Am 30. Oktober 1938, 8 Uhr abends, begann die Invasion der Erde durch Ausserirdische. Erschrockene Hörer*innen konnten verfolgen, wie Nachrichtensprecher in Eilmeldungen, die das abendliche Musikprogramm unterbrachen, zunächst von Explosionen auf der Marsoberfläche berichteten, gefolgt von Erdbeben und der Landung eines Objekts, das sich schnell als ausserirdisches Raumschiff herausstellte. Die Folge, so berichteten am nächsten Tag Zeitungen landesweit: eine Massenpanik. Menschen seien aus ihren Häusern geflohen, die Notfalltelefone der Polizei in New York hörten nicht auf zu klingeln, und ein Mann fand seine Ehefrau zu Hause mit Gift in der Hand vor, weil sie „lieber sterben wollte“ als den Ausserirdischen in die Hände zu fallen.

Radioapparat, 1930er Jahre; Quelle: mediathek.at
Die Massenpanik, die nach Orson Welles’ berühmtem Hörspiel „Krieg der Welten“ ausgebrochen sein soll, ist einer der grossen Mythen der Mediengeschichte. Erst in den 1990er Jahren wurde dieser Mythos von Sozialpsychologen hinterfragt. Es stellte sich heraus, dass die Einschaltquote recht gering war, und obwohl einzelne Hörer*innen – die nach der von Welles gelesenen Einführung eingeschaltet hatten – verängstigt bei der Polizei anriefen, war die Massenpanik grossenteils fiktiv. Joseph Campbell zeigte 2010, dass die masslose Übertreibung der Panik wohl den amerikanischen Zeitungen geschuldet war, denen das neue Massenmedium Radio zur ernstzunehmenden Konkurrenz um den lukrativen Anzeigenmarkt erwachsen war. Die New York Times brachte die Kritik auf den Punkt: „Radio is new but it has adult responsibilities. It has not mastered itself or the material it uses. It does many things which the newspapers learned long ago not to do, such as mixing its news and advertising“. Welles hätte die neue Technik unverantwortlich genutzt, indem er Wahrheit und Fiktion unzulässig vermischt habe, hiess es in mehreren Zeitungen – ein angesichts der völlig überzogenen Berichterstattung ironischer Vorwurf, und eine Dynamik, die nicht zufällig an heutige „Fake News“-Debatten gemahnt.
Gefährliche Medien
Der Mythos von der Massenpanik durch das Radio ist nicht das erste und sicher nicht das letzte Mal in der Geschichte moderner Massenmedien, dass der Konsum eines sich neu etablierenden Mediums als gefährlich betrachtet wird, weil Rezipient*innen angeblich mit den neuen technologischen Möglichkeiten und ungewohnten Formen des Medienkonsums überfordert seien. Insbesondere marginalisierte Gruppen wurden dabei immer wieder als gefährdet (und, in der Konsequenz, gefährlich) ausgemacht. Im 18. Jahrhundert waren es Diskussionen um die „Lesesucht“ der Frauen, die Romane zur Unterhaltung statt moralischer Erbauung lasen; bei Einführung des Radios die „Radiotie“, an der Hausfrauen leiden sollten, die zerstreut neben der Hausarbeit Radio hörten. In den 40er Jahren bemerkten Kolonialverwalter, Kino und Radio könnten die Moral kolonialer Rezipient*innen untergraben.

1950er Jahre Horror-Comic; Quelle: idwpublishing.com
Noch später wurden Comics, Videofilme und schliesslich Computerspiele und Handys als potentiell süchtig und gewalttätig machende „Verführer“, nun von Kindern (in einer erwartbaren Doppelung werden besonders die Vorlieben von Mädchen und jungen Frauen als moralisch problematischer und „zerstreuter“ Konsum gesehen), ausgemacht. All diese Diskussionen eint, dass sie stattfinden, wenn ein sich neu etablierendes Medium kulturelle Hegemonien bedroht. Hegemonie, im Sinne Antonio Gramscis, heisst hier „intellektuelle und moralische Führung“, also die Fähigkeit bestimmter sozialer Gruppen, gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Berit Glanz brachte es in einem Artikel über die Trauer um das „klassische“ (d.h. analoge) Lesen kürzlich auf den Punkt: „Medienwandel schmerzt, das ist keine Frage, er schmerzt jedoch vor Allem die Gruppen, die von der Existenz, Dominanz und Statuszuweisung eines langsam verschwindenden Mediums profitiert haben.“
Vor diesem Hintergrund verwundert die Kopflosigkeit der CDU im Umgang mit YouTube kaum. Der YouTuber Rezo, der bis dahin eigentlich eine typische „Influencer“-Karriere mit Musik- und Comedyvideos verfolgt hatte, präsentierte kurz vor der Europawahl seinen ca. 1 Million Abonnierten ein 55 Minuten langes Video namens „Die Zerstörung der CDU“, in dem er Wahlempfehlungen gegen CDU, SPD und AfD ausspricht; die CDU ist dabei Hauptgegenstand seiner Kritik. Er hatte bereits vorher kritische Videos u.a. zur Einführung der EU-Urheberrechtsreform produziert. Die hohe Viewerzahl und die bevorstehende Wahl katapultierten „Die Zerstörung der CDU“ nun aber in die breitere politische und mediale Öffentlichkeit. Die Reaktionen insbesondere aus der CDU reichten von abfällig über skandalisierend bis hin zu verschwörungstheoretisch raunend. Die Ankündigung, Philipp Amthor ein Reaktionsvideo drehen zu lassen, das dann aber zurückgehalten wurde, zeigt die Kopflosigkeit der Parteispitze und ihre Unfähigkeit, mit den längst etablierten Strukturen und medialen Genres der Plattform YouTube angemessen umzugehen. Eine 11-seitige .pdf-Datei, die schliesslich veröffentlicht wurde, wurde denn auch mit Spott und Kritik überzogen. Auch die etwas geschicktere Reaktion von Kevin Kühnert und Lars Wedekind aus den Reihen der SPD, bei einem „Let’s Play“ (immerhin ein auf der Plattform etabliertes Genre) auf die Kritik zu antworten, wurde für schlechte Produktionsqualität und inhaltliche Schwäche kritisiert.
Youtube und «Social Media»
Auch Annegret Kramp-Karrenbauers Forderung, man müsse YouTube stärkeren „Regeln“ unterwerfen, und ihre Aussage, man befinde sich in einer „asymmetrischen“ Wahlkampfsituation, verwundert nicht. Sie missverstand allein schon den Titel des Videos, der nicht „zur Zerstörung der CDU aufruft“, sondern sich in das bereits etablierte Genre der „Zerstörungs“-Videos auf YouTube einreiht, das ausgerechnet ironisch auf die Übertreibungen amerikanischer Mainstreammedien referiert, die seit Jahren in marktschreierischen Überschriften politische Debatten mit Begriffen wie „destroy“, „eviscerate“ und gar „annihilate“ beschreiben. Sich von einer angeblichen linken Hegemonie in den Medien bedroht zu fühlen und darauf mit Eingriffen in die Medienlandschaft antworten zu wollen, hat in der CDU Tradition. Die Bedrohung aber, die YouTube darstellt, speist sich noch aus anderen, älteren Diskursen – über die Gefahr internationaler Medien für die nationalstaatliche Souveränität (ein Residuum des Kalten Kriegs und seiner ubiquitären Propagandasender) zum Beispiel, vor allem aber aus der Angst vor dem „Eigen-Sinn“ (Alf Lüdtke) der Rezipient*innen.

„Seife Einhornscheisse“ aus einem YouTube-Kritik-Video von WALULIS, Quelle: youtube.com
Diese Angst ist so irrational wie begründet. Irrational ist sie, weil sie Rezipient*innen nicht als eigenständige Akteur*innen, sondern nur als passive Empfänger*innen kulturell, politisch oder moralisch „schlechter“ Einflüsse imaginieren kann. Der gegenhegemoniale „Eigen-Sinn“ der Rezipient*innen wird so auf die Medien selbst projiziert, die ihre Nutzer*innen gefährden und sie gleichzeitig gefährlich werden lassen. Kramp-Karrenbauer ist ja bei Weitem nicht die Einzige, die sich um den Einfluss der „Influencer“ auf die Jugend sorgt. YouTube hält zur Zeit viele Schreckgespenster bereit, bis hin zu wortwörtlichen (rein fiktiven) Gespenstern. Auch die Besorgnis vor klarer beobachtbaren Entwicklungen allerdings, wie z.B. die erwiesene, organisierte und vernetzte Propaganda von „alt-right“ und rechtsextremen Medienschaffenden kommt meist ohne systematische Rezeptionsstudien aus. Die aktuelle Studie des Rats für kulturelle Bildung über die Rezeption von YouTube unter Jugendlichen dagegen zeigt, dass sie das Medium selbst und einzelne Videos aktiv nutzen, durchaus kritisch reflektieren und von Schulen erwarten, auf ihr Bedürfnis nach medienpädagogischen Angeboten dazu stärker einzugehen. Selbst die bekannte These von den „Filterblasen“ der sozialen Medien wird von medienwissenschaftlichen Analysen nicht bestätigt bzw. wesentlich verkompliziert.
Der aktive Rezipient
Begründet ist die Angst vor den Rezipient*innen aber, weil die Mediengeschichte zeigt, dass die Rezeption von Medien selten einfach zu kontrollieren ist. Aktive Rezipient*innen beschränken die Macht der kulturellen Hegemonie durch Medien; das betrifft Politiker*innen, die sich in einem bestimmten medialen Umfeld bewegen, vernetzen und dazu beraten lassen genauso wie die eigentlichen Medienproduzent*innen. Medien sind eben keine „ideologischen Staatsapparate“, wie Louis Althusser 1977 sagte, nicht einmal da, wo sie komplett unter staatlicher Kontrolle stehen. Das Internet ist keineswegs das erste Medium, das über (national-)staatliche Grenzen hinweg wirksame (Gegen-)Öffentlichkeiten produziert. Durch die Geschichte der Medien zieht sich die Frustration der Politiker*innen und Produzent*innen, dass ihre Interviews, Texte, Filme, Radiofeatures nicht „richtig“ gelesen, gesehen oder gehört werden. Wie es ein Bericht der britischen Kolonialverwaltung in Sambia einmal ausdrückte: „Listeners were depressingly adept at missing the point.“ Diese Frustration hat sich noch verstärkt, seit es die Demokratisierung der medialen Produktionsmittel marginalisierten Gruppen ermöglicht, über die begrenzten Öffentlichkeiten alternativer Medien hinaus breite gesellschaftliche Diskussionen anzustossen oder zu beeinflussen.
Die einfache Wahrheit, die Stuart Hall 1973 aussprach – dass Rezeption nicht einfach der „Empfang“ von Information ist, sondern eine Interaktion, die selbst wieder auf die Medienproduktion zurückwirkt – ist inzwischen in ihrer erweiterten Form in den Medienwissenschaften verbreitet, aber scheinbar in der öffentlichen Diskussion kaum angekommen.
Emanzipatorisches und autoritäres Potential
Die These von aktiven Rezipient*innen speist sich nicht zufällig aus den antirassistischen Cultural Studies; eine zweite, ebenso wichtige medientheoretische Tradition ist die feministische. Beide mussten gegen eine Medienforschung anschreiben, die in ihrer rechten wie linken Variante massenmediale Kultur nur als Niedergang von einer idealisierten bürgerlichen Öffentlichkeit zu – je nach politischer Ausrichtung – kulturellem Verfall oder massenmanipulierender „Kulturindustrie“ analysierte. Marginalisierte Rezipient*innen wurden in solchen Erzählungen als Teil des Problems ausgemacht – so hiess es in der Weimarer Republik, Frauen würden zerstreut neben ihrer Hausarbeit Radio hören statt, wie die Männer richtigerweise, konzentriert und reflektiv. Wie sich herausstellen sollte, waren Frauen vielmehr Vorreiter einer Praxis des Hörens, die sich mit zunehmender Integration des Radioapparats in den Alltag durchsetzen sollte. Die feministische Medienrezeptionsforschung fragte dementsprechend nach der Bedeutung des Medienkonsums als in den lebensweltlichen Alltag eingebundenes soziales Handeln. Wie die Cultural Studies greifen sie dabei auf die Ideologietheorie von Antonio Gramsci und die medientheoretischen Überlegungen Walter Benjamins zurück, die die Ambivalenz neuer massenmedialer Technologien betonten – das ständige Schillern zwischen ihrem emanzipatorischen und autoritären Potential.
Gegenhegemonie weckt Kontrollphantasien
Mediengeschichte lässt sich also parallel als eine Geschichte der Medienrezeption und des Misstrauens ihr gegenüber schreiben. Rezeption bleibt ambivalent, beinhaltet immer das Potential gegenhegemonialer Praktiken und entzieht sich ultimativ der Kontrolle. Die CDU-Politiker dagegen sind mit ihrer empörten Reaktion nur die Letzten in einer Reihe von Vertretern gesellschaftlicher Hegemonie, die widerständigen Umgang mit Mediennur als irrational, „falsch“ und illegitim wahrnehmen können und mit Kontrollfantasien reagieren. Dass dies ausgerechnet aus einer Partei kommt, die historisch eher die Liberalisierung des Medienmarktes befürwortete, kann nur die überraschen, die vergessen haben, dass die Einführung des dualen Systems in Deutschland Teil von Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ war. Denn Kohl verliess sich auf die eher „rechte“ Ausrichtung der privaten Rundfunksender, die er der eher „linken“ Ausrichtung des ÖR entgegensetzen wollte – ein altes Projekt der CDU seit Adenauer, in dessen Kontext auch die Gründung des ZDF 1961 gehört.

Ergänztes Logo aus einem YouTube-Kritik-Video von Lindsay Ellis; Quelle: youtube.com
Liberalisierung und Kontrolle sind nicht notwendigerweise Gegensätze; der eigentliche Konflikt besteht im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. In diesem Verständnis täten Politiker*innen und „klassische“ Medien gut daran, Rezo nicht als Ausdruck „falschen“ Medienkonsums durch Jugendliche abzutun. Stattdessen gilt es, die Rezipient*innen als aktive Mediennutzer*innen ernstzunehmen. Dazu gehört durchaus auch, zu hinterfragen, welche neuen Hegemonien sich über von monopolistischen Konzernen kontrollierte und nach Marktlogiken organisierte mediale Infrastrukturen tatsächlich bilden können. Sowohl die Cultural Studies als auch feministische Medienforschung wiesen nämlich auch auf die Probleme einer kapitalistisch-patriarchalen Medieninfrastruktur und die Notwendigkeit zum Aufbau alternativer Medien hin.
Egal, ob neue oder alte Medien, Zeitung oder soziales Netzwerk, es bleibt gültig, was der Medienwissenschaftler John Clarke bereits 1990 sagte: Medienproduktion und -rezeption müssen als Beziehung, als „field of cultural power and struggle“, gedacht werden statt als separate Phänomene, um eindimensional „pessimistische“ Thesen vom kulturellen Verfall wie „populistische“ Thesen von der Widerständigkeit populärer Rezeption zu vermeiden.
P.S.: Die beste Kritik an YouTube findet sich auf der Plattform selbst, etwa hier oder hier.