Die vom Coronavirus ausgelöste Pandemie hat uns mit einer neuen Intensität die Vernetzung der Welt vor Augen geführt. Das Virus verbreitete sich besonders rasch in Regionen, die in engen Austauschprozessen mit anderen Teilen der Welt stehen. Zugleich ließ es keine Weltregion unberührt. Erstaunlich wirkt im Rückblick, wie unwahrscheinlich seine Ausbreitung in Europa noch Anfang März erschien.
Seit Mitte März aber ist der globale Charakter der Krise ganz in das Zentrum der Medienöffentlichkeit gerückt – und das unterscheidet sie von der aktuell vielzitierten Spanischen Grippe: War jene von begrenzter Berichterstattung geprägt, deren Blick lokal, national oder auf bestimmte Regionen gerichtet war, verändert seit dem Frühjahr 2020 die stündliche Aktualisierung von Fallzahlen aus aller Welt Raum- und Zeitwahrnehmungen.

Die Corona-Datenseite der Johns Hopkins University; Quelle: inquirer.com
Die Ikonographie der Pandemie ist jene der wachsenden roten Punkte auf Weltkarten; sie suggeriert eine Welt der Echtzeitzirkulation von Wissen ohne Begrenzungen. Gerade in der Frühphase hob die überraschend einheitliche Visualisierung nicht den individuellen Kranken, sondern die Globalität und, in animierter Form, die Dynamik des Phänomens hervor. Landkarten der ökonomischen Verflechtung der Welt wurden zu Landkarten der Infektionswege. Nicht zuletzt offenbart die Pandemie auch jenseits der medialen Ebene die enge wirtschaftliche Vernetzung der Welt mit neuer Deutlichkeit – nicht nur durch den Verlauf des Ausbruchs, sondern auch in der Unmittelbarkeit, mit der die Unterbrechung von Lieferketten für Konsumenten spürbar wird.
Eine globale „imagined community“?
Ersetzt demnach eine globale imagined community im Zeitalter der digitalen Kommunikation national gedachte Gemeinschaften? Kaum. In Europa haben wir die Wucht des Nationalen lange nicht so stark gespürt wie in den ersten Wochen der Corona-Krise. Der Export von Medizingütern wurde verboten. Es wurden nicht Regionen ohne Infektionsgeschehen von solchen mit Infizierten abgeriegelt, sondern nationale Grenzen geschlossen. An der Grenze zwischen der Bundesrepublik und Luxembourg patrouillierten Soldaten mit geschulterten Gewehren. Als die Fallzahlen im Elsass bereits explodierten und Krankenhäuser überfüllt waren, standen Intensivbetten im benachbarten Südbaden leer. Elsässer wurden per Hubschrauber in andere französische Regionen transportiert, und erst nach mühsamen Verhandlungen konnten einzelne in Deutschland behandelt werden. Die Aufnahme weniger Patienten aus Italien wurde als Medienereignis europäischer Solidarität inszeniert, von Außenministern twitternd begleitet. Die Zahlen aber blieben gering, die Solidarität eher symbolisch als praxiswirksam.
In der Berichterstattung blühten nationale Stereotype mit lange nicht gekannter Hemmungslosigkeit. Bemüht wurden die feierlustigen Italiener, der Rundfunk Berlin-Brandenburg berichtete über Schweden, die generell fast nie einen Freund fänden, und daher zum Social Distancing prädestiniert seien. Vielfach zitiert wurden die vermeintlich autoritären Deutschen: Um ihre Compliance mit Richtlinien zu erklären (typisch gehorchende Deutsche) oder ihre Nicht-Compliance mit Empfehlungen (da die Deutschen nur Gesetzen gehorchen). Zugleich kursierte in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen die alte, antisemitisch konnotierte Figur der internationalen Weltverschwörung.

Italienischer Soldat an der Grenze zu Frankreich, April 2020; Quelle: lalsace.fr
Wie erklären wir die Gleichzeitigkeit einer einerseits ungekannten Globalität der Situation und einer andererseits überraschenden Wucht der Nation und des Nationalen? Grenzschließungen lassen sich in der Unübersichtlichkeit und Dynamik der Krise als Versuche verstehen, ein Gefühl der Übersichtlichkeit und Handhabbarkeit zu erzeugen. Nationale Stereotype in der Berichterstattung lassen sich lesen als Ausdruck des Bedürfnisses, Ordnung, Muster und Aspekte der Kontinuität in ungeordneten, unvorhergesehenen und neuen Situationen zu entdecken. Solche psychologischen Erklärungen des Rückzugs auf das Nahe, Bekannte, Übersichtliche in Zeiten der Unübersichtlichkeit, des Unbekannten, der bedrohlich wahrgenommenen Grenzenlosigkeit eines Geschehens liegen nahe. Sie erklären manches, und doch dürfen sie nicht genügen. Denn der Verweis auf Emotionen und Psyche suggeriert Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit. Er vernachlässigt die Komplexität der verschiedenen Ebenen des Geschehens, die Bedeutung von Institutionen und Strukturen; er verdeckt Entscheidungsspielräume.
Ein uneingelöstes Potenzial
Auf solche Komplexität, auf die Bedeutung von Entscheidungen, Strukturen, Imaginationen und Handlungsspielräumen hinzuweisen, wäre eine Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung. Sie sollte erklären können, welche Rolle verschiedene Räume (nationale, sub- und transnationale) in der global vernetzten Gegenwart einnehmen, wie sich ihre Beziehung verändert, sie miteinander interagieren und verschiedene Wahrnehmungs- und Handlungsebenen prägen. Allerdings haben Historikerinnen und Historiker, die sich mit der jüngsten Vergangenheit befassen, zu diesen Fragen bisher eher wenig zu sagen. Während die Historiographie zum 19. Jahrhundert in einem langen Diskussionsprozess die jeweilige Bedeutung von Nationalstaaten, Imperien und ihrer hybriden Mischverhältnisse herausgearbeitet, intensiv über Nationalisierung im Zeitalter der ersten Globalisierung diskutiert und über die Verflechtung von Metropolen und Imperien nachgedacht hat, fehlt ein vergleichbar intensiver Diskussionsprozess über die Charakteristika und Konsequenzen des Raumwandels und der verschiedenen Raumbeziehungen in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte.
Wo sie sich für Raumwandel interessiert, spricht sie bisher primär von Prozessen der ‚Transnationalisierung‘, verstanden als – meist positiv konnotierte – wachsende Verflechtung, als Zunahme grenzübergreifender Kontakte und Vernetzungen. Nationalen Grenzen wird dabei entweder ein Bedeutungsverlust unterstellt, oder es wird auf eine Parallelität zunehmender Verflechtung und zugleich fortbestehender Bedeutung der Nationalstaaten hingewiesen. Empirische Untersuchungen dazu aber sind Mangelware. Ein großer Teil der Zeitgeschichtsforschung definiert seine Untersuchungsräume weiterhin innerhalb nationaler Grenzen und kann damit keine Aussagen zur Interaktion sub-nationaler, nationaler und transnationaler Räume machen.
Das Aufeinander-Bezogen-Sein von Globalität und Partikularität ist zum common sense geworden und wurde nicht zuletzt in der Soziologie vielfach debattiert. Populismus gilt auch als Antwort auf Orientierungsbedürfnisse, die durch Globalisierungsprozesse entstehen. Es könnte aber gerade die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, jenseits solch großflächiger Erklärungsmuster und dem zutreffenden, aber in seiner Aussagekraft begrenzten Verweis auf das Ineinandergreifen von Globalität und Partikularität nach verschiedenen Ebenen der zu beobachtenden Prozesse zu fragen.
Globales Wissen, nationales Handeln?
Auf die Gegenwart angewendet: Global ist in der aktuellen Krise die Ebene der Wissenszirkulation. Mediales Krisenwissen zirkuliert ebenso grenzübergreifend wie medizinisches Fachwissen, das zur wichtigen Ressource wurde. Diese Formen der Globalität sind keineswegs frei von Ungleichheiten, Grenzen und Hierarchien; China, die USA und Europa sind die wichtigsten Orte, an denen die Forschung Wissen über den Virus generiert. In der politischen Debatte um die Impfstoffentwicklung gibt es immer wieder Versuche, nationale Interessen zu priorisieren. Zugleich aber sind eine Reihe globaler Forschungskooperationen mit bemerkenswerter Geschwindigkeit entstanden und der Austausch von Wissen hat in seiner Schnelligkeit wie in seinem Umfang einen Charakter, der mit dem prä-digitalen Zeitalter nicht vergleichbar ist. Eine Geschichte der Globalisierung des Wissens ist als Forschungsfeld noch in den Anfängen. Wie verändert sie Handlungsspielräume der Politik? Erweitert oder verengt sie sie?
Die Globalisierung des Wissens und der Medienberichterstattung sind nicht ohne Einfluss auf die imagined communities geblieben, auf die Konturen der Gemeinschaft, als deren Teil sich Menschen wahrnehmen. Für Individuen haben sich diese Konturen zweifellos ganz unterschiedlich verändert, in unterschiedlichem Ausmaß, in unterschiedlicher räumlicher Art. Was sich schon in der Klimawandeldebatte andeutete, verstärkt sich jedoch: Die globale Gemeinschaft wird fassbarer. Ende März gingen fast in der ganzen Welt Kinder nicht in die Schule – eine Gleichzeitigkeit, die nicht vorschnell als vergemeinschaftende Erfahrung einzustufen ist, aber dennoch die Weltgemeinschaft als ganze sichtbar werden lässt. Inwieweit eine globale Gemeinschaft in der Öffentlichkeit an Präsenz gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Politik ab. Starke internationale Organisationen können den Blickwechsel verstärken: Der Appel der UNO zu einem globalen Frieden war ein Schritt in diese Richtung.
Handlungsspielräume
In der politischen Antwort auf das Virus dominierten jedoch zunächst ganz die Nationalstaaten, und das Spektrum ihrer Reaktionen war bemerkenswert breit. So überwogen in den ersten Wochen nationale Spezifika und Gegensätze zwischen rigiden lockdowns und Strategien des Aussitzens innerhalb geschlossener Staatsgrenzen. Das verweist auf Dreierlei: Erstens darauf, dass der Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Anderen, zwischen dem ‚Wir‘ und dem ‚Sie‘ immer noch primär national konnotiert ist. Transnationale Solidarität ist immer noch in weitaus höherem Maße begründungsbedürftig als national gedachte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, 9. April 2020; Quelle: general-anzeiger-bonn.de
Jenseits der Emotion aber sind zweitens auch Strukturen und Institutionen Grundlage dafür, auf welchen Ebenen gehandelt wird. Die Krise gilt als ‚Stunde der Exekutive‘, und diese ist auf nationaler Ebene immer noch am effektivsten organisiert. Die Versuche europäischer Koordination und die dann durchaus umfassenden Bestrebungen, europäische Solidarität mithilfe eines Wiederaufbaufonds zu organisieren, kamen vergleichsweise spät – eine Konsequenz vor allem der längeren Reaktionszeit, die internationale Kooperation mit sich bringt. Das sollte nicht als unausweichlich gelten, sondern als klare Aufgabe für die Zukunft verstanden werden: Je besser institutionelle und rechtliche Grundlagen für internationale Kooperationen sind, desto wahrscheinlicher ist die Möglichkeit einer schnellen Reaktion etwa auf europäischer Ebene.
Drittens offenbart die Unterschiedlichkeit der Reaktionen die bedeutenden Handlungsspielräume der Politik auch im Zeitalter der globalen Herausforderungen – und ihre Konsequenzen. In der Corona-Krise erweisen sich individuelle Überlebenschancen ebenso wie individuelle ökonomische Folgen der Krise – die Gefahr der Arbeitslosigkeit etwa – als primär davon abhängig, in welchem Staat ein Individuum seinen Wohnsitz hat. Um Gründe für die national unterschiedlichen Reaktionen auf transnationale Herausforderungen herauszuarbeiten, bedarf es des historischen Vergleichs, dessen Potenzial in einer transnationalen Gegenwart nicht geringer wird. Es gehört vielmehr zu seinen Stärken, Ausmaß und Grenzen von Handlungsspielräumen in der Antwort auf transnationale Herausforderungen zu analysieren. So kann er eine Grundlage liefern, politisches Handeln kritisch zu beurteilen, es am Spektrum des Möglichen zu messen.
Komplexität aushalten
Abgelöst wurden die sehr unterschiedlichen politischen Strategien nach einigen Wochen von einem transnationalen Trend zu ähnlicheren Maßnahmen. Dieser zweite Trend verweist auf die Bedeutung des Selbstvergleichens in der globalisierten Wissensgesellschaft. Die nationalen Maßnahmen waren von intensiver gegenseitiger Beobachtung nicht nur der Nachbargesellschaften begleitet. Die Praxis des Vergleichens begleitet Nationalstaaten seit ihrer Gründung; die Intensität des Selbstvergleichens und die Verfügbarkeit des Wissens aber verändern sich in der digitalisierten Gegenwart. Beide Prozesse bergen die Chance für Lerneffekte, lassen aber auch die Neigung zu heroisierender Selbststilisierung durch Abgrenzung vom Anderen scharf hervortreten. Auch das unterstreicht, dass die Politik in der globalisierten Welt nicht an Handlungsspielräumen verliert, sondern eine Wahl der Orientierungspunkte hat – und damit letztlich an Entscheidungsmöglichkeiten gewinnt. Das mag sie unübersichtlich und komplex erscheinen lassen. Diese Komplexität zu verstehen, ihre Bedingungen und damit auch ihre Chancen zu begreifen, legt eine Grundlage dafür, sie in der Gegenwart auszuhalten – und die Politik dafür in die Verantwortung zu nehmen, wie sie ihre Handlungsspielräume nutzt.