Die Chiffre „68“ steht für eine verwirrende Zeit. Zum einen war sie der Anfang unserer Gegenwart, mit Musik, die selbst die Kids von heute noch hören, mit der sogenannten sexuellen Revolution, deren schon x-te Welle durchs Internet rollt, und mit konsumgetriebenem Hedonismus und dem Versprechen ewiger Jugend, die unsere individualisierten Lebensstile antreiben. Es war eine Zeit auch des unerschütterlichen Glaubens an Kreativität und die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch die Veränderung des eigenen Lebens, eine Zeit auch der Liberalisierung der westlichen Gesellschaften.
Doch gleichzeitig war „68“, als „Ho-Ho-Ho-Chi-Min“-Rufe über den Kurfürstendamm und den Boulevard Saint-Michel hallten und Maos „Rotes Büchlein“ im Westen unzählige LeserInnen fand – der letzte (Welt-)Revolutionstraum des Industriezeitalters und das vom Neomarxismus noch ein letztes Mal ideologisierte Ende des Kolonialismus. Revolutionäre Kader, theoretisch hochgebildet, denunzierten den liberalen Staat als kaum noch verhüllten „Faschismus“ und träumten davon, die „proletarischen Massen“ zur Revolution zu führen. Dass diese allerdings schon auf den Farbfernseher sparten, war ein Indikator dafür, dass dieses „68“ schnell scheiterte.
Nur ich
Ein Jahrzehnt später, als Bernward Vespers zwischen 1969 und 1971 geschriebener „Romanessay“ 1977 posthum im Frankfurter März-Verlag erschien, war daher das Erschrecken gross: Wie konnte einer, der zum inneren Kern der linksradikalen Szene gehört hatte, sich so exzessiv und zugleich schonungslos auf die Suche nach seinem eigenen Ich und seiner eigenen Geschichte machen? Welches Bild wurde hier von „68“ gezeichnet…?

Bernward Vesper (1938-1971), ca. 1970; Quelle: Ausgabe letzter Hand
Tatsächlich deklariert Vesper gleich zu Beginn: „Ich interessiere mich ausschließlich für mich und meine Geschichte und meine Möglichkeiten, sie wahrzunehmen.“ Heinrich Böll hatte diese Ich-Suche, Vesper gründlich missverstehend, moralisierend „Egomanie“ genannt. Sollte heissen: Wer sich so mit dem eigenen Ich beschäftigt, hat sich vom Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, verabschiedet. War das nicht verantwortungslos, war das nicht die „totale Verweigerung“ (Böll)? Ging es der revolutionären Linken denn nicht ums Kollektiv, ums Proletariat, um die Menschheit? Zweifellos, und auch Vesper sagt das mehrfach in jenen Passagen, in denen man ihn wie eine tönerne Stimme revolutionärer Kader zu vernehmen glaubt – ein Sprechen wie im marxistischen Schulungskurs, aalglatt und beinhart. Aber für Vesper war die Suche nach dem eigenen, dem ‚wahren‘ Ich genauso „68“ wie der Traum von der Revolution: „Die Bourgeoisie“ heisst es an einer Stelle spöttisch, „kann nie ein Ich entwickeln, weil sie immer in der Küche isst, um das Wohnzimmer für ‚den anderen‘ zu schonen. […] Sie ist völlig unfähig, den Tag als unwiederbringlich zu begreifen, oder nur sentimental, masochistisch“ – mit anderen Worten: „Das ist die Scheiße, in die wir hineingezogen worden sind und wir müssen erst zur totalen Verantwortungslosigkeit zurückfinden, um uns überhaupt zu retten.“ Diese Kritik aber galt auch der Linken: „Die ‚Bewegung‘ vertauscht nur das Ziel, ist aber zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht in der Lage. Sie opfert schlimmstenfalls unsere Generation. Aber es geht jetzt darum, die Freiheit hier zu beginnen, d.h. das Ich zu entwickeln. Das ist alles“.
Das also ist Vespers Programm, und dabei dient ihm das eigene Ich, Gegenstand seiner Recherche, zugleich als Prisma, in dem die Welt sich bricht und in ihren feinsten Spektrallinien und all ihren Spannungen beschreibbar wird, die Welt, in der seine Geschichte sich abspielt. Das macht die literarische Qualität des patchwork-artigen, in der Ausgabe letzter Hand (1979) fast 600-seitigen Textes aus, der längst schon in den Kanon der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts eingegangen ist. Es macht ihn zum Leseerlebnis. Für Vesper allerdings war es ein Höllenritt:
(Wozu die ganze Papierverschwendung, far out notes of the inner space oder ‚politischer Essay‘ [halb Revolutionär und halb Hippie] oder für manche eine unerträgliche Mischung aus beiden? Ich könnte natürlich behaupten, ich liefere nur eine kleinbürgerliche Psyche an den Seziertisch, aber die Wahrheit ist viel fataler: Einmal liefere ich und das andere Mal werd’ ich geliefert.)
Es ist nicht zu übersehen: Die Spannung zwischen der Ich- und Glückssuche hier und jetzt und der Sehnsucht nach der Revolution als kollektiver Befreiung war es, was nicht nur „68“ so verwirrend machte, sondern auch den ganzen Text dieses Romans durchzieht, ja seinen Autor in unlösbare innere Verwerfungen und Brüche treibt. Vesper beschreibt sie klarsichtig. Das Buch, dessen Schreiben selbst auch immer wieder Thema ist, soll ihm helfen, all diese Widersprüche zusammenzuhalten. Es gelingt ihm nicht; er erleidet Anfang 1971 in München einen psychotischen Schub und nimmt sich am 15. Mai 1971 in der Psychiatrischen Klinik Hamburg-Eppendorf das Leben.
Trips
Vordergründig, aber nur sehr oberflächlich, geht es in der Reise – die Vesper anfänglich „TRIP“ nennen wollte, dann auch mal einfach „Hass“ – um mehrere Reisen: Von Dubrovnik (man erfährt nicht warum) nach München, wo er in der WG von Rainer Langhans allen auf die Nerven geht, später nach Zürich, wo er Drogen kauft, mit Dealern verhandelt, am See auf dem Trip ist, und wo Teile des Textes geschrieben wurden. Von dort reist er mit einem Schweizer über den Grossen Sankt Bernhard nach Italien, zu Genossen von Potere Operaia und Lotta Continua, die ihm von den Kämpfen des Proletariats erzählen.

Eines der seltenen Fotos von Bernward Vesper, um 1969; Quelle: dreimaskenverlag.de
Immer wieder beschreibt er, in langen kursivierten Passagen, die LSD-Trips, die diese Reisen begleiten, in allen Farben und Verzerrungen, allen paranoiden Schüben und euphorischen Wellen des Glücks, die seine manchmal feingliedrige, manchmal grob arrogante, schnoddrige Sprache zu fassen vermag. Einmal fährt er mit seinem lottrigen Auto nachts durch Süddeutschland, einsam und auf LSD, in der Hoffnung, seinen Sohn Felix („meine kleine Sonne“ und der „einzige Leser dieses Textes“) besuchen zu können. Dessen Mutter Gudrun Ensslin, Vespers ehemalige Verlobte, hatte kurz vor der Gründung der RAF durchgesetzt, Felix seinem Vater wegzunehmen und zu einer bürgerlichen Pflegefamilie auf der Schwäbischen Alp zu geben.
Und schliesslich trifft Vesper auf diesen Reisen auch viele Frauen, mit denen er – oder die er – „fickt“. Das ist das einzige Wort, das ihm dafür zur Verfügung steht. Es ist kalt und schäbig, und die Frauen, die er trifft, bleiben schemenhaft, ihre Existenz nur angedeutet. Der Sex mit ihnen ist zwar allgegenwärtig, aber er ist kein explizites Thema. Er ist nicht mehr als eine kurze Entspannung. Auch das war „68“.
Vater und Sohn
Im Zentrum der Geschichte aber, die auch ein Bildungsroman, die Schilderung eines coming of age ist, steht Bernward als Sohn: als Sohn des von Hitler geschätzten und empfangenen Heimat- und Vaterlanddichters Will Vesper, Leiter des NS-„Schrifttumskammer“, der auf dem herrschaftlichen Gut Triangel in der Nähe von Gifhorn am Südrand der Lüneburger Heide als unerbittlicher Patriarch residiert. Vesper nennt diese Teile des Buches, die, meist mehrere Seiten lang, immer wieder neu einsetzend, den Text wie ein roter Faden durchziehen und bis zum Schluss immer ausführlicher werden, jeweils „Einfacher Bericht“.
Er berichtet davon, wie er, als 1938 Geborener, die letzten Monate und Wochen des Krieges erlebt, als er die Bombergeschwader hört, Höfe in der Umgebung brennen und zuerst amerikanische Soldaten, dann Flüchtlinge im weitläufigen Herrenhaus einquartiert werden. Er berichtet, wie der Vater sich weigert, sich entnazifizieren zu lassen, wie er in langen Tiraden „den Juden“ die Schuld am Krieg gibt und den „Verrätern“ in den eigenen Reihen die Schuld an der Niederlage, wie er gegen Amerika hetzt und gegen die Industrie, die das deutsche Handwerk und den Bauernstand bedrohten. Man liest es einigermassen atemlos, weil man fast meinen möchte, dass hier tatsächlich der Vater selbst spricht – der Sohn jedenfalls kann dessen Stimme noch Jahre später glaubhaft wiederaufleben lassen. Ebenfalls beklemmend sind die „Berichte“ über das Schlachten der Schweine, ihre „entsetzlichen Schreie“, über die Ordnung zu Tisch und den unerbittlichen Zwang, den morgendlichen Haferbrei zu essen – oder auch, unausweichlich, Vespers Entdeckung der Sexualität, die ihn dazu bringt, im Badezimmer auf den Knien liegend Gott anzuflehen, ihn vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Luther, auch von Vesper in Erinnerung gerufen, und die ganze Tradition eines rigiden Protestantismus sind in diesem Herrenhaus alles andere als fern.
Im Vexierbild seiner eigenen Biografie erscheint Vesper daher als einzige Ursache für alles Unglück jene gerade Linie, die angeblich ‚von Luther zu Hitler‘ führte. Für ihn stand fest – weil seine Geschichte als Sohn dies zu beglaubigen schien –, dass der deutsche Faschismus seine Basis in einem seit Luther autoritäts- und obrigkeitsgläubigen Bürgertum gefunden hatte, das im Kaiserreich auf die Demokratie verzichtet, seinen Frieden mit dem „Feudalismus“ gemacht und sich auf Herrensitze auf dem Land zurückgezogen hatte, um dann die Nazis zu beauftragen, für die Sicherung seiner Interessen zu sorgen. Auf diese Weise, monokausal und radikal einseitig, bedient er zwei Narrative, die in Wahrheit nicht seiner schriftstellerischen Introspektion entsprangen, sondern geradezu die konstitutiven Erklärungsmuster deutscher 68er waren: Es waren die Naziväter, die dieser Nachkriegsgeneration durch die „faschistische“ Erziehung alles genommen haben, was die Freiheit, Kreativität und Lebensfreude eines Menschen begründen könnte – und es war der Kapitalismus oder „Imperialismus“, der schon dem „Imperialismus“ Hitlers als einziger Triebkraft zugrunde lag und der jetzt vom siegreichen amerikanischen Monopolkapital und seinen Statthaltern in der BRD repräsentiert werde. Diesem „System“ galt Vespers ganzer Hass, diesem Kapitalismus, der auch schon wieder die deutsche Gegenwart in einen „Faschismus“ zurückverwandelt habe.
Links und rechts

Will Vesper mit seinem Sohn Bernward, 1957; Quelle: studiengruppe.blogspot.com
Warum das alles dennoch nicht platt und öde wirkt, als Politrhapsodien trocken wie altes Mehl, liegt, abgesehen von der grossen Sprachkunst Vespers, zum einen daran, dass er immer wieder Gegenstimmen auftreten lässt, die seine Gewissheiten in Frage stellen. Oder genauer noch: Weil er als schreibendes Ich seine Brüchigkeit, seine Verletztheit, ja Krankheit nicht verbergen kann, offensichtlich aber auch nicht will. Unheimlicher jedoch ist ein anderer Grund. Es ist zwar weder überraschend noch illegitim, dass Vesper darauf hofft, dass der Vater ihn liebt, und dass er selbst vom Begehren getrieben wird, vom Vater anerkannt, ja geliebt zu werden. Aber es ist in der geschilderten politischen Konstellation dennoch überaus vertrackt. In den Notizen, die der Ausgabe letzter Hand als rund achtzigseitiger Anhang beigegeben sind, findet sich unter der kursivierten Überschrift „wandlung des vaterbildes“ der Satz: „ich konnte nicht verstehen, wie die lost generation“ – das ist seine eigene – „ihre väter hassen konnte“. Und unter „tod des vaters“ ist zu lesen: „der tod“ – des Vaters – „war etwas endgültiges. die erwartungen, die ich unbewusst in den vater gesetzt hatte, würden sich nie mehr erfüllen. Er war als versager gestorben (herausgabe der bücher – vielleicht ließ sich so sein image aufpolieren)“.
Tatsächlich hatten Gudrun Ensslin und er Anfang der 1960er Jahre versucht, die Schriften des Vaters neu zu publizieren. Daraus wurde nichts, aber es spricht Bände. Wer die Reise heute liest, hört einerseits in der Stimme des Vaters, in dessen Beschwören der Einheit und „Ewigkeit“ Deutschlands, das ferne Echo von Diskursen, die heute wieder durch die Medien geistern. Aber man hört auch den, wie soll ich sagen, Zusammenklang dieser gegen das amerikanische „Kapital“ und die „Siegermächte“ gerichteten nationalistischen Tiraden mit der linksradikalen Kritik am amerikanischen Imperialismus, den Zusammenklang der Kritik an dessen Zerstörung von Kreativität und Natur, an dessen kalten Städten und entseelter Kultur. Um es einfach zu sagen: Vater und Sohn Vesper waren radikal anderer Meinung, was Hitler und den Nationalsozialismus betraf. Aber sie stimmten überein in ihrem Hass auf die USA. Vespers Buch ist daher auch ein Dokument aus der heissen Entstehungsgeschichte der sogenannten Querfront, der dunklen Verbindungslinie von rechtem und linkem Nationalismus, von linkem und rechtem Amerikahass, auch von linker und rechter Feindschaft gegenüber liberalen Gesellschaften. Man liest es streckweise atemlos – weil es so gut geschrieben, aber auch, weil es so bedrückend ist. Vesper kommt einem dabei (fast zu) nahe – „68“ aber rückt weit weg.
Bernward Vesper: Die Reise. Reinbek bei Hamburg: rororo, 1. Taschenbuchausgabe 1983