Wenn ein Passant eine Aktion der dama­ligen Künstler sah, verstand er entweder nicht, was vor sich ging, und ging weiter, oder bekam auf seine verwirrte Frage die Antwort: „Wir drehen hier einen Film“. Die erste Begeg­nung mit der Außen­welt fand zu Beginn der Pere­stroika statt, als die ersten Ausstel­lungen eröffnet wurden und die ersten sowje­ti­schen Menschen von außen eintrafen. In diesem Moment wurde mir klar, dass es Andere gab und dass wir unter­schied­liche Spra­chen sprachen.

Das System eines Zirkels, die die „das Haus nicht verlassen“.

Vadim Zakharov: Nein, das ist eine Fehl­in­ter­pre­ta­tion. Erstens haben wir diese Insel­lage nicht selbst geschaffen, sie ist gegen unseren Willen und gegen unseren Wunsch entstanden. Zwei­tens bestand der Kreis der inof­fi­zi­ellen Künstler:innen aus denje­nigen, die durch Zufall über­lebt hatten, die in den vergan­genen Jahren nicht von der Sense der Macht nieder­ge­mäht worden waren. Jene Sprossen, die gegen jede Logik durch den Asphalt gedrungen waren. Das heißt, dieser Zirkel war eher das Ergebnis tragi­scher äußerer Umstände als einer persön­li­chen Entschei­dung. Aber soweit ich mich erin­nern kann, gab es kein Gefühl von Elitismus, keine Verach­tung für andere. Von welcher Art von Elitismus könnte man spre­chen, wenn niemand zu dieser „Insel“ segeln wollte? Für viele war es gefähr­lich, sich dieser Insel zu nähern. Im Gegen­teil, wir waren auf unsere Weise offen, kein geschlos­sener Kreis – wir lebten in einem Käfig, aber wir orien­tierten uns an der freien west­li­chen Kultur und lebten mit dem Gefühl, dass es in der Kultur keine Grenzen geben kann.

Inwie­fern ist die heutige Gene­ra­tion russi­scher Künstler:innen anders?

Vadim Zakharov: Ich mag mich irren, aber es sieht so aus, dass die jungen Leute auf die neue Situa­tion nicht vorbe­reitet waren. Sie sind in einer anderen Lebens­si­tua­tion aufge­wachsen als ich zum Beispiel. Ich kenne viele Menschen, die heute aus Moskau, aus anderen Städten hierhin kommen; das wich­tigste Ergebnis dieser Gespräche ist: „Wir müssen das aussitzen“. „Bald geht dort alles vorbei, in ein oder zwei Jahren komme ich zurück und alles ist wieder wie vorher“. Sie verstehen nicht, wie tief Russ­land dieses Mal gesunken ist. Und wir mit ihm. Sie sind mora­lisch nicht bereit, für lange Zeit außer­halb des Systems zu exis­tieren. Und das wird sich auf die allge­meine Situa­tion in der Kultur auswirken.

Zum Beispiel auf die Konti­nuität der Gene­ra­tionen: Wenn früher durch die Auswan­de­rung aus der UdSSR die Bindungen abge­rissen waren, dann haben wir, die jüngere Gene­ra­tion, diese Risse Ende der 1970er Jahre wieder über­wunden. Und jetzt verlassen sowohl die jungen Leute das Land als auch die ältere und die mitt­lere Gene­ra­tion. Man muss wieder lernen, trotz des Systems weiter­zu­leben. Mit den eigenen Ängsten und Einstel­lungen weiter­zu­leben, ist das Einzige, was den heute in Russ­land lebenden Menschen bleibt. Trotz des aggres­siven und dummen Regimes weiter­leben. Dieses „Trotz“ sollte sich auf die gesamte Exis­tenz erstre­cken. Man wird seine Unab­hän­gig­keit neu behaupten müssen.

Wenn ich jetzt ein junger Künstler wäre, der in Russ­land lebt, würde ich zumin­dest keine offi­ziell orga­ni­sierten Ausstel­lungen besu­chen. Ich würde nicht einmal in die Tretjakov-Galerie gehen. Nicht, weil ich zu stolz bin, sondern weil man diese Dinge nicht mehr vonein­ander trennen kann: die Tretjakov-Galerie, das Puschkin-Museum oder irgendein GES-2 von dieser ganzen Mechanik der Lüge. Von der Zensur. Von dieser Situa­tion, in der man in keinem Fall das tut, was man tun möchte. Ich kenne diesen ganzen Mecha­nismus der tota­li­tären Utopie sehr gut aus der Sowjet­zeit – und er nimmt jetzt wieder Gestalt an. Junge Menschen müssen sich ihre eigene alter­na­tive Welt schaffen, sich von der Außen­welt abgrenzen – und sich von diesem von Lügen über­flu­tetem Epizen­trum fern­halten. Lügen, die nichts mit dem künst­le­ri­schen Schaffen zu tun haben und gefähr­lich sind.

Worüber Sie jetzt spre­chen, ist eine wört­liche Illus­tra­tion von Adornos Satz „Es gibt kein rich­tiges Leben im falschen“ aus Minima Moralia. Sehen Sie in der Rück­kehr in den Under­ground den einzigen Ausweg für die russi­schen Künstler:innen?

Vadim Zakharov: Es handelt sich um eine neue Realität, für die die rich­tige Lösung gefunden werden muss. Die Realität selbst drängt krea­tive Menschen ins Ausland oder in den Under­ground. Es ist nicht mehr ihre persön­liche Entschei­dung, sondern die Macht selbst, die Sie dorthin drängt. Kürz­lich wurde eine Anti-Kriegs-Ausstellung in St. Peters­burg aufge­löst, und es war eine Wohnungs­aus­stel­lung. Es werden also auch schon Wohnungs­aus­stel­lungen aufge­löst. Man muss sich nach anderen Formen umsehen. Aber selbst unter diesen mons­trösen Bedin­gungen kann man noch etwas tun. Wir alle – unab­hängig davon, ob wir in Russ­land sind oder es verlassen haben – fliegen heute hinunter, in die Dunkel­heit. Auch hier spreche ich von Menschen, denen klar ist, dass das, was in der Ukraine geschieht, ein Schmerz und ein Trauma ist, das niemals heilen wird. Aber dieses Trauma kann nicht einmal annä­hernd mit der Tragödie der Ukrainer vergli­chen werden.

Jetzt reden wir über die russi­sche Kultur – während  des laufenden Krieges in der Ukraine. Das ist eigent­lich Unsinn. Darin liegt eine Art von Gefühl­lo­sig­keit. Ich habe ein konkretes Beispiel dafür, wie man sich als Russ:in in dieser Situa­tion verhalten sollte: Viktoria Ivleva, eine wunder­bare Jour­na­listin und Foto­grafin, die ich unend­lich liebe und respek­tiere, begann schon lange vor dem Krieg, der Ukraine als Frei­wil­lige zu helfen. Und am dritten Tag des Krieges ging sie mit ihren beiden erwach­senen Söhnen in die Ukraine. Nicht um zu fliehen, sondern um den Menschen zu helfen, indem sie sie aus den Krisen­herden heraus­holte. Als ich sie fragte: „Wie konn­test du dich so schnell entscheiden, alles stehen und liegen zu lassen und zu gehen – nicht nach Europa, sondern in die Ukraine?“, antwor­tete sie, dass es für sie „die einzig rich­tige Entschei­dung“ war. Übri­gens zeigt die Univer­sität Bochum jetzt eine Ausstel­lung ihrer Foto­gra­fien – „Bachmut in Bochum“.

Viele Jahre lang schuf das Regime beson­dere Reser­vate der Frei­heit für Kultur­schaf­fende. Manchmal sogar komplexer gestal­tete als zu Sowjet­zeiten. Doch mit dem Beginn des Krieges fegte das Regime selbst alles weg, was es über Jahr­zehnte mühsam zusam­men­ge­tragen hatte. Wie ein buddhis­ti­sches Mandala.

Vadim Zakharov: Ich würde es nicht mit einem Mandala verglei­chen, sondern mit Schach. Die Macht hat das Brett umge­worfen, hat alle Figuren auf einmal wegge­fegt. Während der Pere­stroika hatte Russ­land die kolos­sale Chance, den histo­ri­schen Vektor der Entwick­lung zu ändern. Ein anderes Denken zu etablieren. Aber nein: Das Spiel­brett wurde umge­kippt, und alles kehrte zum bekannten Dreh­buch zurück. Und man versteht: Wenn Russ­land eine weitere Chance erhalten sollte, wird dies nicht sehr bald passieren. Die Propa­ganda wird sich unter nega­tiven Umständen sehr schnell umkehren – das haben wir schon durch­ge­macht. Aber das Problem ist, dass Propa­ganda kein externes Werk­zeug ist. Propa­ganda liegt uns im Blut. Ich ziehe zu diesem Thema eine Paral­lele zu Alien (dem Film von 1979 über einen biolo­gi­schen Schad­or­ga­nismus, der die Menschen infil­triert). Irgendein ekliges Ding blieb auf dem Gesicht des Mannes hängen und fiel dann ab – aber in Wirk­lich­keit hatte es sich bereits in ihm einge­nistet. Dies ist eine abso­lute Meta­pher für das Sowje­ti­sche; seit 1917 sind wir alle infi­ziert. Langsam drang dieses Übel nicht nur in unsere Köpfe, sondern auch in unsere Zellen ein. In den siebzig Jahren sowje­ti­scher Herr­schaft entwi­ckelte es sich weiter und verän­derte die Menschen von innen heraus, verän­derte die Zusam­men­set­zung unseres Blutes und ein neues Wesen, der Homo Sovie­ticus, entstand. Wir waren naiv zu glauben, dass dieses mons­tröse Gen während der Pere­stroika in den Müll­eimer der Geschichte abge­schüt­telt werden könnte. Aber das war nicht der Fall. Während der Pere­stroika fühlte sich dieses Bakte­rium bedroht – und begann mit der Mimikry. Es passte sich an, tarnte sich. Es tat so, als würde es verschwinden. Es kämpfte ums Über­leben. Sehen Sie sich Sergey Loznitsas Film The Event über den Staats­streich von 1991 an. Man sieht aufge­klärte Gesichter bei den Demons­tra­tionen. Und es ist, als ob der sowje­ti­sche Bazillus nie da gewesen wäre. Es gab eine Infek­tion – und plötz­lich gibt es sie nicht mehr. Aber es hat sich heraus­ge­stellt, dass es nur eine weitere Illu­sion war. Putin hat diesen Bazillus wieder akti­viert – und heute hat dieses eklige Ding, das in uns zu gigan­ti­schen Ausmaßen heran­ge­wachsen ist, seine Hülle aufge­rissen. Und alles ist heraus­ge­flossen. Und statt eines Menschen gibt es jetzt eine tote Hülle. Totes Gewebe. Es kann nicht mehr wieder­her­ge­stellt werden. Und wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Denn jeder ist dieser Infek­tion ausge­setzt. Ich, du. Es gibt Dinge in uns Sowjets, denen wir uns nicht bewusst sind. Dieser Bazillus ist in unserem Blut. Wir können ihn nicht spüren, aber er schwimmt dort. Die wich­tigste Frage ist, wie und wo wir das rich­tige Gegen­mittel finden.

Was ist die Wurzel dieses Sowje­tismus?

Vadim Zakharov: Der Kern des sowje­ti­schen und dieses Systems ist der fehlende Wunsch nach Wahr­heit, daher die Verlo­gen­heit und Korrup­tion, die impe­rialen Komplexe und daher die Aggres­sion gegen alles, was anders ist. Und dann ist da natür­lich noch das Leben in der Vergan­gen­heit. Nehmen wir zum Beispiel die wunder­baren sowje­ti­schen Lieder aus dem Zweiten Welt­krieg. Sie werden auch heute noch nach ein paar Gläsern Wodka gesungen. Es gibt keine Distanz zu dieser Zeit, sie ist nie entstanden. Die Menschen, die jedes Jahr am 9. Mai im Trep­tower Park zum Beispiel „Katju­scha“ oder „Kalinka“ singen, spüren diese Distanz nicht. Sie singen, als ob sich die Welt seit 1945 nicht verän­dert hätte. Es ist eine absicht­liche Abstump­fung der Sinne. Die Propa­ganda hat dieses künst­liche, aufge­sparte, außer­zeit­liche Leben in Russ­land geschaffen – ein Land, in dem es keine Gegen­wart gibt. Es gibt nur die Vergan­gen­heit und die Zukunft für die Kinder der Olig­ar­chen. Das ist Irrsinn. Und die gegen­wär­tige Aggres­sion ist unter anderem das Ergebnis dieses aufge­sparten Lebens. Erin­nern wir uns an das Haupt­motiv der Propa­ganda: „Russ­land muss sich von seinen Knien erheben“. Tatsäch­lich ist Russ­land aber noch nie nieder­ge­kniet. Das hätte es in den 1990er Jahren tun sollen, als Buße für die sowje­ti­schen Verbrechen.

Ich denke, was jetzt in Russ­land aufge­deckt wird, ist nicht nur der Sowje­tismus, sondern sein stali­nis­ti­scher Kern. Der Massen­terror, die Unter­drü­ckung, wurde nie aufge­ar­beitet, nie in der Gesell­schaft ausge­spro­chen. Dieses Trauma und gleich­zeitig die Unfä­hig­keit, dem Bösen zu wider­stehen, klingen heute noch nach.

Vadim Zakharov: In den 1990er Jahren hätte es eine Art Anstoß geben müssen, es hätte eine Lustra­tion geben müssen. Aber das ist nie geschehen. Die KGB-Archive waren für eine sehr kurze Zeit geöffnet – und dann wieder geschlossen. Als Putin an die Macht kam, sagten mir viele Leute: „Vadim, du verstehst nicht: Die Zeiten haben sich geän­dert; du betrach­test die Dinge aus den alten Perspek­tiven. Heute entscheidet das Geld über alles. Es wird kein Zurück in die Vergan­gen­heit geben.“ In Wirk­lich­keit war diese Formel über „Geld“ nur ein Deck­mantel für einen grund­le­genden Zynismus. Und dieser Zynismus ist heute wieder raus­ge­kro­chen. Natür­lich war es wichtig, sich mit der Wirt­schaft zu befassen – damit die Menschen nicht bettelarm sind (viele von ihnen hatten damals alles verloren). Aber man hätte mit der Ethik und dem Lustra­ti­ons­ge­setz beginnen müssen. Ich glaube, das war ein großer Fehler der libe­ralen Intel­li­genz der 1990er Jahre. Sie hielten die Wirt­schaft für wich­tiger als die Moral. Sie glaubten, der Markt würde alles regeln. Und deshalb ist die heutige russi­sche Gesell­schaft reicher als die sowje­ti­sche, aber sie ist innen hohl, ein Koloss auf tönernen Füßen.

Vor kurzem wurden Zhenja Berko­vich und Svet­lana Petri­jchuk verhaftet: Kultu­relle Persön­lich­keiten wurden in Russ­land bisher zwar verfolgt, aber nicht inhaf­tiert. Wie würden Sie diese neue Phase charakterisieren?

Vadim Zakharov: Es ist die Rache des gesamten Systems. Es hat heute seinen Höhe­punkt erreicht. Es spürt, dass sich jetzt auch sein Schicksal entscheidet: Entweder geht alles weiter – oder es bricht mit großer Wucht zusammen. Das System ist von innen vergiftet. In diesem Zustand reagiert es auf alles mögliche. Wir erleben fast unver­hoh­lene Ausbrüche des Hasses gegen alles, was anders ist. Aber es ist nicht persön­lich, weil es keine Persön­lich­keiten mehr gibt. 1990 gab es einen Film mit Schwar­zen­egger, Remember Ever­y­thing, und da gab es diese Figur – einen Mann, auf dessen Brust ein anderes Wesen lebte. So eine Patho­logie, ein Tumor. Propa­ganda und dieje­nigen, die sie verbreiten, sind ein Krebs­ge­schwür. Es gibt dort keine Persön­lich­keiten. Es sind Krebs­ge­schwüre, die aus dem Inneren der Krank­heit schreien. Ich bin in vielen Dingen ein Pessi­mist, aber was dieses System in seiner jetzigen Form betrifft, ist mir klar: So kann es nicht lange weiter­gehen. Und der Maßstab für das künf­tige Russ­land wird die Ukraine sein, die ihre Frei­heit vertei­digt hat.

Über­set­zung aus dem Russi­schen Sylvia Sasse, Iryna Herasimovich.