Immer wieder werden Forderungen laut, die Sozialhilfe stärker an Gegenleistungen zu koppeln. Sie beruhen auf einer moralischen Deutung von Arbeitslosigkeit, die Ökonomen vor hundert Jahren als vormodern zurückgewiesen haben. Nun ist sie wieder auf dem Vormarsch.

  • Bettina Grimmer

    Bettina Grimmer ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Soziologie und Sozialpolitik sowie Wissens- und Kultursoziologie.

Im Mai dieses Jahres stimmte Bern als erster Schweizer Kanton darüber ab, ob der Grund­be­darf der Sozi­al­hilfe um 8 Prozent unter den Mini­mal­stan­dard der Schwei­ze­ri­schen Konfe­renz für Sozi­al­hilfe (SKOS) gekürzt werden dürfe. Zwar wurde die Geset­zes­re­vi­sion mit knapp 53% der Stimmen abge­lehnt. Von rechter Seite bleibt der SKOS-Mindeststandard aber weiterhin unter Beschuss. So ist im Kanton Basel­land ein Vorstoss hängig, der den Grund­be­darf um 30 Prozent kürzen und vom Koope­ra­ti­ons­willen des Leis­tungs­emp­fän­gers abhängig machen will. Den vollen Betrag soll demnach nur erhalten, wer sich beson­ders „inte­gra­ti­ons­willig, moti­viert und enga­giert“ verhält. Gerade im Falle von Arbeits­lo­sig­keit seien die Anreize, eine Arbeit aufzu­nehmen, ansonsten zu gering, so die Initianten.

Vorstösse wie diese, welche die Höhe der Leis­tungs­an­sätze zurück­binden an indi­vi­du­elles Verhalten, tragen zur Stig­ma­ti­sie­rung von Arbeits­lo­sig­keit und Arbeits­losen bei und reden einer Indi­vi­dua­li­sie­rung von sozialen Notlagen das Wort. Der Einzelne ist demnach selbst verant­wort­lich für soziale Risiken. Diese vormodern-moralisierende Sicht auf die Arbeits­lo­sig­keit galt lange als histo­risch über­wunden. Doch sie meldet sich heute macht­voll zurück.

Die Entste­hung der Arbeitslosigkeit

Arbeits­lo­sig­keit, wie wir sie heute kennen, hat es nicht „schon immer“ gegeben. Sie ist erst mit der Indus­tria­li­sie­rung und der seither zuneh­menden Nach­frage nach Lohn­ar­beit entstanden. Bis Ende des 19. Jahr­hun­derts exis­tierte jedoch keine eigene Kate­gorie für die ökono­misch bedingte Nicht­be­schäf­ti­gung: Arbeits­lo­sig­keit war Teil der Armut und galt als ein mora­li­sches Problem. Die vormo­derne Betrach­tung der Armen beruhte seit dem späten Mittel­alter in Europa auf einer mora­li­schen Ordnung, die „würdige“ von „unwür­digen“ Armen unter­schied. Als würdig galten die Arbeits­un­fä­higen – wie alte Menschen, Witwen mit kleinen Kindern, Waisen und Behin­derte. Nur sie sollten mit Almosen unter­stützt werden. Davon unter­schied man die Gruppe der arbeits­fä­higen „Müssig­gänger“, die als arbeits­un­wil­lige und deshalb unwür­dige Arme galten – und als mora­lisch hoch­gradig verwerf­lich. Sie sollten bestraft, zur Arbeit gezwungen oder vertrieben werden. Das zentrale Krite­rium dieser vormo­dernen Ordnung war die Arbeits­fä­hig­keit. Es ankerte in der Vorstel­lung, dass der Arbeits­markt immer genug Arbeit für alle abwerfe und jemand, der bei vollen Kräften und klarem Verstand war, unmög­lich arm sein könne (es sei denn, er wolle nicht arbeiten).

Erst die Aner­ken­nung von Arbeits­lo­sig­keit als Struk­tur­pro­blem des modernen Arbeits­marktes brachte eine mora­li­sche Entschär­fung dieser Deutung mit sich. Ein erster Schritt hin zur modernen Auffas­sung setzte Ende des 19. Jahr­hun­derts mit der Umko­die­rung der Arbeits­lo­sig­keit von einem indi­vi­du­ellen Problem zu einer „sozialen Frage“ ein. Ange­sichts der konjunk­tur­be­dingten Sicht­bar­keit der Massen­ar­beits­lo­sig­keit im Kontext der Grossen Depres­sion von 1873 bis 1896 verän­derte sich die Wahr­neh­mung des Phäno­mens. In England orga­ni­sierten Arbeits­lose 1879 erste Proteste, die Jahr für Jahr ein grös­seres Ausmass annahmen. Immer häufiger kam es zu Ausschrei­tungen: Geschäfte wurden geplün­dert, Eigentum zerstört und schliess­lich wurden die Proteste gewaltsam nieder­ge­schlagen. Parallel dazu setzte eine neue gesell­schaft­liche Thema­ti­sie­rung von Arbeits­lo­sig­keit ein, die sich auch sprach­lich nieder­schlug. In den 1880er Jahren wurden die Begriffe „unem­ployed“ und „unem­ploy­ment“ in das New English Dictionary aufge­nommen. Auch die staat­liche Statistik trug dazu bei, dass die Arbeits­lo­sig­keit zum Gegen­stand poli­ti­scher Debatten werden konnte. Zwar besass die sozia­lis­ti­sche Bewe­gung in Gross­bri­tan­nien nur wenige Anhänger, so dass revo­lu­tio­näre Umtriebe nicht ernst­haft zu befürchten waren. Dennoch schien die Zahl der Arbeits­losen auch aus bürger­li­cher Sicht einen kriti­schen Punkt zu über­schreiten und zu einer Gefahr für den sozialen Frieden zu werden. Unbe­dingt wollte man vermeiden, dass die arbeits­losen Hand­werker und Indus­trie­ar­beiter, die der Wirt­schafts­krise zum Opfer gefallen waren, sich mit den Armen verbanden, die in London dauer­haft von Almosen lebten, und sich von deren fehlender Arbeits­moral „anste­cken“ liessen. Nicht zuletzt aus diesem Grund nannte auch die Times Arbeits­lo­sig­keit ein „funda­men­tales Problem moderner Gesell­schaften“, das sich mit den Mass­nahmen und Konzepten der Armen­für­sorge nicht lösen liess. Während der Glaube an die Selbst­re­gu­la­tion des Marktes ins Wanken geriet, mehrten sich die Vorstösse, Arbeits­lo­sig­keit und ihre Ursa­chen (sozial-)wissenschaftlich zu verstehen und sozi­al­po­li­tisch zu regulieren.

Arbeits­lo­sig­keit als soziales Risiko

Sozio­logen wie Charles Booth und Ökonomen wie William Beve­ridge über­nahmen um 1900 Marx’ These, wonach Arbeits­lo­sig­keit für das Funk­tio­nieren des kapi­ta­lis­ti­schen Marktes unver­zichtbar sei. In seinem „Unem­ploy­ment. A Problem of Industry“ beschrieb Beve­ridge das Phänomen schon 1909 als ein konjunk­tur­be­dingtes Miss­ver­hältnis zwischen Angebot und Nach­frage von Arbeits­kraft, das über ein natio­nales Arbeitsvermittlungs- und Versi­che­rungs­system ausge­gli­chen werden müsse. Seine Über­le­gungen flossen in den 1942 im Auftrag der briti­schen Regie­rung verfassten „Beveridge-Bericht“ ein, der das Modell einer umfas­senden Sozi­al­ver­si­che­rung gegen die „fünf Haupt­übel“ Not, Krank­heit, Unwis­sen­heit, Verelen­dung und Arbeits­lo­sig­keit vorschlug. Diese moderne, kollektiv-solidarische Sicht­weise auf Arbeits­lo­sig­keit setzte sich im 20. Jahr­hun­dert zuneh­mend durch. Insbe­son­dere nach dem Zweiten Welt­krieg wurde der Sozi­al­staat in Europa stetig ausge­baut. Fast überall in (West-)Europa wurde ein zwei­glied­riges Sozi­al­system einge­führt, das aus einer steu­er­fi­nan­zierten Sozi­al­hilfe für die Armen und Versi­che­rungs­leis­tungen für die Arbeits­losen bestand. In der Schweiz gab es bereits früh eine flächen­de­ckende Armen­für­sorge durch die Gemeinden und gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts entstanden erste Arbeits­lo­sen­kassen. Eine obli­ga­to­ri­sche Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung wurde in einzelnen Kantonen im Laufe der 1950er Jahre einge­führt und schließ­lich 1977 in die obli­ga­to­ri­sche gesamt­schwei­ze­ri­sche Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung überführt.

Das Prinzip der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung verkör­pert die moderne Perspek­tive auf Arbeits­lo­sig­keit als soziales Risiko, das nicht vom Indi­vi­duum, sondern vom kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­system ausgeht und folg­lich von der Allge­mein­heit der Versi­cherten zu tragen ist. Demnach verpflichtet sich die Soli­dar­ge­mein­schaft durch regel­mäs­sige Beiträge, die Einzelnen im Scha­dens­fall zu unter­stützen. Die Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung verhin­dert dementspre­chend zumin­dest für eine gewisse Zeit einen starken sozialen Abstieg durch Arbeits­lo­sig­keit. Dass sich das zwei­glied­rige Sozi­al­system aus Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung und Sozi­al­hilfe weit­ge­hend durch­setzen konnte, und zwar nicht nur im konser­va­tiven Konti­nen­tal­eu­ropa, sondern auch im angel­säch­si­schen Raum (durch private Versi­che­rungen) und in Skan­di­na­vien (durch gewerk­schaft­liche Zusatz­ver­si­che­rungen), zeigt aber auch, dass der moderne Diskurs des sozialen Risikos die vormo­derne Semantik der selbst­ver­schul­deten Armut weniger ersetzt als ergänzt hat. Es werden auch hier die Arbeits­losen, die in die Kasse einbe­zahlt haben, von den Armen, die nicht einbe­zahlt haben, sepa­riert und in völlig verschie­denen Systemen verwaltet. Trotzdem wurde Arbeits­lo­sig­keit im Zeichen der Voll­be­schäf­ti­gung und bis weit ins 20. Jahr­hun­dert hinein in erster Linie als Risiko des Marktes verstanden, vor dem es die Einzelnen durch Trans­fer­leis­tungen zu schützen galt.

Remo­ra­li­sie­rung der Arbeitslosigkeit

Als Arbeits­lo­sig­keit in den 1980er Jahren zu einer sozialen Dauer­er­schei­nung wurde, geriet dieses kollektiv-solidarische System unter Druck. Während sich die Sozi­al­aus­gaben verteu­erten, setzte eine Suche nach Programmen und Instru­menten ein, um soziale Trans­fer­leis­tungen in Rich­tung indi­vi­du­eller Verant­wort­lich­keit auszu­bauen. Im Laufe der 1990er Jahre avan­cierte die akti­vie­rende Arbeits­markt­po­litik zum Leit­bild einer euro­päi­schen Arbeitsmarkt- und Sozi­al­po­litik, die weniger auf soziale Absi­che­rung als auf indi­vi­dua­li­sierte Steue­rung setzt. In Deutsch­land beispiels­weise beinhalten die im Jahr 2005 abge­schlos­senen Reformen (Hartz IV) eine Kürzung und einen erschwerten Zugang zum Arbeits­lo­sen­geld aus der Sozi­al­ver­si­che­rung und die Abschaf­fung der Arbeits­lo­sen­hilfe als Anschluss­un­ter­stüt­zung. Ein zentrales Element der Reformen ist die Beweis­last­um­kehr: Im Streit­fall müssen nicht mehr die Behörden Versäum­nisse ihrer Klienten nach­weisen, sondern umge­kehrt: die Klienten müssen beweisen, dass sie einer­seits bedürftig und ande­rer­seits bemüht sind, eine Arbeit zu finden. Medial wurden die Reformen begleitet von Porträts über einzelne Arbeits­lose, die selbst­be­wusst verkünden, dass sie wohl arbeiten könnten, aber einfach nicht wollten, und von kleinen Empö­rungs­ge­schichten über zu hohe und unrecht­mässig bezo­gene Leis­tungen. Dass die so einge­lei­tete Neuper­spek­ti­vie­rung von Arbeits­lo­sig­keit Wirkung zeigte, liess sich bald in Meinungs­um­fragen belegen. Um die Jahr­tau­send­wende stieg die Zahl derer, die glaubten, viele Arbeits­lose wollten gar nicht arbeiten, ebenso deut­lich an, wie die Zahl derje­nigen, die glaubten, viele Sozi­al­leis­tungen würden in Anspruch genommen, obwohl sie den Betref­fenden gar nicht zustünden.

Die Reformen hin zur akti­vie­renden Arbeits­markt­po­litik, die in den meisten euro­päi­schen Ländern nicht plötz­lich, sondern eher schlei­chend über viele Jahre einge­führt wurden, unter­scheiden sich in ihrer Deutung von Arbeits­lo­sig­keit stark von der modernen Inter­pre­ta­tion. Sie sehen die Ursache für Arbeits­lo­sig­keit nicht mehr vorrangig in den Dyna­miken des Arbeits­marktes, sondern bei den arbeits­losen Menschen selbst. Insbe­son­dere bei länger andau­ernder Arbeits­lo­sig­keit findet eine starke Proble­ma­ti­sie­rung des Indi­vi­duums statt. Durch Quali­fi­zie­rung, Unter­stüt­zungs­leis­tungen und erzie­he­ri­sche Sank­tionen bei unge­nü­gender Koope­ra­tion sollen „indi­vi­du­elle Hinder­nisse“ zur Arbeits­auf­nahme abge­baut werden. 

Die Rück­kehr der „unwür­digen“ Armen

Die Unter­stel­lung mögli­cher Arbeits­un­wil­lig­keit macht die Vergabe und Inan­spruch­nahme staat­li­cher Leis­tungen zu einer mora­li­schen Frage. Denn mit der Umkehr der Problem­de­fi­ni­tion vom Markt zum Indi­vi­duum geht auch eine Umkehr wohl­fahrts­staat­li­cher Soli­da­rität einher. Die mora­li­sche Pflicht der Soli­dar­ge­mein­schaft, im Risi­ko­fall für den Einzelnen aufzu­kommen, wird in eine mora­li­sche Pflicht des Einzelnen umge­deutet, der Soli­dar­ge­mein­schaft so wenig wie möglich zur Last zu fallen.

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Die mora­li­sche Frage, ob man sich als Empfänger von Arbeits­lo­sen­geld oder Sozi­al­hilfe wirk­lich genü­gend bemüht hat, steht damit immer im Raum. In den Richt­li­nien der Schwei­ze­ri­schen Konfe­renz für Sozi­al­hilfe lautet eines der Grund­prin­zi­pien: „Die hilfe­su­chende Person ist verpflichtet, alles Zumut­bare zu unter­nehmen, um eine Notlage aus eigenen Kräften abzu­wenden oder zu beheben.“ Im Bereich der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung gelten als Scha­dens­min­de­rungs­pflicht ähnliche Bestim­mungen. Welche genauen Arbeiten und Bemü­hungen jedoch zumutbar sind und welche nicht, ist von Fall zu Fall verschieden. Daher kommt den Bera­tern in der Sozi­al­ver­wal­tung eine entschei­dende Rolle zu – denn sie sind es, die darüber entscheiden, was für die entspre­chende Person als ange­messen gilt und was nicht. Liess sich früher anhand formal-rationaler Regeln objektiv über­prüfen, wer welche Berech­ti­gung hat, ist dies heute nicht mehr so einfach der Fall. Die Sozi­al­be­hörden entscheiden mit anderen Worten nicht mehr ohne Ansehen der Person. Die Tatsache, dass die Klienten in der Sozi­al­ver­wal­tung durch koope­ra­tives Verhalten die Gunst ihrer Berater erkaufen müssen, um keine Kürzung ihrer Leis­tungen zu befürchten, führt zu einer Verwal­tung, die sich nicht mehr allein auf eine moderne Ratio­na­lität stützen kann, sondern zuneh­mend auf einem Patron-Klient-Verhältnis gründet. Die mora­li­sie­rende Deutung von Arbeits­lo­sig­keit, die durch die neue Arbeits­markt­po­litik durch­scheint, sieht Arbeits­lo­sig­keit damit wieder, wie gut hundert Jahre zuvor, entweder als Ergebnis eines unglück­li­chen Schick­sals oder eben als selbst verschuldet. Die unwür­digen Armen sind zurückgekehrt.