
Auch im Zeitalter der Globalisierung bleiben Institutionen lokal verankert. So erwartet niemand vom Vorstand des FC Bayern München, dass er sich für den Erfolg und die Interessen des Pariser Vereins Saint Germain einsetzt. Auch bei sehr großen Institutionen – sagen wir der NATO oder der Afrikanischen Union – wird kein Hehl daraus gemacht, dass lokalisierbare Gemeinschaften im Mittelpunkt stehen. Und niemand wird verkennen, dass es sich hier ebenfalls um Interessenvertretungen handelt. Bei anderen Institutionen ist es hingegen weniger ersichtlich, und zwar vor allem bei Institutionen, die den Anspruch erheben, im Namen der gesamten Menschheit unparteiisch zu agieren – der internationale Mathematikerkongress, Ärzte Ohne Grenzen, das Unicef-Kinderhilfswerk… Ich nenne sie schwerelose Institutionen; Institutionen, die gerne den Eindruck erwecken, mühelos über der Welt zu schweben. Sie kennen keine Grenzen, ziehen keine spezifische Gemeinschaft vor, handeln im Namen universalistischer Zwecke. Doch auch diese Institutionen sind ortsgebunden, wie ein kritischer Blick auf ihre Geschichte zeigt.
Wie steht es mit dem Universalismusanspruch? Soll er einfach beim Wort genommen werden, oder, noch bedenklicher, eher gerade nicht ernst genommen, sondern als bloßer Vorwand verstanden werden, um eventuelle unehrliche Interessen und politische Verschwörungen zu verstecken? Wenn wir die Spezifizität dieser Institutionen derart verkennen, sind wir weder in der Lage, sie zu ändern, noch können wir sie in kritischen Momenten verteidigen.
Universell und lokal zugleich
Die historische und sozialwissenschaftliche Forschung interessiert sich zunehmend für schwerlose Institutionen (Beispiele gibt es etwa hier, hier oder hier). Sie kann sich auf die Werkzeuge der neueren Wissenschaftsgeschichte stützen. Denn dieser gelingt es, den Universalitätsanspruch der Wissenschaft ernst zu nehmen, ohne dabei das Lokalisierbare – das Laboratorium, den Kongress oder die Zeitschrift – aus dem Blick zu verlieren. Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston spricht in diesem Sinne einerseits von einer „Sicht aus dem Nirgendwo“; sie zeigt, wie im Zuge der Entstehung der modernen Naturwissenschaften ein „aperspektivischer Blick“ entwickelt wurde, der zur Legitimierung wissenschaftlicher Aussagen als universell gültig beigetragen hat. Dabei spielen andererseits jedoch spezifische Orte wie das Laboratorium, die als getrennt vom Rest der Welt erscheinen, eine zentrale Rolle. Denn in das wissenschaftliche Laboratorium dürfen nur selektierte Elemente aus der Außenwelt hineingebracht werden; in einem solch künstlichen Umfeld können diese Elemente dann sortiert, analysiert und studiert werden. Ein Laboratorium ist mithin ein Ort, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Gesetze der realen Welt gewissermaßen aussetzen können – etwa die Schwerkraft für einen Moment aufheben, oder Stoffe mischen, die in der Natur nicht an denselben Orten auftauchen. Voraussetzung für wissenschaftliche Aussagen, die einen universalistischen Anspruch haben, ist somit die Verknüpfung des aperspektivischen Blicks mit dem geschützten Ort des Laboratoriums.
Dieses hier kurz angedeutete analytische Instrumentarium der Wissenschaftsgeschichte kann nun auf andere schwerelose Institutionen angewendet werden: Institutionen, die Politik aus dem Nirgendwo betreiben. Humanitäre Organisationen sind ein gutes Beispiel dafür. Umfragen zufolge handelt es sich bei Humanitären Organisationen immer wieder um die beliebtesten Institutionen überhaupt. Sie werden von Promis beworben, mit Friedensnobelpreisen belohnt und von der Öffentlichkeit gefeiert. Jedes Jahr wachsen ihre Finanzmittel. Humanitäre Organisationen erheben den Anspruch, unparteiisch zu agieren und jenseits von lokalen Interessen, kulturellen Merkmalen oder politischen Überzeugungen zu helfen. In ihrem Verhaltenskodex wird auf Menschlichkeit und Neutralität gepocht (so dient der Code of Conduct for the International Red Cross and Red Crescent Movement and NGOs in Disaster Relief etwa 600 Organisationen als ethische Grundlage).
Humanitäre Organisationen wollen überall agieren dürfen, ohne von lokalen Gemeinschaften gewählt worden zu sein. Sie wollen bestimmen, wer was bekommt, ohne parteiisch zu sein. Sie wollen über Leben und Tod entscheiden, ohne politisch zu sein. Sie meinen – manchmal sehr bildlich, wie hier auf diesem Schaubild aus der humanitären Initiative der Universität Harvard – von einem Außerhalb-der-Welt zu intervenieren.
Selbstverständlich wird die Unparteilichkeit der humanitären Organisationen ab und zu in Frage gestellt; ihnen wird zunehmend vorgeworfen, dass sie doch Partei ergreifen – zum Beispiel zu Gunsten der Industrienationen, der USA oder des Westens. Die BBC, die New York Times und der Guardian informieren regelmäßig über Missstände in der humanitären Hilfe. Mittlerweile hat sich eine eigenständige Fachpresse etabliert, die auf die politischen Fallstricke der humanitären Hilfe hinweist. Humanitäre Organisationen sind dieser Kritik gegenüber hilflos. Sie erwidern, dass sie ihren Prinzipien treu bleiben, und – man möge ihnen bitte glauben –, im Namen der Menschheit agieren. Doch ihre Kritiker haben dann ein leichtes Spiel, auf ihre Ortsgebundenheit hinzuweisen. Denn es ist offensichtlich, dass viele humanitäre Organisationen ihren Sitz in westlichen Ländern haben und ihre Gelder von einigen reichen Spendern erhalten. Wer heute verkennt, dass auch Universalität historisch (sprich: lokal) konstruiert wurde, steht jeglicher Kritik völlig unbewaffnet gegenüber.
Geschichte der Unparteilichkeit
Die Selbsterzählung der humanitären Hilfe begann 1863 mit der Gründung des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) (früher eigentlich Ständiges Internationales Komitee). Seine – damals noch nicht ‚humanitär‘ genannte – Hilfe wurde in der Sprache des Nationalstaates begründet. Die Gründer des Roten Kreuzes erhoben den Anspruch, Menschen jenseits von Staatsangehörigkeit und Nationalität zu helfen; Unparteilichkeit war mithin zunächst eine Gegenkategorie – eine Ablehnung der reinen nationalen Solidarität. Im ersten Genfer Abkommen heißt es: „Verwundete und kranke Soldaten werden aufgenommen und gepflegt, gleich welcher Nation sie angehören“.
Diese Haltung des IKRK wird auf die politische Neutralität der Schweiz zurückgeführt: Die Schweiz beteiligt sich nicht an Kriegen zwischen europäischen Nationen; das IKRK ist eine Schweizer Institution, ergo: das IKRK ist neutral. Dabei wurden in den ersten Dekaden des Bestehens des IKRK nicht nur „Unparteilichkeit“ und „Neutralität“ als ethische Grundsätze hervorgehoben, sondern auch „Patriotismus“ und „Gehorsamkeit“ (d.h. die Unterordnung der Hilfskomitees gegenüber dem Militär). Und zudem war auch der Anspruch der humanitären Ethik des IKRK nicht kontextlos. Er war vielmehr inspiriert von der Militärmedizin und zielte darauf, verwundeten Soldaten beizustehen. Es war, mit anderen Worten, ein Blick gleichsam aus dem Schlachtfeld heraus, das heißt ein Blick aus der Nähe, ein Blick, der das Leid auf den Gesichtern der gefallenen Soldaten sichtbar und ihren Schmerz unmittelbar spürbar machen sollte.
Im Zweiten Weltkrieg zerbrach diese Ethik – das Schlachtfeld war zu groß geworden. Nach dem Krieg beschuldigte die UdSSR das internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Verbrechen der Nazis nicht angeprangert zu haben. Im frühen Kalten Krieg warf China dem IKRK vor, Taiwan zu bevorzugen; die DDR kritisierte sein Schweigen gegenüber den Verbrechen des Kolonialismus in Afrika. Angesichts solcher Kritik hatte das Internationale Komitee Mühe, sich weiterhin als Hüterin humanitärer Grundsätze zu behaupten und lief damit Gefahr, sein Alleinstellungsmerkmal zu verlieren.
Doch 1955 kam Jean Pictet zum Zug. Der Schweizer Jurist erneuerte die Doktrin des Roten Kreuzes. Er legte sieben Grundsätze fest: Menschlichkeit, Gleichheit, Verhältnismäßigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Universalität. Er aktualisierte mithin alte Werte, um die Sonderposition des Internationalen Komitees zu rechtfertigen. Er begründete diese Sicht aus dem Nirgendwo, indem er die „Verhältnismäßigkeit der Hilfe“ erfand: „Die verfügbare Hilfe wird nach der relativen Bedeutung der individuellen Bedürfnisse und nach ihrer Dringlichkeit verteilt“, schrieb er 1956. Humanitäre Organisationen seien befugt, so Pictet, Unterschiede zwischen Menschen zu machen und ihre Hilfe zu priorisieren, denn es gebe Menschen, die dringender auf Hilfe angewiesen sind als andere. Das sei allerdings eine besondere Form der Priorisierung: Nationalstaaten, so Pictet, würden vorrangig nationalen Staatsangehörigen helfen; religiöse Gemeinschaften vorrangig ihren „Glaubensbrüdern“, Berufsgemeinschaften „Kollegen desselben Berufs“ und politische Parteien ihren „Sympathisanten“. Jede Organisation stelle also eine Gruppe von Menschen vor die anderen; selbst die nationalen Rotkreuzgesellschaften helfen in erster Linie „den Menschen ihrer Nationalität“, erklärte Pictet. Humanitäre Solidarität hingegen sei diejenige, die sich an Fremde wende und nach Bedürftigkeit priorisiere. Und weil die Institution, für die Pictet arbeitete – das Internationale Komitee des Roten Kreuzes – „ungebunden“ sei, sei es seiner Ansicht nach wirklich in der Lage, „eine Hilfe zu leisten, die nur nach dem Ausmaß der Not bemessen wird“.
Universell, unparteiisch, standardisiert
Pictets Grundsatz der Unparteilichkeit ist von allen großen Hilfsorganisationen übernommen worden. Doch nicht nur ethische Grundsätze begründen die humanitäre Politik aus dem Nirgendwo. Auch die Personalpolitik der humanitären Organisationen wird von der Idee geprägt, dass sie nirgendwo wirklich hingehören und darum überall unparteiisch sind. In dieser Tradition versteht sich etwa die 1971 in Paris gegründete Organisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF). Bei MSF dürfen Fahrer:innen, Wächter:innen und Krankenpfleger:innen vor Ort rekrutiert werden – genauso Ärzt:innen, Logistiker:innen und Jurist:innen. Doch dieser „national staff“ darf kein Hilfsprojekt leiten. In Entscheidungsinstanzen sitzt der „international staff“ – mit der Begründung, dass dieser eben nicht an lokale Interessen gebunden ist. Wer vor Ort keinen Bruder, keine Cousine und keine Familie hat, ist weniger erpressbar, und den Expats wird in Konfliktfällen weniger vorgeworfen, Partei zu ergreifen. Die offizielle Doktrin von MSF besagt jedoch nicht, dass die Expats fleißiger, schlauer oder besser gebildet sind als ihre lokalen Gegenparts. Die Expats haben nicht etwas „mehr“ – sie haben etwas weniger. Ihnen fehlt die gesellschaftliche Verwurzelung. Und just diese Position der Externalität gibt ihnen einen Anspruch auf Verantwortung.
Wo die Externalität des Personals nicht ausreicht, setzten humanitäre Organisationen auf die Externalität der Dinge. Humanitäre Organisationen stehen auf Gadgets wie IKEA-Container für Flüchtlinge, einheitliche UNHCR-Zelte, standardisierte Pharmakits, Armbänder zur Ermessung der Unterernährung oder das Nahrungspräparat PlumpyNut™. Diese globalen Dinge werden auf Messen und internationalen Kongressen gerne zur Schau gestellt. Schon bei der Weltausstellung in Paris 1867 stellte das Rote Kreuz die materiellen Beweise der humanitären Ingeniösität aus – damals Bandagen, stoßdämpfende Wagen und Tragen. Höhepunkt des World Humanitarian Summit von 2016 in Istanbul war die Trade Fair, bei der Unternehmen und humanitäre Organisationen über Technologie und Innovation referieren konnten. Die technische Reproduzierbarkeit der humanitären Güter fungiert als Garantie für deren universale Geltung. Aus industrieller Uniformität wird auf universelle Bedürfnisse zurückgeschlossen.
Seit den 1990er Jahren hat die humanitäre Gemeinschaft auf Standardisierung gesetzt. Nachdem internationale Hilfsorganisationen sich in Goma 1994 blamiert hatten – in den Flüchtlingskamps in Zaire waren 12.000 Menschen, die vor dem Genozid in Ruanda geflohen waren, bei einem Cholera-Ausbruch gestorben –, versuchten sie eine neue Legitimität aus universellen Standards zu gewinnen. Wieder traf man sich in Genf, um nach dem Vorbild der Internationalen ISO-Normen für Güter und Dienstleistungen die Leistungen der humanitären Organisationen zu kodifizieren. Die sogenannten „Sphere Standards“ sollten immer und überall gelten. Auf dem Logo war die Erdkugel zu sehen – der Name war Programm: Eine Sphäre, die zum Ausdruck bringen sollte, dass die Normen der Hilfsorganisationen für alle gelten sollen, im Außerhalb der Welt. Universale Bedürfnisse ließen auf einen universalen Auftrag schließen, diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Wer Leben rettet, agiert allerdings politisch. Entscheidungen über Leben und Tod zu fällen, Ressourcen zu verteilen und Flüchtlingsströme zu lenken, das sind politische Entscheidungen, die nicht durch Standardisierungen umgangen werden können, oder durch einen Verweis auf standortungebundene Universalität. Ob man diese Hilfs-Politik auf Grundlage einer Position der Externalität konzipieren darf und sollte, kann debattiert werden. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass auch Externalität ein besonderer Standpunkt ist, der erklärungs- und begründungsbedürftig ist. Wer in der Vielfalt von schwerelosen Institutionen diejenigen Praktiken identifizieren will, die tatsächlich emanzipatorisch wirksam sind, muss sich für ihre spezifische Art der Geschichtlichkeit interessieren.
Doch bei aller Kritik an humanitären Organisationen muss man festhalten: Kein Leben retten ist auch politisch. Gleichgültigkeit ist auch eine politische Haltung.