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Die Renais­sance des Idioten. Wie die Meta­phern real werden und der Selbst­sa­bo­teur die Welt­bühne erobert

Etwas ist anders. Die Art und Weise, wie über Politik gespro­chen, befunden und geur­teilt wird, ergibt keinen Sinn mehr. Wenn man heute z.B. Faschisten nicht eindeutig als Faschisten ausma­chen kann und deshalb von „Post­fa­schismus“ oder „Rechts­po­pu­lismus“ spre­chen muss, und wenn diese Rechts­po­pu­listen in manchen Flug­blät­tern fordern, was längst Gesetz ist, dann ist das merk­würdig. Merk­würdig ist auch, wenn linke Akti­visten „Auslän­der­bonzen raus“ an die Wand eines Kreuz­berger Cafes schmieren, um gegen Gentri­fi­zie­rung ein Zeichen zu setzen, oder urbaner Triba­lismus Ressen­ti­ments gegen Touristen schürt, weil das ökolo­gisch bewusste Szene-Bürgertum ihr natür­li­ches Habitat in Gefahr sieht.

 „Niemand außer ein Idiot würde nach einem kleinen Hammer greifen, wenn er einen großen zur Hand hätte.“ … „Nun, und niemand anderer als ein Idiot tat es.“ — Gilbert Keith Ches­terton, Der Hammer Gottes

Merk­würdig ist auch, wenn sich eine junge Dschi­ha­distin frei­willig an die syri­sche Front meldet und dann scho­ckiert ist, mit Krieg und Barbarei konfron­tiert zu werden, oder wenn ein rechter jüdi­scher Blogger mit anti­se­mi­ti­schen Stereo­typen aufwartet, um dem libe­ralen Judentum eines auszu­wi­schen. Auffällig ist, dass poli­ti­sche Posi­tionen nicht nur wider­sprüch­lich, sondern auch will­kür­lich sind, so dass man z.B. am nächsten Morgen googeln muss, um zu verstehen, was man am Abend zuvor gewählt hat. In solch merk­wür­digen Zeiten kann man das christ­liche Abend­land als natio­nale Recht­fer­ti­gung gegen Asyl­un­ter­künfte ins Feld führen, russi­sches Zaren­reich und sowje­ti­schen Stali­nismus versöhnen, ein so anti-westliches wie turbo­ka­pi­ta­lis­ti­sches Kalifat des 18. Jahr­hun­derts gründen oder im vier­rad­ge­trie­benen Sport-Cabrio-Geländewagen den inner­städ­ti­schen Biomarkt ansteuern.

Idio­kratie

Man mag alle diese Fälle als Kurio­si­täten abtun. Für mich offen­bart sich darin eine tiefer gehende Tendenz: die Selbst­sa­bo­tage des poli­ti­schen Denkens, die Herr­schaft der gemeinten Meinung, die keinen Gegen­stand hat oder am laufenden Band Pseudo-Gegenstände produ­ziert: Pseudo-Debatten, Pseudo-Religionen, Pseudo-Staaten, Pseudo-Fakten, Pseudo-Gefühle. Es gibt viele Namen für diese Tendenz. Der Philo­soph Harry G. Frank­furt hat 2004 in einem berühmten Aufsatz das Verschwinden der diskur­siven Ordnung als Bull­shit bezeichnet. Ein Lügner benö­tigt die strikte Unter­schei­dung von wahr und falsch. Ein Bullshit-Akteur hingegen zerstört alle Verbind­lich­keit, glaubt aber am Ende selbst an die intimen Para­meter seiner Argu­mente. Für sich genommen, bedeuten all seine Idio­syn­kra­sien nichts – jeder kann sich zuhause problemlos eine private Quatsch-Ideologie zusam­men­schus­tern. Das Problem ist, dass dieser Quatsch inzwi­schen zum modus operandi des öffent­li­chen Lebens geworden ist, und dass sich in letzter Konse­quenz die darin waltende „Tyrannei der Inti­mität“ (Richard Sennett) auch gegen sich selbst wendet.

Platon schreibt in den Nomoi, dass das Sonder­in­ter­esse „den Staat zerreißt“. Eine Gesell­schaft von Privat­leuten ist unmög­lich, weil es keine Vermitt­lung aller Einzel­in­ter­essen geben kann und der poli­ti­sche Logos nicht die handelnde Vernunft umfasst. Das antike Wort für das Subjekt dieser Unmög­lich­keit war idiotes. Der idiotes bezeich­nete nicht nur die „Privat­person“, sondern vor allem jemanden, der den Unter­schied von privat und öffent­lich sabo­tierte. Der Begriff wurde in der Antike zwar oft funk­tional verwendet, z.B. als poli­ti­scher Gegen­satz zum stra­tegos, als Begriff für einen Prosa­iker im Gegen­satz zum Dichter, als Bezeich­nung für Laien oder zur Kenn­zeich­nung büro­kra­ti­scher Ange­le­gen­heiten (für private Opfer­riten galten beispiels­weise andere Tarife als für öffent­liche). Poli­tisch bedeu­tete idiotes aber eine gesell­schaft­liche Dysfunk­tion. Jedes Mal, wenn man sich in diesen Tagen fragt, warum Wähler gegen ihre eigenen Inter­essen stimmen oder warum Polit-Hasardeure wie Duterte oder Trump an der Macht sind, sollte man sich die antike Perspek­tive verge­gen­wär­tigen: Man kann es nicht jedem Recht machen, wenn jeder schon auf seine Weise Recht hat, aber genau deswegen gerieren sich Polit-Hasardeure immer wieder als histo­ri­sche Erfüller der idio­ti­schen Begierde.

Eine tref­fende Illus­tra­tion hierfür liefert der Film Idio­cracy (2006). Die Zukunfts­ge­sell­schaft besteht hier aus dauer­o­na­nie­renden Wutbür­gern, die einen ehema­ligen Wrestler und Porno­star zum Präsi­denten gewählt haben. Ein Produ­zent von Idio­cracy wurde letztes Jahr nach der poli­ti­schen Vision seines Filmes gefragt. Seine Antwort lautete: Idio­cracy sei der einzige Film in der Geschichte der Mensch­heit, der als Spiel­film beginnt und als Doku­men­tar­film endet. Ein Artikel der New York Times mit dem Titel „Trump and the True Meaning of ‚Idiot‘“ über­trägt die filmi­sche Wirk­lich­keit auf die Kultur­ge­schichte: Ein Idiot verstehe nicht, dass Selbst­er­hal­tungs­trieb und soziale Orga­ni­sa­tion mitein­ander verwoben seien. Deshalb unter­wan­dere er sowohl die Gemein­schaft als auch die Kommu­ni­ka­tion, auf der sie beruhe.

Seit Marx lässt sich die bürger­liche Selbst­sa­bo­tage, für die Trump & Co zugleich als Maskott­chen wie auch als Symptom­träger fungieren, unter dem Begriff Idio­tismus zusammenfassen:

Daß ein Ding seine eigne Ursache schließ­lich zerstören kann, ist nur für den in den hohen Zinsfuß verliebten Wucherer eine logi­sche Absur­dität. Die Größe der Römer war die Ursache ihrer Erobe­rungen, und ihre Erobe­rungen zerstörten ihre Größe. Reichtum ist die Ursache von Luxus, und Luxus wirkt zerstö­rend auf den Reichtum. […] Der Idio­tismus der jetzigen Bürger­welt kann nicht besser gezeichnet werden als durch den Respekt, den die ‚Logik‘ des Millio­närs […] ganz England einflößte. [Marx]

Der „Zins­wu­cherer“ ist der verlän­gerte Arm des bürger­li­chen Unbe­wussten, der Avant­gar­dist des Kapi­tals, der durch sein Tun versteckte Sehn­süchte der Bour­geoisie abbildet. Die Logik des Milli­ar­därs (infla­ti­ons­be­rei­nigt) wendet sich dialek­tisch gegen sich selbst und „produ­ziert vor allem ihren eigenen Toten­gräber“ (Marx). Keyne­sianer über­setzen diese Selbst­sa­bo­tage heute als These von der Inef­fi­zienz der Märkte. Der Ökonom Robert Shiller verweist z.B. in seinem Best­seller Irra­tional Exuberance auf den bizarren Opti­mismus, mit dem sich Markt­teil­nehmer Risiken aussetzen und ihren Unter­gang in Sieger­pose herbeiführen.

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Zeit­ge­nös­si­sche Kari­katur, 1845

Das kapi­ta­lis­ti­sche Unbewusste

Marx’ Einsicht bleibt eminent wichtig, da die modernen Produk­ti­ons­pro­zesse zuneh­mend die Indus­trie­ge­sell­schaften, ihre Massen­kul­turen und deren versteckte Idio­tismen prägen. Diese schon von Flau­bert beklagte und später von Ortega y Gasset unter­suchte „Idiotie der Masse“ äußert sich bis heute in einem grund­sätz­lich inkom­pe­tenten Anspruch auf Kompe­tenz. In deren plane­ta­ri­schen Echo­kammer hallen inzwi­schen Myriaden von Online-Kommentaren wider. Channel 4 and YouGov führten 2016 eine Befra­gung mit 1.700 Briten durch, um zu erfahren, wie viele Nutzer durch so genannte „Fake News“ in die Irre geführt werden. Dafür wurden sie mit verschie­denen Nach­rich­ten­mel­dungen konfron­tiert (z.B. „Tourist bitten by massive croco­dile after trying to take a selfie“, „Immi­grants to be given £8,500 upon arrival to boost economy“ – welche Nach­richt ist wahr, welche falsch?). Nur 4% der Befragten schafften es, alle Meldungen korrekt zuzu­ordnen. 49% waren sich aber sicher, bei allen Beispielen richtig gelegen zu haben.

Die Unfä­hig­keit, seine eigene Unfä­hig­keit zu erkennen, wird in der Psycho­logie manchmal als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet. Diese Selbst­ver­ken­nungen haben aber schon in der kultu­rellen Logik der Post­mo­derne eine gewisse theo­re­ti­sche Fundie­rung erfahren, sie wurden dabei durch eine zuneh­mend libe­ra­li­sierte Ökonomie und die ihr inne­woh­nenden Narzissmen unter­füt­tert. Der Kunst­theo­re­tiker Matthew Poole bezieht sich auf diese Entwick­lung, wenn er vom „Idio­ten­pa­ra­digma“ spricht und damit den neoli­beral gespeisten Unter­gang der poli­ti­schen Urteils­kraft bezeichnet. Damit ist ein „Para­digma der Para­dig­men­lo­sig­keit“ umschrieben, in dem gesell­schaft­liche Leit­un­ter­schei­dungen ihre Bedeu­tung verlieren und jegliche Diffe­ren­zie­rungs­mo­bi­lität sabo­tiert wird. Für Poole heißt das,

dass das kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­system als ein derartig blind machender Komplex, der mit allen Aspekten des Lebens verbunden ist, erscheint, dass wir anschei­nend nicht mehr in der Lage sind, die Bezie­hungen von Ursache und Wirkung zwischen den gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen, ethi­schen oder ökono­mi­schen Akti­vi­täten auf der Welt zu unterscheiden.

Schon der Histo­riker Moishe Postone betonte, dass bei Marx die Kapi­tal­form gesell­schaft­li­cher Verhält­nisse einen „blinden Charakter“ habe und das Kapital die unauf­hör­liche Selbst­ver­meh­rung des Wertes darstelle – als irra­tio­nale Abstrak­tion, die am laufenden Band ratio­nale Sünden­böcke produ­ziere, z.B. nach dem alten Muster: Jude = Kapital (die heutigen Post­fa­schisten à la Steve Bannon spre­chen von „Globa­listen“, wenn sie George Soros bzw. ‚Juden­geld‘ meinen). Es ist daher nicht verwun­der­lich, wenn in der Ära des Idioten auch Flücht­linge zur Ziel­scheibe des kapi­ta­lis­ti­schen Unbe­wussten werden.

Die Reali­sie­rung der Metapher

Den Idiotismus-Begriff finde ich hier auch deshalb tref­fend, weil er den realen Gehalt der polit-ökonomischen Wirk­lich­keit beschreibt: Die Meta­pher des Idioten ist zur poli­ti­schen Realität aller geworden. Diese „Reali­sie­rung der Meta­pher“ ist dabei nicht nur ein lite­ra­ri­sches Stil­mittel wie etwa im russi­schen Forma­lismus, sondern, wie die Schrift­stel­lerin Dubravka Ugrešić in Kultur der Lüge illus­trierte, auch das Symptom einer Krisen- oder Kriegs­se­miotik. Es herrscht ja nicht nur dort Krieg, wo es knallt, sondern schon dort, wo die Meta­phern real werden. Das „Volk“ (ob himm­lisch oder auser­koren) ist dabei wohl die belieb­teste Ur-Metapher, die sich als Terri­to­rium reali­siert oder eben nach Stammtisch-Projekten wie BREXIT oder der Trump-Mauer verlangt, deren Verwirk­li­chung gerade im Gange ist.

Einen aus acht Mauer-Prototypen will Präsi­dent Trump auswählen. © Jorge Duenes/Reuters, Quelle: zeit.de

Der Idiotismus-Begriff ist außerdem deshalb passend, weil das „Tier in Menschen­form“, wie Julien de La Mettrie Idioten einst nannte, die Form des konsu­mis­ti­schen Menschen bestimmt. Man denke an die Bild­sprache in Martin Scor­seses The Wolf of Wall Street, wo Inves­ti­tionen mit Injek­tionen, Geld­ge­schäfte mit Kokain und Wert­pa­piere mit Prosti­tu­ierten verwachsen – als berauschte Wahr­heit des homo econo­micus. „I smell money“ flüs­tert sich Jarred Vennett in Adam McKays Film The Big Short (2015) zu, bevor er eine Invest­ment­firma von seiner CDO-Strategie über­zeugt. Es geht beim Idioten um situa­tive Instinkte, nicht um Dumm­heit. Der Dumm­kopf kriegt nichts mit, der Idiot alles, nur eben auf absurde Weise. Für diesen Eier­tanz des Bewusst­seins hat der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Willem Buiter den Begriff „cogni­tive capture“ geprägt. Diese spie­gelt sich sowohl im Film als auch in dessen Wirk­lich­keit – in der Figur einer staat­li­chen Finanz­re­gu­lie­rungs­be­amtin – wider, die sich in Las Vegas an einem Pool mit einem Broker von Goldman Sachs vergnügt. Das Kapital ist libi­dinös, und die Libido ist idio­tisch, sie schafft sich ihre Gesell­schafts­ord­nung – die Vermäh­lung der Regu­lierer mit den Regu­lierten. Das ist die Idio­ten­ebene der Wirk­lich­keit, die Funk­tion, die das Ich zum Es verkrümmt, und dabei das Über-Ich aus dem Psycho-Orbit wirft. Das ist das Unaus­ge­spro­chene, das Trump ausspricht, wenn er weihe­voll bekennt: „I am a very instinc­tual person“.

Der Idiot ist der fiktive Symptom­träger der gegen­wär­tigen Wirk­lich­keit, und er ist die reale Mani­fes­ta­tion einer auf Fiktionen fußenden Ökonomie. Commis­sioner Dreyfus bemerkt im zweiten Pink-Panther-Film A Shot in the Dark: „Give me ten men like Clou­seau and I could destroy the entire world.“ Aber in Idio­ten­zeiten genügt da womög­lich schon einer.

In einem Artikel des Guar­dian mit dem Titel The five biggest threats to human exis­tence listet der Autor fünf exis­ten­zi­elle Gefahren für die Mensch­heit auf: Nukle­ar­kon­flikte, Bioen­gi­nee­ring, Super­in­tel­li­gence, Nano­tech­no­logie, Unknown Unknowns. Der Idiot aber bleibt uner­wähnt. Es ist an der Zeit, sich dieser zahl­losen Figur näher zu widmen.